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In ihrem eigenen Saft schmoren
Uri Avnery, 24.Mai, 2014
NACH EINEM
Pressebericht hat sich Barack Obama entschieden, Benjamin Netanjahu
und Mahmoud Abbas „in ihrem eigenen Saft schmoren zu lassen.“
Das klingt fair.
Die Vereinigten
Staaten haben sehr mühsam versucht, zwischen Israel und Palästina
den Frieden herzustellen .Der arme John Kerry hat fast all seine
enormen Energien dem Ziel gewidmet, dass beide Seiten sich treffen,
miteinander reden und Kompromisse machen.
Nach neun Monaten
fand er heraus, dass dies eine falsche Schwangerschaft war. Kein
Baby, nicht einmal ein Fötus. Einfach nichts.
Darum fühlten sich
die amerikanischen Führer gerechtfertigt, ärgerlich zu sein.
Ärgerlich auf beide Seiten. Keiner von beiden hat irgendeine
Bereitschaft gezeigt, seine Interessen zu opfern, um Obama oder
Kerry einen Gefallen zu tun. Diese Undankbaren in Nahost!
Es scheint also, dass
die Reaktion gerechtfertigt ist. Ihr wollt nicht, dass unsere
Wünsche in Erfüllung gehen? Zur Hölle mit euch, und zwar alle beide!
DAS BEDEUTENDE WORT
in diesen Sätzen ist „beide“.
Doch „beide“ beruht
auf einer Lüge.
Wenn man sagt, dass
sich „beide“ nicht so verhalten, wie erwarte wurde, dass „beide“
nicht die „notwendigen schweren Entscheidungen treffen,“ dass
„beide“ in ihrem eigenen Saft schmoren sollen, vermutet man bewusst
oder unbewusst, dass sie gleich sind. Nichts ist weiter von der
Wahrheit entfernt.
Israel ist in jeder
materiellen Hinsicht unermesslich stärker als Palästina. Der eine
erinnert an einen gepflegten amerikanischen Wolkenkratzer, der
andere an eine schäbige Holzhütte.
Palästina ist unter
Besatzung die andere Hälfte der „beiden“. Die Palästinenser sind
ohne die elementaren menschlichen und zivilen Rechte. Das
durchschnittliche Einkommen in Israel ist 20 mal höher als in
Palästina. Nicht 20%, sondern atemberaubende 2000%. Militärisch ist
Israel eine Regionalmacht und in einigen Hinsichten sogar eine
Weltmacht.
In diesem
Zusammenhang von „beide“ zu sprechen ist bestenfalls ignorant,
schlimmstenfalls zynisch.
Die reine
Präsentation dieses Bildes von „beiden“ läuft darauf hinaus, das
israelische Narrativ anzunehmen.
WAS BEDEUTET es für
beide, im eigenen Saft zu schmoren?
Für Israel bedeutet
es, dass es weiter auf arabischem Land in der besetzten Westbank
neue Siedlungen bauen kann, ohne Einmischung von außen. Es kann das
Leben in der Westbank und im Gazastreifen noch unerträglicher
machen – in der Hoffnung, dass immer mehr Palästinenser es
vorziehen, wegzugehen. Willkürliche Tötungen von Zivilisten durch
Besatzungstruppen geschehen alle paar Tage.
Einigen von uns ist
klar, dass dieser Kurs in eine Katastrophe führt und zwar in Form
eines bi-nationalen Staates, in dem eine ständig wachsende
arabischen Mehrheit, der die bürgerlichen Rechte vorenthalten
werden, von einer jüdischen Minderheit regiert wird. Das wird
Apartheid genannt. Aber die meisten Israelis sehen dies nicht.
Die Israelis sind
glücklich und sind niemals glücklicher als in dieser Woche. Eine
moderne Wiederholung der biblischen David und Goliath-Geschichte:
das Tel-Aviver Makkabäer-Team schlug das außerordentliche Real
Madrider-Team für die europäische Meisterschaft. Nationaler Stolz
hat sich zu olympischen Höhen erhoben (in einer kindischen Wette
versuchten Präsident Peres und Ministerpräsident Netanjahu, einander
das Siegesteam auf seinem Weg zum allgemeinen Empfang auf dem
Rabinplatz abzufangen, um sich im gegenseitigen Ruhm zu sonnen.)
