Glück
eines Spielers
Uri Avnery
26. Mai 2018
WIR ALLE kennen das Bild aus Büchern und
Filmen: Ein Spieler sitzt im Spielkasino am Roulettetisch. Er hat
Glück. Viel Glück.
Der Chip-Haufen vor dem Spieler wächst.
Er wird immer größer. Nach jeder Drehung des Rades wird er größer.
Wenn der Haufen Augenhöhe erreicht,
könnte er aufstehen, die Chips in Geld einwechseln und nach Hause
gehen. Sein Gewinn würde bis an sein Lebensende für ein Leben in
Luxus ausreichen.
Aber der Mann steht nicht auf. Er kann
einfach nicht. Er ist auf seinem Stuhl am Roulettetisch festgeklebt.
Und dann verlässt ihn sein Glück. Der Chip-Haufen beginnt zu
schrumpfen.
Er könnte immer noch aufstehen und einen
Teil seines Gewinnes retten. Aber er kann nicht. Er klebt am Stuhl
fest. Bis er auch den letzten Chip verspielt hat.
Im Film steht der Mann dann auf, verlässt
das Kasino und hält sich im Park eine Pistole an die Schläfe.
BENJAMIN NETANJAHU ähnelt einem solchen
Mann. Er hat Glück. Viel Glück. Es ist schon unheimlich.
Das ganze Land sieht das Glück. Seine
Beliebtheit steigt bis in die Wolken.
Die Wirtschaft blüht. Es gibt so gut wie
keine Arbeitslosigkeit. Immer mehr israelische Firmengründungen
werden zu astronomischen Summen ins Ausland verkauft.
Im internationalen Bereich marschiert
Israel von einem Sieg zum nächsten. Der Präsident des wichtigsten
Landes der Welt beträgt sich so unterwürfig, als wäre er Bibis
Sklave. Die USA erkennen das ungeteilte Jerusalem als Hauptstadt
Großisraels an. Der Umzug der amerikanischen Botschaft dorthin wurde
am selben Tag zu einem nationalen Fest, als in Tel Aviv ein weiteres
Fest stattfand: Allgemeiner Jubel über Israels Triumph im Eurovision
Song Contest brach aus. Die Massen sind davon so überwältigt, als
wäre es ein Sieg in einem Krieg.
Die Weltpresse nennt Trump, Putin und
Netanjahu in einem Atemzug. Drei Riesen.
INNERHALB ISRAELS hat Netanjahu
unbegrenzte Macht. Kaiser Bibi und seine Frau wirken wie ein
Königspaar.
Er hat keine Konkurrenten. Jeder mögliche
Konkurrent wurde schon vor langer Zeit aus der Regierungspartei
ausgemerzt. Die übriggebliebenen Likud-Funktionäre wirken im
Vergleich mit dem Riesen Bibi wie Zwerge. Die Koalitionspartner sind
ein elendes Häuflein kleiner Parteien, deren Führer wissen, dass sie
gegen Bibi keine Chance haben. Die „Opposition“ erregt bestenfalls
Mitleid.
Die Institutionen der Demokratie, deren
Aufgabe es ist, das demokratische System davor zu schützen, dass es
zu einer Diktatur verkommt, werden eine nach der anderen zerstört
und die Massen feuern zu diesem Vorgehen an. Der Oberste
Gerichtshof, der Generalstaatsanwalt, der Leiter des Rechnungshofes,
der Polizeichef – alle, die sich nicht unterwerfen, werden
vernichtet.
Die Anklage wegen Korruption von sowohl
Benjamin als auch Sarah Netanjahu, die innerhalb eines Monats
abgewickelt werden könnte, zieht sich über Jahre hin, ohne dass ein
Ende in Sicht wäre.
AN DER wichtigsten Front – der arabischen
– hat Netanjahus Glück unglaubliche Höhen erreicht.
Die arabische Welt war immer uneinig.
Aber in der Vergangenheit war die Uneinigkeit verdeckt. Der Mangel
an Koordination von Ägypten, Jordanien und Syrien ermöglichte
unseren Sieg im Krieg von 1948.
