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Hannibal
ad Portas
Uri Avnery, 13.9.2014
DER LETZTE Krieg ist
beendet worden, der nächste hat noch nicht angefangen, nützen wir
also die Zeit, um über andere Dinge zu sprechen.
Von Hannibal zum
Beispiel. Hannibal? Der Mann mit den Elefanten?
Ja , genau der.
HANNIBAL, DER
karthagensische Kommandeur, der als einer der militärischen Genies
aller Zeiten angesehen wird, war ein Held in meiner Jugend.
Damals brauchten wir
dringend Nationalhelden. Antisemiten in der ganzen westlichen Welt
behaupteten, die Juden seien von Natur aus Feiglinge und
Drückeberger, unfähig und unwillig wie Männer zu kämpfen. Sie
zählten ihren Profit, während andere für sie starben.
Als wir nach Helden
suchten, fanden wir Hannibal. Karthago wurde von Flüchtlingen aus
Tyros im Südlibanon gegründet, dessen Bewohner Kanaaniter waren und
die einen Dialekt sprachen, der dem Hebräischen sehr nahe ist. Der
Name Karthago kommt vom hebräischen Keret Hadasha (Neue Stadt) und
der Name Hani-Baal bedeutet Ba’al, der kanaanitische Gott hat ihn
gegeben – das ist mehr oder weniger derselbe Name wie Netanjahu –
Jahu, kurz für Jahwe . so wie auf Griechisch Theodor, der Vorname
von Herzl.
Wer könnte unserm
Herzen näher sein, als dieser große Kämpfer, der seine Armee mit
seinen Dutzenden Elefanten über die Alpen nach Norditalien führte,
der seine Befehle auf Hebräisch gab? Sogar die mächtigen Römer
wurden blass, als sie den Ruf hörten „Hannibal ad portas!“ (Hannibal
nahe den Stadttoren; oft wird dies falsch zitiert „ante portas“).
Einer der größten
zionistischen Dichter, Shaul Tschernichovsky, der Übersetzer von
Homers Odyssee, bestätigte unsere ethnische Nähe zu den Karthagern
und erzählte uns, sie wären die größte maritime Macht im
Mittelmeerraum noch vor den Griechen gewesen. Wir waren stolz auf
sie.
IN EINER seltsamen
Weise kam Hannibal im letzten Gaza-Krieg vor. Nicht, dass einer
unserer Kommandeure ein modernes Genie wäre. Weit entfernt davon.
Aber irgendetwas, das die „Hannibal-Prozedur“ genannt wurde, war
eines seiner schrecklichsten Phänomene.
Wer prägte den
Terminus? Irgendein Offizier, mit einer Neigung für alte Geschichte?
Oder nur ein gefühlloser Computer, derselbe, der diesen Krieg „
festen Felsen“ nannte – während ein menschlicher Roboter ihm den
englischen Namen „Protective Edge“ „Fels in der Brandung“ gab?
Auf dem Höhepunkt des
Kampfes in der Nähe der Stadt Rafah (Rafiah auf Hebräisch) an der
ägyptischen Grenze stieß ein Trupp israelischer Soldaten auf
Hamas-Soldaten und die meisten von ihnen wurden getötet. Ein
Israeli wurde von den Palästinensern in einen Tunnel gezogen. Der
erste Eindruck war, dass er lebend gefangen wurde, vielleicht
verletzt.
Die Prozedur
Hannibal ging in Aktion.
DIE PROZEDUR HANNIBAL
ist genau für solch eine Eventualität entworfen worden. Von all den
Alpträumen der israelischen Armee ist dieser einer der schlimmsten.
Hier ist eine
Erklärung nötig. Im Krieg kommen Soldaten in Gefangenschaft. Oft
kann dies nicht vermieden werden. In Kampf-Situationen, in denen
weiterer Widerstand sinnloser Selbstmord wäre, heben Soldaten ihre
Hände.
Im Mittelalter wurden
Gefangene oft für Lösegeld frei gegeben. Für Offiziere und
politische Führer war das eine willkommene Einkommensquelle, ein
guter Grund, um lebende und intakte Gefangene zu machen. In
moderneren Zeiten, nachdem die Kriegsgesetze in Kraft traten, werden
Gefangene nach dem Krieg ausgetauscht.
Während des 2.