Israel kann also
glücklich schmoren, umso mehr, als die US uns weiter ihre
jährlichen drei Milliarden Dollar Tribut zahlen, uns mit Waffen
versorgen und ihr UN-Veto benützen, um uns vor internationaler
Zensur zu bewahren.
FÜR DIE
palästinensische Seite von „beiden“ bedeutet das „Im-eigenen-Saft-
schmoren“ etwas völlig anderes.
Der Versuch die
Fatah-Hamas-Versöhnung zu erreichen, macht sehr langsam Fortschritte
und kann jeden Moment wieder auseinanderbrechen. Es hängt davon ab,
ob es Abbas gelingt, eine Einheitsregierung zu schaffen, die aus
unparteiischen „Technokraten“ besteht und die Hamas bereit ist, im
Gazastreifen die alleinige Herrschaft aufzugeben.
Fast alle
Palästinenser wünschen Einheit, aber die ideologischen Unterschiede
sind groß (obgleich die Unterschiede in der Praxis jetzt viel
kleiner werden). Aber selbst, wenn eine Art Einheit erreicht wird
und von der internationalen Gemeinschaft gegen Israels Wunsch
anerkannt wird, was können die Palästinenser denn tatsächlich ohne
Gewalt tun?
Sie könnten mit
Saudi-Arabiens Hilfe und der Militärjunta in Ägypten einen direkten
Kontakt zwischen der Westbank und Gaza herstellen und so die
israelische Blockade des Gazastreifens brechen.
Sie können sich noch
zur Aufnahme bei einigen internationalen Agenturen bewerben und um
mehr positive Resolutionen der UN-Vollversammlung beantragen, wo das
US-Veto nichts ausrichtet, aber dessen Entscheidungen sehr kleine
konkrete Auswirkungen hat.
Sie können die
europäischen Länder ermutigen und die internationale BDS-Bewegung,
damit der Boykott der Siedlungen oder Israels selbst verstärkt wird.
Alles zusammen nicht
sehr viel. Die „Schmorperiode“ wird sogar das Ungleichgewicht der
Macht zwischen „beiden“ Parteien vergrößern.
Wenn das „Schmoren“
lang genug dauert, werden die „moderaten“ Führungen von Fatah und
Hamas hinweggefegt werden und die palästinensische Gewalt wird
wieder ihren Kopf heben.
Schlussfolgerung:
der Terminus „beide“, der so fair und unparteiisch aussieht, ist in
der Realität eine Politik, die 100%ig die israelische Rechte
unterstützt.
WIRD DIES das
anti-israelische Gefühl im Ausland stärken?
Vor zwei Wochen ließ
eine US-jüdische Organisation eine Bombe platzen: In jedem Land der
Welt gibt es Antisemiten: von 91% in der Westbank bis 2% in Laos
(Man fragt sich, wo Laoten Juden zum Hassen finden) Jede 5. Person
auf Erden hegt antisemitische Vorurteile. Mehr als eine Milliarde
Menschen.
Die Organisation, die
so viel Geld in eine weltweite Umfrage steckt, ist die (Anti-)
Diffamierungsliga). Ich setze anti in Klammen, weil ihr
eigentlicher Name Defamation League sein sollte. Es ist eine Art von
Gedanken-Polizei im Dienst des amerikanisch jüdischen
Establishments vom rechten Flügel.
(Vor vielen Jahren -
als ich ein Knesset-Mitglied war- wurde ich an 20 amerikanische
Universitäten der höchsten Qualität eingeladen, um Vorträge zu
halten. Die Gastgeber waren die jüdischen Campus-Rabbiner, die zum
Bnei Brit (Beit Hillel )-Orden gehören. Im letzten Augenblick wurden
19 Vorträge gestrichen. In einem geheimen Brief ließ sie die
Campus-Rabbiner wissen, dass „ das Knesset-Mitglied Uri Avnery zwar
kein Verräter genannt werden könne …“ etc.etc. Am Ende hielt ich
alle Vorträge unter der Schirmherrschaft christlicher
Campus-Geistlichen.)
