Zionismus reden
Uri Avnery, 28.Juli 2012
„ER
REDET Zionismus“ war während meiner Jugendzeit üblicherweise ein
sehr abfälliger Kommentar. Es bedeutete, dass ein älterer Funktionär
gekommen war, um mit einer langweiligen Rede, die weithin aus leeren
Phrasen bestand, unsere Zeit zu verschwenden.
Das war vor der Gründung des Staates Israel. Seit
damals ist der Terminus in den Status einer Staatsideologie, wenn
nicht gar zur Staatsreligion erhoben worden. Alles, was der Staat
macht, wird durch die Verwendung dieses Wortes gerechtfertigt.
Einige würden sagen, dass Zionismus das letzte Refugium eines
Schurken ist.
Als ich das erste Mal Prag besuchte – direkt nach dem
Fall des kommunistischen Regimes - wurde mir ein Hotel mit
unglaublichem Luxus gezeigt: Kronleuchter aus Frankreich, Marmor aus
Italien, Teppiche aus Persien und anderes mehr. Ich habe so etwas
noch nie vorher gesehen. Mir wurde gesagt, dass das Hotel für die
kommunistische Elite reserviert worden war.
Damals und dort verstand ich das Wesen einer
Staatsideologie. Kommunistische Regime wurden von Idealisten
gegründet, die von humanistischen Werden durchdrungen waren. Sie
endeten als Mafiastaaten, in denen eine korrupte Clique von Zynikern
die Ideologie zur Rechtfertigung für Privilege, Unterdrückung und
Ausbeutung missbrauchten.
Ich liebe keine Staatsideologien. Staaten sollten
keine Ideologien pflegen.
DIE EINZIGEN, die eine offizielle Bestätigung haben,
dass sie psychisch gesund sind, sind jene Leute, die aus einer
psychiatrischen Klinik entlassen worden sind. Auf ähnliche Weise
könnte ich die einzige Person in Israel sein, die eine offizielle
Bestätigung hat, ich sei kein Anti-Zionist.
Folgendermaßen hat es sich zugetragen: als meine
Freunde und ich 1975 den „Israelischen Rat für
israelisch-palästinensischen Frieden“ gründeten, nannte uns ein
Sprachrohr des rechten Flügels „Anti-Zionisten“. Ich hab mich nicht
darum gekümmert, aber meine Mitgründer bestanden darauf, sie wegen
Verleumdung zu verklagen.
Da ich ein paar Jahre vorher ein Buch mit dem Titel
„Israel ohne Zionisten“ veröffentlicht hatte, wurde ich von den
Angeklagten zu ihrem Star-Zeugen ernannt. Sie nahmen mich im
Zeugenstand stundenlang in die Zange, was ich denn mit diesem Titel
meine. Am Ende sagte mir die Richterin, ich solle meine Haltung
gegenüber dem Zionismus in einfachen Worten definieren. Ganz spontan
prägte ich einen neuen Terminus: „Post-Zionismus“.
Seit damals ist dieser Terminus als Synonym für
Anti-Zionismus „enteignet“ worden.
Doch ich benütze ihn buchstäblich. Wie ich der
Richterin erklärte, sei meine Stellung die, dass der Zionismus eine
historische Bewegung mit ruhmreichen Leistungen war, aber auch mit
dunkleren Seiten. Man kann ihn bewundern oder verdammen, aber so
oder so, hat der Zionismus sein logisches Ende mit der Schaffung
des Staates Israel erreicht. Zionismus war das Gerüst, das den Bau
des Staates möglich machte, aber wenn das Haus fertig gebaut ist,
wird das Gerüst ein Hindernis und muss abgebaut werden.
So entschied die Richterin, dass ich kein
Anti-Zionist bin. Sie ordnete an, dass die Ankläger uns hohe
Entschädigungen zu zahlen hatten, die uns halfen, unsere Aktivitäten
zu finanzieren.
Ich halte noch immer an dieser Definition fest.
WENN HEUTZUTAGE der Terminus „Zionismus“ in Israel
Anwendung findet, kann er viele verschiedene Dinge bedeuten.
Für gewöhnliche jüdische Israelis bedeutet er nicht
mehr als israelischer Patriotismus, verbunden mit dem Dogma, dass
Israel ein „jüdischer Staat“ oder ein „Staat für das jüdische Volk“
sei. Diese Definitionen allein erlauben viele verschiedene
Interpretationen. Für den legendären „Mann (oder die Frau) auf der
Straße“ bedeutet es, dass die Juden in aller Welt ein „Volk“ seien
und dass Israel diesem Volk „gehöre“, obgleich Juden kein Recht in
Israel haben, es sei denn, sie kommen hierher und erhalten die
Staatsbürgerschaft.
