„Ruhe erfüllte den Müden…“
Uri
Avnery, 11.4.09
DIE PESACH-Woche ist eine Zeit der Ausflüge. Nachrichtenprogramme im
Radio und Fernsehen beginnen mit Worten wie: „ Die Massen des
Hauses Israel verbrachten den Tag in den Nationalparks…“
Es
ist ein Fest für Heimatlieder. Im Fernsehen sieht man Gruppen
weißhaariger alter Leute, die umringt von ihren Kindern und
Enkelkindern wehmütig die Lieder ihrer Jugend singen, Worte, die
sie auswendig können.
„Ruhe kommt zu den Müden / Erholung zu den Werktätigen / eine
fahle Nacht breitet sich aus / über die Felder des Jesreel-Tales /
Unten Tau und oben der Mond / von Beth-Alpha bis Nahalal …“ Die
Camera richtet sich auf das faltige Gesicht einer Großmutter mit
feuchten Augen. Und man kann sie sich gut als das hübsche Mädchen
vorstellen, dass sie einst war. Es ist auch nicht schwer, sie in
einem Kibbuz im Jesreel-Tal zu sehen – mit kurzen Hosen und einem
langen Zopf, der auf ihrem Rücken schwingt, lächelnd über den
Tomatenbüschen im gemeinsam bewirtschafteten Gemüsegarten.
Nostalgie hat heute einen großen Tag.
ICH GEBE ZU, ich bin nicht frei von dieser Nostalgie. Irgendetwas
geschieht in mir, wenn ich diese Lieder höre, und ich sing sie
unwillkürlich mit.
Wie viele andere leide ich an ‚kognitiver Dissonanz’. Das Herz und
der Kopf sind nicht koordiniert. Sie operieren auf verschiedenen
Wellenlängen. Mit andern Worten: der Kopf weiß, das zionistische
Unternehmen hat dem Volk, das in diesem Land lebte, eine historische
Ungerechtigkeit zugefügt. Aber mein Herz erinnert sich an das, was
wir damals fühlten.
Im
Alter von zehn Jahren, ein paar Wochen nach der Flucht aus
Nazi-Deutschland und der Ankunft in diesem Land, schickten mich
meine Eltern nach Nahalal, dem ersten Moshav (Gemeinschaftsdorf).
Ich lebte mit einer Familie von ‚Bauern’ – man nannte sich noch
nicht ‚Landwirte“ – um mich zu akklimatisieren und um Hebräisch zu
lernen.
Wie sah Nahalal damals aus? 75 Familien lebten in kleinen weißen
Häusern, die genau in einem Kreis angelegt waren. Sie arbeiteten von
Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. Im Winter lag im Dorf eine dicke
Schicht von Schlamm, der an den Sohlen der Gummistiefel klebte und
schwer wie Blei war. Im Sommer stieg die Hitze auf
Körpertemperatur. Wir Kinder gingen mit den Erwachsenen arbeiten,
und zuweilen war es fast unerträglich.
Alle lebten in unbeschreiblicher Armut. Ein kleines Glas mit selbst
produziertem Wein am Freitagabend, an Shabbat, war die Höhe des
Luxus. Das Geld zählte man nach Piaster (Groschen). Als die Mutter
der Familie schließlich eine Singer-Nähmaschine bekam und für die
Familie Kleider nähen konnte, war dies Anlass genug, ein Fest zu
feiern.
Als der Dichter Nathan Alterman „Ruhe erfüllte den Müden“ schrieb,
war dies keine poetische Phrase. Er sprach über wirkliche Leute.
Diese Leute waren die Söhne und Töchter der gut bürgerlichen
Schicht von St. Petersburg und Kiew, verwöhnte Kinder von wohl
situierten Eltern, die hierher kamen, ‚um das Land aufzubauen’, die
sehenden Auges in ein Leben voll erbärmlicher Armut und mit
Schwerstarbeit gingen, eine neue Sprache lernten und ihre
Muttersprache für immer aufgaben. Während der ersten Jahre
arbeiteten sie hart, um den Sumpf auf ihren Ländereien trocken zu
legen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass einer von ihnen nach
der Tagesarbeit noch genügend Kraft hatte, Tolstoi oder Dostojewski
zu lesen.
Natürlich wussten sie, dass rund herum Araber lebten. Auf dem Weg
von Nahalal nach Haifa kamen sie an arabischen Dörfern vorbei. Sie
sahen die Fellachen auf den Feldern arbeiten. Aber das war eine
andere Welt. In jenem Jahr – 1934 – war es noch ruhig, die Ruhe vor
dem Sturm der 1936-‚Unruhen’. Sie hatten keinen Kontakt mit Arabern,
verstanden ihre Sprache nicht und hatten keine Vorstellung was in
ihren Köpfen vorging, wenn sie die Juden beim Bestellen ihrer
Felder sahen.
Was sie wussten, war, dass viele der Felder des Jesreel-Tales
Sümpfe waren, und dass sie diese mit gutem Geld den arabischen
Landbesitzern abgekauft hatten. Keiner dachte an die Bauern, die
auf und von diesem Land seit Generationen gelebt hatten und die nun
vertrieben worden waren, als die reichen abwesenden
Großgrundbesitzer es an den jüdischen Nationalfond verkauften.
NOSTALGIE ist eine menschliche Gefühlsregung. In jeder Generation
erinnern sich alte Leute an ihre Jugend und meistens erscheint sie
ihnen wie eine Zeit der Reinheit und des Glücklichseins.