Weltkrieges fielen viele jüdische Soldaten aus Palästina, die sich
freiwillig für die britische Armee gemeldet hatten, in deutsche
Gefangenschaft. Überraschenderweise wurden sie wie alle anderen
britischen Kriegsgefangenen behandelt, und als alles vorbei war,
sicher nach Hause entlassen.
Es gibt nichts
Unehrenhaftes, gefangen genommen zu werden. Es stimmt, dass Stalin
eine Menge von zurückkehrenden Sowjetsoldaten in Straflager nach
Sibirien steckte, aber nicht, weil sie unehrenhaft waren, sondern
weil er Angst hatte, sie seien von kapitalistischen Ideen
angesteckt worden.
WARUM ALSO sind wir
anders?
Das jüdische Ethos
ist ganz eindeutig in dieser Sache. Die „Erlösung Gefangener“ ist
ein Hauptgebot der jüdischen Religion.
An der Wurzel dieser
moralischen Order steht die alte Phrase „(die Leute von) Israel
sind füreinander verantwortlich.“ Jeder Jude ist für das Überleben
jedes anderen Juden verantwortlich.
Das musste
buchstäblich genommen werden. Wenn ein Jude aus Alexandria von
türkischen Piraten gefangen genommen wurde, dann waren jüdische
Kaufleute - sagen wir mal – aus Amsterdam - verpflichtet, das
Lösegeld zu zahlen, damit er entlassen werde. Dies ist tief im
jüdischen Bewusstsein verwurzelt, sogar im Israel unserer Zeit.
Während der Kriege
von 1948, 1956, 1967 und 1973, als die israelische Armee gegen
reguläre arabische Armeen kämpften, die von Europäern trainiert
waren, wurden auf beiden Seiten Gefangene gemacht, vernünftig und
gut behandelt und nach dem Krieg ausgetauscht. Aber als der
israelisch-palästinensische Konflikt „asymmetrisch“ wurde, wurden
die Dinge komplizierter. Auf der einen Seite eine reguläre Armee,
auf der andern Seite bewaffnete Militante (alias Freiheitskämpfer
bzw. Terroristen).
Israel hält eine
große Zahl palästinensischer Gefangener, einige verurteilt, andere
in „Administrativhaft“ (d.h. nur unter Verdacht). Ihre Zahl variiert
zwischen 5000 und 12 000. Einige sind politische Gefangene, einige
aktive Mitglieder kämpfender Organisationen („Terroristen“). Einige
haben „Blut an ihren Händen“, was bedeutet, dass sie entweder selbst
getötet haben oder den Tätern beim Verstecken geholfen oder sie mit
Geld oder Waffen versorgt haben.
Für viele
Palästinenser ist es eine heilige Pflicht, für sie die Entlassung zu
bekommen. Für viele Israelis ist dies ein Verbrechen. Das Ergebnis:
ständige Bemühungen der Palästinenser, einen lebenden Israeli zu
fangen, um sie für diese Gefangenen auszutauschen.
Der Tarif geht
ständig nach oben. Wenn Palästinenser ein Tausend ihrer Gefangenen
für einen Israeli zurück haben wollen, sind die Israelis wütend,
aber auch geschmeichelt. Viele glauben, dass dieser Tarif fair ist,
aber sie sind trotzdem wütend. 1985 wurden drei israelische
Soldaten von einer pro-syrisch-palästinensischen Organisation
festgehalten und gegen 1150 palästinensische Gefangene ausgetauscht.
Bei jedem solchen
Vorfall sind Israelis zerrissen zwischen der Verpflichtung, „die
Gefangenen zu „erlösen“, und der Entschlossenheit, „nicht mit
Terroristen“ zu verhandeln, und sich nicht erpressen zu lassen,
besonders was Gefangene „mit Blut an ihren Händen“ betrifft.
Die erste Wahl ist
immer, israelische Gefangene mit Gewalt zu befreien. Dies ist ein
sehr riskantes Unternehmen. Bei der folgenden Schießerei ist das
Leben des Gefangenen in Gefahr. Oft ist es unsicher, ob er vom
Fänger oder den Befreiern getötet wurde.
Die israelischen
Sportler, die 1973 während der Münchner Olympiade getötet wurden,
wurden wahrscheinlich von der untrainierten bayrischen Polizei
getötet. Die Autopsie-Ergebnisse sind noch immer geheim. Dasselbe
geschah einer israelischen Schulklasse in Ma’alot in Nordgaliläa,
die von einer palästinensischen Guerillagrupe gefangen genommen
wurde und bei einem Schusswechsel umkamen.