Von diesem Punkt aus gehen die Definitionen in viele
verschiedene Richtungen.
Zu Beginn war die dominante zionistische Farbe rot (
oder mindestens rosa). Der zionistische Traum war verbunden mit
Sozialismus (nicht unbedingt die marxistische Art), eine Bewegung,
die eine vorstaatliche jüdische Gesellschaft in Palästina aufbaute,
den allmächtigen Gewerkschaftsbund , den Kibbutz und vieles mehr.
Für die religiösen Zionisten ( anders als die
anti-zionistischen Orthodoxen) war der Zionismus Vorläufer des
Messias, der sicherlich kommen wird, wenn nur alle von uns den
Schabbat halten. Religiöse Zionisten wollen, dass Israel ein Staat
wird, der von der Halacha regiert wird, so wie Islamisten wollen,
dass ihre Staaten von der Sharia regiert werden.
Zionisten vom rechten Flügel wollen, dass der
Zionismus einen jüdischen Staat im ganzen historischen Palästina
meint, der nach ihrer Redensweise „das ganze Erez Israel“ genannt
wird und so wenig wie möglich nicht-jüdische Bewohner hat. Dies kann
leicht mit religiösen, ja, mit messianischen Visionen verbunden
werden. GOTT WILL ES, so wie ER persönlich es ihnen gesagt hat.
Theodor Herzl, der Gründer, wollte einen liberalen,
säkularen Staat. Martin Buber, der herausragende Humanist, war ein
engagierter Zionist. Auch Albert Einstein. Vladimir Jabotinsky, das
Idol der rechten Zionisten, glaubte an eine Mischung von extremem
Nationalismus, Liberalismus, Kapitalismus und Humanismus. Rabbi Meir
Kahane, ein absoluter Faschist, war ein Zionist. So natürlich auch
die Siedler.
Fanatische Anti-Zionisten in aller Welt,
einschließlich den jüdischen, würden den Zionismus als einen
Monolith sehen, um ihn leichter zu hassen. Um der Liebe willen tun
dies auch Liebhaber von Zion, von denen die meisten von ihnen nicht
davon träumen, hierher zu kommen und hier zu leben.
Alles zusammen ein ziemlich bizarres Bild.
HEUTE IST der Zionismus in den Händen der extremen
Rechten, einer Mischung von Nationalisten, religiösen Fanatikern und
den Siedlern, unterstützt von sehr reichen Juden innerhalb und
außerhalb Israels.
Sie beherrschen die Nachrichten, direkt (ihnen
gehören die TV-Netzwerke und die Zeitungen) und metaphorisch. Jeden
Tag enthalten die Nachrichten viele Themen, die den „Zionismus“
betreffen.
Um des Zionismus’ willen werden Beduinen innerhalb
des eigentlichen Israels zwangsweise aus großen Teilen Landes, den
sie Jahrhunderte lang bewohnten, vertrieben. Um des Zionismus’
willen erhält ein Siedlerkolleg tief in den besetzten Gebieten (
durch den Militärgouverneur !) den Status einer „Universität“, und
geben damit den Organisatoren eines internationalen, akademischen
Boykotts gegen Israel neuen Schwung. Hunderte neuer Gebäude werden
in den Siedlungen auf privatem palästinensischen Land im Namen des
Zionismus’ gebaut. In Ramallah, der Hauptstadt der palästinensischen
Behörde, jagen israelische Soldaten Afrikaner, die das Land illegal
betreten haben und keine israelische Einwanderungsgenehmigung haben.
In der Tat verwendet unser Innenminister, dessen einzige Passion
die Jagd auf afrikanische Jobsucher zu sein scheint, das Wort
Zionismus in fast jedem Satz.
Im Namen des Zionismus’ sendet unser fanatisch
rechter Bildungsminister alle israelischen Schulkinder auf
Indoktrinierungsausflüge zu den heiligen Stätten in die besetzten
Gebiete, um ihrem Bewusstsein von früh an einzuflößen, dass das Land
ihnen gehört. Um ihre zionistischen Überzeugungen zu stärken, werden
sie auch– wenn sie älter sind - nach Auschwitz geschickt.
