Die Flucht nach vorne
Uri Avnery, 24.5.08
DIE DEUTSCHEN nennen es „die Flucht nach vorne“. Wenn die Situation
verzweifelt ist, greife an! Statt sich zurückzuziehen, geh vorwärts!
Diese Methode war 1948 erfolgreich. Ende Mai war die ägyptische
Armee auf dem Weg nach Tel Aviv. Wir waren eine sehr, sehr dünne
Abwehrlinie von Soldaten, das war alles, was ihnen im Weg stand.
Also griffen wir an. Immer und immer wieder. Wir hatten große
Verluste. Aber wir brachten den ägyptischen Vormarsch zum
Stillstand.
Nun wendet Ehud Olmert dieselbe Methode an. Seine Situation ist
verzweifelt. Kaum einer in Israel zweifelt daran, dass er eine
Menge Bestechungsgelder in mit Dollar gefüllten Umschlägen erhalten
hat. Vermutlich wird der Staatsanwalt ihn irgendwann anklagen, und
dies wird ihn zwingen, sein Amt niederzulegen.
Und siehe da – im kritischsten Augenblick, kurz bevor die
schlimmsten Details öffentlich wurden, wurde gleichzeitig in
Jerusalem, Damaskus und Ankara ein gemeinsames Statement
veröffentlicht, das den Start von Friedensverhandlungen zwischen
Israel und Syrien mit der Türkei als Vermittler verkündet. Die
Verhandlungsgespräche gründen sich auf die Prinzipien der
Madrid-Konferenz von 1991, d.h. die Rückgabe der ganzen Golanhöhen.
Wow!
AUCH DARIN ist Olmert der würdige Schüler seines Vorgängers und
Mentors, Ariel Sharon.
Sharon steckte bis zum Hals in Korruptionsaffären. In einer von
ihnen, der sog. „Griechische-Insel-Affäre“, zahlte der israelische
Millionär David Appel große Summen an Sharons Sohn, einen Anfänger,
für „Beratung“. Auch damals schien es, dass der Staatsanwalt nicht
umhin konnte, eine Anklage zu erheben.
Sharons Antwort war äußerst genial: die Trennung. Die Trennung vom
Gazastreifen und die Trennung vom Staatsanwalt.
Das war eine gigantische Operation. In einer genauestens mit
einander abgestimmten melodramatischen Aufführung wurden die Gush
Kativ-Siedlungen geräumt. Zusammen mit mehreren Divisionen der Armee
waren alle Polizeikräfte – dieselbe Polizei, die vermutlich Sharons
Familienaffären hätte untersuchen sollen – bei einer
atemberaubenden nationalen Aktion eingesetzt. Das Friedenslager
unterstützte natürlich die Evakuierung der Siedlungen. Die
Korruptionsaffären waren so gut wie vergessen.
Die Trennung, die ohne jeglichen Dialog mit den Palästinensern
durchgeführt wurde, machte den ganzen Gazastreifen zu einer
tickenden Bombe, und nun soll Ehud Olmert über eine Waffenpause
verhandeln. Für Sharon aber war das Ganze ein Erfolg. Wenn er
keinen Schlaganfall erlitten hätte, wäre er noch heute
Ministerpräsident.
Diese Lektion entging Olmert nicht.
ÄSTHETEN MÖGEN jetzt Pfui! ausrufen. Solch einen schmutzigen Trick
sollten wir nicht unterstützen. Wir können einem Frieden nicht
zustimmen, der in Sünde gezeugt wird!
Es
scheint, dass mein ästhetisches Gefühl abgestumpft ist. Weil ich
auch bereit wäre, von einem total korrupten Führer, ja, mit dem
Teufel selbst, einen Frieden anzunehmen. Wenn die Korruption eines
Politikers ihn veranlasst, etwas zu tun, das das Leben von Hunderten
und Tausenden von Menschen auf beiden Seiten rettet – dann ist das
für mich in Ordnung. Sprach der Philosoph Friedrich Hegel nicht von
der „List der Vernunft“ ?
Die Bibel berichtet von der Armee von Damaskus, wie sie Samaria
belagerte, die Hauptstadt des Königreichs Israel: Vier Aussätzige
brachten der Stadt die Nachricht, dass der Feind geflohen sei
(2.Kön.7). Die hebräische Dichterin Rachel schrieb – auf diese
Geschichte anspielend – dass sie nicht bereit sei, gute Nachrichten
von Aussätzigen zu empfangen. Nun, ich bin es doch.
Man war sich immer darin einig, um Frieden zu schließen, bedarf es
starker Führer. Nun scheint es so, als wäre das Gegenteil der Fall:
auch ein schwacher Führer, der fast in Problemen erstickt, dessen
Amtszeit jeden Augenblick zu einem plötzlichen Ende kommen könnte
und dessen Koalition auf wackligen Füßen steht, ein Führer, der
nichts mehr zu verlieren hat, der wird alles riskieren, um Frieden
zu schließen.