Die Veröffentlichung
der verheerenden Ergebnisse der Volksbefragung fördert eine
seltsame Tatsache zutage: Nachrichten über die Zunahme des
Antisemitismus wird von vielen Juden mit so etwas Eigenartigem
wie Freude aufgenommen.
Ich habe mich oft
über dieses Phänomen gewundert. Für Zionisten ist die Antwort
einfach: die Termini Antisemitismus und Zionismus sind wie
siamesische Zwillinge zur selben Zeit geboren. Antisemitismus hat
Juden immer nach Israel getrieben und tut es noch (in letzter Zeit
aus Frankreich)
Für andere Juden ist
die Quelle der Freude weniger offensichtlich. Juden in Europa sind
seit langer Zeit von Antisemiten umgeben gewesen, so dass es
normal war, sie zu sehen. Sie immer wieder zu sehen, gibt den Juden
ein angenehmes Gefühl der Vertrautheit.
Und da sind
natürlich die unzähligen Angestellten der Liga und anderer
jüdischen Organisationen, deren Lebensunterhalt darin besteht,
Antisemiten zu entlarven.
Die Interpretation
der Volksbefragung selbst ist natürlich vollkommener Quatsch. Leute,
die Bedenken über Israels Politik äußerten, werden als Antisemiten
aufgelistet. Deshalb sind alle Bewohner der besetzten Gebiete, die
ihre Besatzer nicht lieben, Antisemiten. Muslime im Allgemeinen, die
Israel in negativem Licht sehen, sind natürlich Rassisten. Eine
ähnliche Volksbefragung über antirussischen Rassismus mag jetzt in
der Ukraine dasselbe Ergebnis haben.
EINE ÄHNLICHE
Initiative ist der Kongress der Internationalen Vereinigung der
jüdischen Juristen und Anwälte.
Jüdische Juristen
klingt fast wie Tautologie. Jede jüdische Mutter möchte sich gerne
mit „mein Sohn, der Doktor“ oder „Mein Sohn, der Anwalt“ rühmen. In
den US und vielen anderen Ländern scheinen jüdische Anwälte und
Richter in der Mehrheit zu sein.
Dieses Treffen hat
ein besonderes Ziel: Die UN zu überzeugen, die UNRWA, die
UN-Agentur, die sich um die palästinensischen Flüchtlingen kümmert,
abzuschaffen. Sie wurde nach dem 48er-Krieg geschaffen, während dem
etwa 750 000 Palästinenser flohen oder aus dem Gebiet vertrieben
wurden, das Israel wurde. Sie und ihre Nachkommen, die auch als
Flüchtlinge anerkannt sind, sind jetzt auf etwa 6-7 Millionen
angestiegen.
Die UNRWA ernährt
diese Flüchtlinge, schützt sie und hat Schulen für sie. Es stimmt,
dass es eine einzigartige Institution ist, die das schlechte
Gewissen der UN ausdrückt. Es scheint, dass Flüchtlinge von keinem
anderen Land solch eine spezifische Organisation haben, die für sie
sorgt.
Jetzt werden die
jüdischen Juristen einen Angriff vorbereiten, der direkt von Israel
geleitet wird, um diese Organisation im Ganzen abzuschaffen. Ich
vermute, das Ziel ist, die palästinensischen Flüchtlingslager
aufzulösen, die in verschiedenen Ländern rund um Israel bestehen –
Sabra und Shatila fallen mir gerade ein - und die Flüchtlinge über
den ganzen Planeten zu verteilen, wo sie weniger Schmerz auf dem
Nacken von Netanjahu verursachen
ALL DIES im Namen der
Fairness und Gleichheit. Israelis und Palästinenser können „beide“
in ihrem eigenen Saft schmoren – auch wenn es ein sehr
verschiedener Saft ist.
(Aus dem Englischen:
Ellen Rohlfs; vom Verfasser autorisiert)
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