Die Siedler behaupten – nicht ganz unberechtigt –
dass sie die einzigen wirklichen Zionisten sind, die rechtmäßigen
Erben von 130 Jahren zionistischer Siedlung und Ausdehnung. Dies
gibt ihnen das Recht für ihre Aktivitäten, riesige Summen aus der
Staatskasse zu erhalten, während neue Steuern selbst von den
Ärmsten der Armen in Israel erhoben werden, wie die um weitere ein
Prozent aufgestockte Mehrwertsteuer.
Die Jüdische Agentur, ein Ableger der Zionistischen
Weltorganisation, gibt fast all seine Ressourcen an die Siedlungen.
Es gibt in der Knesset keine Fraktion (außer den
Orthodoxen, den zwei kleinen arabischen und die vor allem arabisch
kommunistische Fraktion) die ihre totale Ergebenheit gegenüber dem
Zionismus nicht laut erklären. Tatsächlich behauptet die
zionistische Linke, wahrere Zionisten zu sein als die Rechte.
WOHIN FÜHRT dies alles? Ah, da liegt der Hase im
Pfeffer.
Die augenblicklich entschiedene zionistische Politik
des Staates Israel umfasst ein inhärentes Paradox, das zur
Selbstzerstörung führt.
Die Politik unserer Regierung gründet sich auf die
Erhaltung des Status quo: das ganze historische Erez
Israel/Palästina unter die israelische Herrschaft, die Westbank in
einem Status der Besatzung, seine palästinensischen Bewohner ohne
nationale oder zivile Rechte.
Falls zu einem gewissen Zeitpunkt in der Zukunft eine
rechte Regierung entscheidet, die Westbank und den Gazastreifen
„offiziell“ zu annektieren , wie Ost-Jerusalem und die syrischen
Golanhöhen schon vor langen annektiert, vom Rest der Welt aber nicht
anerkannt wurde, wird es kaum einen wirklichen Unterschied ausmachen
. Die meisten Palästinenser sind schon auf Enklaven begrenzt, die
denen der südafrikanischen Bantustans vergangener Tage ähneln.
In diesem Groß-Israel werden die Araber immer
weniger überzeugend eine Minderheit von mindestens 40% darstellen,
die rasch auf 50% und mehr anwächst und es immer schwieriger macht,
dies einen „jüdischen Staat“ zu nennen. Der „jüdische und
demokratische Staat“ wird eine Sache der Vergangenheit sein.
Natürlich würde praktisch keiner in Israel davon
träumen, den arabischen Bewohnern von Groß-Israel die
Staatsbürgerschaft und demokratischen Rechte zu gewähren. Falls
vielleicht durch göttliche Intervention dies passiert, würde es
nicht länger ein „jüdischer Staat“, Ees würde ein „arabisch
palästinensischer Staat“ sein.
Der einzige Ausweg würde eine ethnische Säuberung in
großem Ausmaß sein. Langsam geschieht das schon in Randgebieten.
Seit einiger Zeit versuchen die Besatzungsbehörden an den Rändern
der Westbank, am Rande der Wüste südlich von Hebron die ganze
arabische Bevölkerung zu entfernen. In dieser Woche hat der
Verteidigungsminister Ehud Barak das Gebiet zu einer Schuss- Zone
erklärt, die sofort evakuiert werden müsse. Diejenigen, die dort
bleiben, nehmen das Risiko auf sich, erschossen zu werden. Bauern
könnten auf ihr Land zurückkehren, um dort zu arbeiten, aber nur am
Schabbat und an jüdischen Feiertagen, wenn die Armee nicht dort ist.
Zionismus in Aktion.
Zur Zeit leben zwischen dem Mittelmeer und dem Jordan
fünf Millionen Palästinenser und sechs Millionen Juden. Die
ethnische Säuberung des Landes ist – gelinde gesagt - höchst
unwahrscheinlich. Viel wahrscheinlicher ist die Realität eines
Apartheidstaates, in dem Juden bald in der Minderheit sein werden.
Es ist nicht die Vision, die die zionistischen Gründungsväter
hatten.
Die einzige Alternative ist der Frieden – Israel und
Palästina Seite an Seite – aber das nennt man jetzt Post-Zionismus.
Gott bewahre!
Unsere Führer weichen dieser Realität durch einen
einfachen Kunstgriff aus: sie denken nicht darüber nach. Sie reden
nicht darüber. Sie reden lieber Zionismus – eine Reihe leerer
Phrasen.
Aber irgendwann in der Zukunft muss man sich den
Widersprüchen des Zionismus’ stellen.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs,
vom Verfasser autorisiert)