DIE GESCHICHTE kann in verschiedene Richtungen gehen.
Die erste Möglichkeit: es ist alles „spin“ (Propaganda) – ein
amerikanischer Ausdruck, der zu Olmerts Spitznamen wurde. Er wird
die Verhandlungen wie Kaugummi in die Länge ziehen, wie er es mit
den Palästinensern tut, und warten, bis der Sturm vorbei ist.
Es
wird für ihn schwierig sein, so zu handeln, weil die Türkei mit im
Spiel ist . Selbst Olmert versteht, dass es reine Dummheit wäre, die
Türken wütend zu machen, die ihr nationales Prestige hierbei
riskieren. Die Türkei ist ein sehr wichtiger Partner unseres
Sicherheitsestablishments.
Doch egal was daraus wird, Olmerts Einverständnis, Verhandlungen
durchzuführen, die sich auf die vollständige Rückgabe des Golan
gründen, ist ein bedeutender Schritt nach vorne. Zusätzlich zu
früheren Verpflichtungen von Yitzhak Rabin, Binyamin Nethanyahu und
Ehud Barak ist es ein Schritt, von dem es kein Zurück gibt.
Die zweite Möglichkeit: Olmert meint es wirklich ernst. Aus
egoistischen Gründen will er Verhandlungen „in guter Absicht“
führen – wie er in dieser Woche versprach - und ein Abkommen
erreichen. Im Land erhebt sich eine wilde Hetzkampagne gegen ihn.
Die Knesset wird auseinanderfallen, neue Wahlen werden stattfinden
müssen, Olmert wieder an der Spitze der Kadimaliste stehen und als
Friedensstifter siegen.
Oder er wird die Wahlen verlieren. Er wird die politische Bühne
aber aus ehrenhaftem Anlass verlassen - nicht wegen seiner
Korruption, sondern als einer, der sich auf dem Altar des Friedens
geopfert hat.
Oder: der Staatsanwalt wird ihn trotz allem anklagen - er wird
zurücktreten und mit hoch erhobenem Kopf nach Hause gehen wie ein
Führer, der einen historischen Schritt unternommen hat. Der
Staatsanwalt wird dann wie ein Saboteur des Friedens angesehen, der
womöglich sogar noch einen Krieg verursacht hat.
EINE TREFFENDE Frage: Falls Olmert sich tatsächlich entschieden
hat, die „Flucht nach vorne“ anzutreten, warum flieht er in Richtung
Frieden und nicht in Richtung Krieg? Gewöhnlich geschieht das
Gegenteil: Nationale Führer, die auf der Schwelle zu einer
Katastrophe stehen, fangen lieber einen kleinen (oder manchmal
großen) Krieg an. Nichts zieht wie ein Krieg so sehr die
Aufmerksamkeit an, und einen Krieg zu führen, ist - wenigstens
anfangs - fast immer populärer, als Frieden zu machen.
Auch hier gibt es drei Möglichkeiten.
Die erste: Olmert hatte wie Paulus eine Offenbarung und ist
wirklich ein Mann des Friedens geworden. Der nationalistische
Demagoge ist vernünftig geworden und versteht jetzt, dass der
Frieden im nationalen Interesse ist. Ein Zyniker würde laut
auflachen. Aber es sind schon seltsamere Dinge auf dem Weg nach
Damaskus geschehen.
Die zweite: Olmert glaubt, dass die israelische Öffentlichkeit den
Frieden mit Syrien einem Krieg mit Syrien vorzieht, und hofft so,
mehr Popularität als Friedensstifter zu gewinnen.
(Ich glaube, so ist es).
Die dritte: Olmert weiß, dass alle Chefs des
Sicherheitsestablishments ( mit Ausnahme des Mossadchefs) aus
kalten strategischen Berechnungen den Frieden mit Syrien vorziehen.
In den Augen des Armeegeneralstabs stellt der Verlust der Golanhöhen
einen vernünftigen Preis dafür dar, dass Syrien sich vom Iran
lossagt und die Hisbollah und die Hamas weniger unterstützt,
besonders wenn internationale Truppen auf den Golanhöhen
stationiert werden, wenn sie wieder die „syrischen Höhen“ geworden
sind.
Syrien ist ein sunnitisches Land, auch wenn es von Mitgliedern
einer kleinen alawitischen Sekte regiert wird, die den Schiiten
näher steht. (Die Alawiten haben ihren Namen von Ali, dem
Schwiegersohn des Propheten, den die Schiiten als den rechtmäßigen
Erben des Propheten ansehen). Die Allianz zwischen dem säkularen
sunnitischen Syrien und dem orthodox-schiitischen Iran ist eine
Zweckheirat ohne eine ideologische Basis. Die Allianz mit der
schiitischen Hisbollah gründet sich auch auf gemeinsame Interessen:
Da Syrien nicht wagt, Israel anzugreifen, um den Golan
zurückzubekommen, unterstützt es die Hisbollah als Stellvertreter.