Jetzt liegt die Uneinigkeit offen und
extrem deutlich zutage. Etwas ereignet sich jetzt, von dem Israel in
der Vergangenheit nur träumen konnte: Saudi-Arabien arbeitet fast
offen mit Netanjahu zusammen und bekämpft, ebenso wie Ägypten, den
Iran.
Vor zwei Wochen, am Schwarzen Montag,
wurden unbewaffnete Palästinenser in Gaza massenweise
abgeschlachtet. Aber in keinem einzigen arabischen Land brach
deswegen eine stürmische Demonstration aus. Nicht einmal im
Westjordanland. Und auch nicht in Jerusalem. Nur in Haifa fand eine
kleine arabische Demonstration statt, in der ein Polizist einem
bereits verhafteten gefesselten Demonstranten ein Bein brach.
Die ganze Welt sah der abscheulichen
Verknüpfung zu: der Siegesfeier Netanjahus in der neuen US-Botschaft
in Jerusalem, während Tausende an der Grenze zu Gaza verwundet oder
getötet wurden. Und nur ein paar Stunden danach geschah der
Freudenausbruch der Massen auf dem Platz im Zentrum Tel Avivs über
den Sieg einer israelischen Sängerin im Eurovision Song Contest.
Die Welt sah zu und schwieg. Die
internationale Reaktion auf das Massaker in Gaza blieb noch hinter
dem üblicherweise heuchlerischen Minimum, das für derartige Anlässe
vorgeschrieben ist, zurück. Die einzige ernste Reaktion kam vom
türkischen Herrscher und wurde in Israel unter einem Haufen Hohn und
Spott begraben.
In den 70 Jahren des Bestehens Israels
haben seine Regierungen vorgegeben, sich nach Frieden mit der
arabischen Welt zu sehnen, und davor hatte die zionistische Führung
dasselbe getan. Seit der Oslo-Vereinbarung gibt die Regierung vor,
auch Frieden mit dem palästinensischen Volk zu suchen, dessen bloße
Existenz sie bis dahin geleugnet hatte.
Während Netanjahus Regierungszeit ist
selbst diese Vortäuschung verschwunden. Anfänglich äußerte Bibi
einige Worte, die als Befürwortung der Zweistaatenlösung aufgefasst
wurden. Sie sind schon seit Langem vergessen. Jetzt ist sogar die
Heuchelei verschwunden. Keine Friedensangebote, keine „schmerzhaften
Zugeständnisse“, nichts mehr. Vollkommenes Ignorieren des (seit
Langem vergessenen) saudi-arabischen Friedensplans.
Warum? Ganz einfach: Ohne Schaffung eines
palästinensischen Staates gibt es keine Möglichkeit für Frieden. Ein
solcher Frieden würde das Aufgeben von Teilen des „Landes Israel“
notwendig machen. Netanjahu weiß das nur allzu gut. Er denkt nicht
im Traum daran, irgendetwas aufzugeben.
Schadet ihm das auf der nationalen Bühne?
Im Gegenteil. Schadet ihm das auf der internationalen Bühne?
Durchaus nicht. Vielleicht ist sogar auch hier das Gegenteil der
Fall. Je weiter die Chancen auf Frieden in die Ferne rücken, umso
größer wird Netanjahus Beliebtheit.
Ein Führer mit so viel Glück, wer wäre
ihm schon gewachsen? Welcher Politiker, welcher Journalist, welcher
Milliardär? Alle schmeicheln ihm. Alle wollen ihm dienen. Alle außer
ein paar Idealisten und anderen Idioten.
WAS WIRD geschehen, wenn der unglaublich
glückliche Spieler schließlich doch zu verlieren beginnt?
Die Geschichte ist voller Helden, die
märchenhaftes Glück hatten. Die Länder und Kontinente eroberten, bis
ihr Schicksalstag kam. Napoleon zum Beispiel. Oder sein deutscher
Nachfolger, dessen Name in diesem Zusammenhang besser nicht erwähnt
wird.
Jemand, der allzu erfolgreich ist, wird
unvermeidlich größenwahnsinnig. Er verliert sein seelisches
Gleichgewicht.
Er geht einen Schritt zu weit und stürzt
in den Abgrund.
Und wenn er stürzt, nimmt er das ganze
Land mit.
Vielleicht wird Netanjahus Glück noch
eine Weile andauern. Vielleicht wird er immer noch weitere Erfolge
haben. Bis das alles zu Ende ist.