Bei der berühmten
Entebbe-Operation war Ministerpräsident Jitzhak Rabin für einen
Gefangenenaustausch, bis er von der Armee überzeugt wurde, die
Rettungsoperation habe eine sehr große Erfolgschance.
Das Dilemma erreichte
seinen Höhepunkt mit der Gil‘ad Shalit-Affäre. Der Soldat wurde von
Palästinensern gefangen genommen (gekidnapped in hebräischer
Umgangssprache), die aus einem Grenztunnel auftauchten. (Unsere
Armee zog aus dem Vorfall keine Schlüsse – bis zum letzten Krieg).
Shalit wurde fünf
Jahre in Gefangenschaft gehalten. Die Armee, die verzweifelte
Anstrengungen machte, sein Gefangenenversteck zu entdecken, kam zu
keinem Ergebnis, (glücklicherweise für Gilad, muss ich hinzufügen).
Von Woche zu Woche wuchs der öffentliche Druck für einen Austausch,
bis es politisch unerträglich wurde und Shalit gegen 2011
palästinensische Gefangene ausgetauscht wurde. Die Armee war wütend
und verhaftete bei der erstbesten Gelegenheit all jene wieder, die
entlassen worden waren.
Die letzte Runde von
Verhandlungen, von John Kerry geleitet, brach zusammen, weil
Netanjahu sich weigerte, die Palästinenser, die er vorher sich
verpflichtet hat, zu entlassen.
Irgendwo auf dem Weg
wurde die „Hannibal Prozedur“ eingerichtet.
DIESE ORDER gründet
sich auf der Überzeugung, dass Gefangenenaustausch - buchstäblich
- mit allen Mitteln verhindert werden muss.
In solchen Fällen
sind die ersten paar Minuten entscheidend. Deshalb legt „Hannibal“
die ganze Verantwortung auf den Kommandeur vor Ort, auch wenn er
nur ein Leutnant ist und keine Zeit hat, um nach Befehlen zu fragen.
Wenn Soldaten sehen,
wie einer ihrer Kameraden weggezogen wird, müssen sie schießen und
töten – selbst dann, wenn es fast sicher ist, dass ihr Kamerad auch
getroffen wird. Der Befehl sagt nicht klar: „ Besser ein toter
Soldat als ein gefangener Soldat“ – aber dies wird auf diese Weise
angedeutet und weithin so verstanden.
Falls die feindlichen
Kämpfer mit dem Gefangenen verschwinden, soll der ganze Stadtteil
flach gemacht werden, in der Hoffnung, dass diejenigen, die
gefangen nahmen, sich in einem der Gebäude versteckt halten.
Auf dem Höhepunkt des
Gazakrieges geschah genau dies. Eine israelische Mannschaft fiel in
einen Hinterhalt der Hamas. Alle Soldaten wurden getötet außer
einem, der wie gesehen wurde, in einen Tunnel gezogen wurde. Mit
der Annahme er wäre gefangen worden, wurde die Armee wild, riss
eine Menge Gebäude in Rafah ohne Warnung zu Boden und schoss auf
alles, was sich bewegte.
Am Ende war alles
umsonst. Die Armee entschied, dass der Soldat schon tot war, als
sein Körper gefangen genommen wurde. Jetzt verlangte man die
Rückgabe des Leichnams, um eine andere jüdische Pflicht zu
erfüllen: den jüdischen Toten in ein jüdisches Grab zu legen.
WÄHREND UND nach dem
Krieg hat dieser Vorfall zu einer wilden Debatte geführt. Warum – um
Himmels willen – soll ein Soldat nicht in Gefangenschaft geraten?
Ist ein lebendiger gefangener Soldat nicht besser als ein toter?
Wenn für seine Rückkehr eine Anzahl von palästinensischen Gefangenen
frei gelassen werden müssen? Na, und?
Dies ist eine ernste
moralische Debatte, die an die Wurzeln des israelischen Ethos
reicht.
David Ben Gurion
schrieb einmal: „Lasst jede hebräische Mutter wissen“, dass sie
ihren Sohn verantwortlichen Offizieren übergibt.
Dank Hannibal, mögen
jetzt einige hebräische Mütter ernste Zweifel haben.
Was Hannibal selbst
betrifft, frage ich mich, was er wohl darüber gedacht haben würde.
(Dt. Ellen Rohlfs,
vom Verfasser autorisiert)
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