ALL DIES geschieht ohne die USA. Auch dies gab es schon einmal: die
Sadat-Initiative, die hinter dem Rücken der Amerikaner zustande kam
(wie mir der damalige amerikanische Botschafter in Kairo später
sagte). Auch die Oslo-Initiative entwickelte sich ohne die
Beteiligung der Amerikaner.
Bis vor kurzem waren die US gegen eine israelisch-syrische
Annäherung, und selbst jetzt sehen sie dies mit Ärger an. Nach dem
Weltbild des Cowboy George Bush gehört Syrien zur „Achse des Bösen“
und muss isoliert werden.
Darüber können die beiden amerikanischen Professoren, John
Mearsheimer und Stephen Walt. die Israel im nächsten Monat besuchen
werden, nachdenken. In ihrem provokativen Buch behaupten sie, dass
die Israel-Lobby die US-Außenpolitik vollkommen beherrscht. Bei
dieser neuen Entwicklung scheint es tatsächlich so, als ob Jerusalem
Washington seinen Willen aufzwinge.
Während Bushs Besuchs in Jerusalem vor wenigen Tagen schimpfte
dieser gegen das „Reden mit Feinden“. Man verstand dies als eine
Zurechtweisung Barack Obamas, der seine Bereitschaft ankündigte, mit
den politisch Verantwortlichen des Iran sprechen zu wollen.
Vielleicht setzt Olmert schon auf Obamas Eintritt in das Weiße Haus.
Aber noch ist Bushs Amtszeit nicht zu Ende. Es sind noch acht
Monate. Und auch er könnte zu der Schlussfolgerung kommen, „die
Flucht nach vorne“ anzutreten. In diesem Fall, den Iran anzugreifen.
WIE WIRD sich dies alles auf die Mutter aller Probleme, den Kern des
israelisch-arabischen Konfliktes, auf die Palästinafrage auswirken?
Menachem Begin machte einen separaten Frieden mit Ägypten und hat
die ganze Sinai –Halbinsel abgegeben, um sich auf den Krieg mit den
Palästinensern zu konzentrieren. Zweifellos war Begin auch bereit,
dasselbe an der syrischen Front zu tun. Nach der Landkarte von
Vladimir (Zeev) Jabotinsky, mit der Olmert aufgewachsen ist, ist
der Golan genau wie der Sinai kein Teil von Erez Israel.
Ein separater Frieden bedeutet für die Palästinenser eine große
Gefahr. Wenn die israelische Regierung ein Friedensabkommen mit
Syrien erreicht (und dann mit dem Libanon), wird es Frieden mit
allen benachbarten Staaten haben. Die Palästinenser werden isoliert
werden, und die israelische Regierung wird in der Lage sein, sie je
nach Wunsch zu behandeln.
Dagegen gibt es einen positiven Aspekt: dass nach der Evakuierung
des Golan es verstärkten Druck geben wird, von innen wie von außen ,
um endlich auch mit den Palästinensern Frieden zu schließen.
Die Golansiedler sind in Israel beliebter als ihre Kollegen auf der
Westbank. Während die Ofra- und Hebronsiedler als religiöse
Fanatiker angesehen werden, deren wahnsinniges Benehmen dem
israelischen Charakter völlig fremd ist, werden die Siedler des
Golan als „Leute wie wir“ angesehen, besonders weil sie von der
Laborpartei dorthin geschickt wurden. Wenn die Golansiedler
evakuiert worden sind, wird es viel leichter sein, sich mit der „Judaä-
und Samaria“- Gesellschaft zu befassen.
Wenn Frieden mit allen arabischen Staaten hergestellt ist, wird sich
auch die israelische Öffentlichkeit sicherer fühlen, und deshalb
wird sie auch bereiter sein, Risiken auf sich zu nehmen, um mit dem
palästinensischen Volk Frieden zu schließen.
Die internationale Atmosphäre wird sich ebenfalls ändern. Wenn die
Wahnvorstellung „Achse des Bösen“ zusammen mit George Bush
verschwindet und eine neue amerikanische Führung sich ernsthaft um
Frieden bemüht, wird der Optimismus wieder wagen, sein Haupt zu
heben. Einige Leute träumen von einer Partnerschaft von Barack Obama
mit Zipi Livni.
All das ist Zukunftsmusik. Vorläufig haben wir einen schwachen
Olmert, der eine kraftvolle Initiative benötigt. Nach einer
biblischen Legende tötet der Held Simson einen jungen Löwen, und als
er zurückkommt, siehe da, da war im Tierkadaver ein Bienenschwarm
und Honig. Simson gab den Philistern ein Rätsel auf: „Süßigkeit
ging aus vom Starken“. Und keiner konnte das Rätsel lösen (Richter
14, 14).
Nun können wir fragen: „Wird Süßigkeit vom Schwachen ausgehen?“
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert) |