Wohin wird sich Netanjahu von der
schwindelerregenden Höhe seines Erfolges aus wenden?
Die Weisheit würde sagen, er sollte jetzt
die gewonnenen Chips einlösen, die vor ihm auf dem Tisch liegen, dem
Tisch, der das Land ist, und er sollte den Palästinensern und der
gesamten arabischen Welt ein großzügiges Friedensangebot machen, das
Israel für die nächsten Generationen den Frieden sichern würde. Es
ist immer klug, wenn ein Land Frieden schließt, solange es auf dem
Höhepunkt seiner Kraft ist.
Aber Netanjahu ist nicht so klug, dass er
das täte. Er wird auf seinem einmal eingeschlagenen Weg bleiben.
Vielleicht wird er sich so weit
zurückhalten, dass er uns nicht in einen Krieg mit dem Iran führt –
einen Krieg, den beide Seiten verlieren würden. Es würde ein
zerstörerischer, ein katastrophaler Krieg werden. Vielleicht ist
Bibi so klug, nicht in diese Falle zu tappen. Es sei denn die
strafrechtlichen Ermittlungen führten zu nahe an einen Prozess heran
und seine persönliche Zukunft würde gefährdet. Krieg ist immer die
letzte Rettung nationalistischer Machthaber.
Selbst wenn es keinen Krieg geben wird,
so führt Bibis Kurs doch in Richtung eines Apartheidsstaates. Es
gibt einfach keine andere Möglichkeit. Der „Jüdische Nationalstaat“
vom Mittelmeer bis zur Wüste mit arabischer, unaufhaltsam wachsender
Mehrheit, bis sich eines Tages das Kräfteverhältnis im Staat
umkehrt, die internationale Situation sich ändert und die
Willenskraft des „Herrenvolkes“ nachlässt.
Das ist in der Geschichte immer wieder
geschehen und es wird auch uns geschehen. Der jüdische Staat wird
sich in einen binationalen Staat mit einer immer kleiner werdenden
jüdischen Minderheit verwandeln, da Juden in einem solchen Land
nicht werden leben wollen.
Wann? In fünfzig Jahren? In hundert
Jahren? Am Ende des ruhmreichen zionistischen Kapitels werden sich
die Juden wieder in alle Welt zerstreuen.
ICH BIN nicht gerne ein Unheilsprophet.
Mir tut das Herz weh, wenn ich sehe, wie sich die Massen von
Netanjahus Charisma einfangen lassen und ihm in den Untergang
hinterherlaufen. Das erinnert mich an die bekannte Sage vom
Rattenfänger:
In Hameln gab es einmal eine Rattenplage.
Die Bürger riefen in ihrer Not einen bekannten Rattenfänger in die
Stadt und versprachen ihm einen reichlichen Lohn.
Der Rattenfänger nahm seine Flöte und
spielte darauf. Die Melodie war so süß, dass alle Ratten aus ihren
Löchern kamen und ihm hinterherherliefen. Der Rattenfänger führte
sie in den Fluss, wo sie alle ertranken.
Als die Bürger die Ratten los waren,
wollten sie ihm den versprochenen Lohn nicht zahlen.
Da nahm der Rattenfänger wieder seine
Flöte und spielte noch einmal darauf. Die Melodie war so süß, dass
alle Kinder der Stadt aus ihren Häusern kamen und ihm
hinterherliefen. Er führte sie in den Fluss, wo sie alle ertranken.*
Der Rattenfänger Bibi Netanjahu.
Angsteinflößend.
*In Deutschland ist die
Fassung der Brüder Grimm weiter verbreitet. Dort heißt es: „Der
ganze Schwarm folgte ihm nach, und er führte sie hinaus in einen
Berg, wo er mit ihnen verschwand. ...Der Berg bei Hameln, wo die
Kinder verschwanden, heißt der Poppenberg, wo links und rechts zwei
Steine in Kreuzform sind aufgerichtet worden. Einige sagen, die
Kinder wären in eine Höhle geführt worden und in Siebenbürgen wieder
herausgekommen.“ (http://literaturnetz.org/5504)
(Aus dem
Englischen von Ingrid von Heiseler)