Diese natürliche, persönliche Nostalgie ist in unserm Fall noch mit
einem anderen Gefühl verbunden, welches dafür verantwortlich ist,
dass die alten Liedern uns mit solcher Macht überfluten, mit der
Sehnsucht nach der Unschuld jener Tage, der Tugendhaftigkeit, dem
Glauben an die Rechtschaffenheit unserer Lebensweise, mit der
Sehnsucht nach der Zeit, als alles noch so einfach erschien.
Wir fühlten damals, dass wir an einem noch nie da gewesenen
heldenhaften Unternehmen beteiligt waren, in dem wir eine neue Welt,
eine neue Gesellschaft, einen neuen Menschen, eine neue Kultur, eine
neue Sprache schufen. Wir wussten, woher wir kamen – aus Europa, das
für Juden immer mehr zur Hölle wurde. Wir wussten, dass es unsere
Pflicht war, eine sichere Zuflucht für Millionen Juden zu bauen, die
in einer immer größer werdenden Gefahr lebten, (obwohl sich noch
keiner den Holocaust hat vorstellen können) und die nirgendwo
sonst hinfliehen konnten.
Es
gab einen Geist der Zusammengehörigkeit, des Idealismus. Die neuen
Lieder drückten es aus. Wir sangen sie alle in der Jugendbewegung,
bei Kibbuzabenden, während Ausflügen ins Land, selbst in den
verschiedenen Untergrundorganisationen und natürlich auch in der
Schule.
Als die ‚Unruhen’ im April 1936 begannen, sahen wir diese nicht als
‚arabischen Aufstand“ an. Wie das ‚Pogrom’ von 1921 und das
‚Massaker’ von 1929 sahen sie für uns eher nach einem britischen
Komplott aus, bei dem die ignoranten Araber gegen uns aufgestachelt
wurden, um weiter die britische Herrschaft über das Land aufrecht zu
erhalten. Die ‚aufgehetzten’ arabischen Massen griffen uns an, weil
sie nicht begriffen, wie wir für sie von Nutzen waren. Sie
begriffen nicht, dass wir dem Land Fortschritt, moderne
Landwirtschaft, Gesundheitsfürsorge, Sozialismus, und Solidarität
der Arbeiter brachten. Ihre Führer, die reichen ‚Effendis’ (türkisch
: Adlige), hetzten sie auf, weil sie fürchteten, dass sie von uns
lernen könnten, höhere Löhne zu verlangen. Und da waren natürlich
auch jene, die glaubten, dass die Araber um des Mordens willen
mordeten, dass Morden ihr Wesen sei und ein wesentlicher Teil ihrer
Religion.
Dies waren keine zynischen Ausreden. Der Zionismus war nicht
zynisch. Der ganze Yishuw ( die neue hebräische Gesellschaft)
glaubte an diese Doktrin. Im Rückblick kann man sagen: dieser Glaube
war nötig, um den idealistischen Geist aufrecht zu halten und
zugleich die andere Seite der Medaille zu ignorieren.
Vladimir Ze’ev Jabotinsky, der im Ausland lebte und nicht an den
Pionierleistungen des (sozialistischen) ‚arbeitenden Erez Israel’
teilnahm, sah die Dinge aus der Ferne und sah sie, wie sie waren:
schon in den 1920er Jahren stellte er fest, dass die
palästinensischen Araber sich so benehmen wie jedes andere Volk, das
Fremde mit der Absicht in ihr Land kommen sieht, ihre
Heimat zur eigenen zu machen. Nur wenige hörten damals auf ihn.
Auf der zionistischen Linken gab es immer einige Gruppen und
Individuen, die einen Kompromiss zwischen den Zionisten und dem
Volk des Landes zu finden versuchten, der die Zionisten nicht daran
hindern würde, im ganzen Land zu siedeln. Erst 1946 entstand die
erste Gruppe ( ich war eines der Gründungsmitglieder), die die
palästinensische – und die allgemeine arabische - Nationalbewegung
anerkannte und vorschlug, ein Bündnis mit ihr einzugehen.
1948 VERBANDEN sich die Lieder des Unabhängigkeitskrieges mit denen
der Pionierlieder. Auch was diese betrifft, leiden nicht wenige von
uns an kognitiver Dissonanz. Zum einen – was wir damals
fühlten. Zum anderen – die Wahrheit, wie wir sie heute kennen.
Für die Kämpfer – wie für den ganzen Yishuw – war es ganz einfach
ein existentieller Krieg. Der Slogan hieß:‚Es gibt keine
Alternative’, und wir waren alle völlig davon überzeugt. Wir
kämpften mit dem Rücken zur Wand. Das Leben unserer Familien hing an
einem Faden. Der Feind umgab uns von allen Seiten. Wir glaubten,
dass wir, die Wenigen, die sehr Wenigen, fast ohne Waffen einem
Meer der Araber gegenüberstanden. In der ersten Hälfte des Krieges
beherrschten die arabischen Kämpfer (für uns als ‚die Banden’
bekannt) die Landstraßen. Und in der zweiten Hälfte näherten sich
die arabischen Armeen den Zentren der hebräischen Bevölkerung,
schlossen das hebräische Jerusalem ein und kamen nahe an Tel Aviv.
Der Yishuw verlor 6000 junge Leute aus einer Bevölkerung von 635
000. Ganze Jahrgänge wurden dezimiert. Unzählige heroische Taten
wurden vollbracht.
Der Idealismus der Kämpfer fand seinen Ausdruck in Liedern. Die
meisten von ihnen sind erfüllt vom Glauben an den Sieg und
natürlich von der Überzeugung dass wir im Recht waren. Wir ließen
keine Araber hinter unseren Linien zurück und so ließen auch die
Araber keine Juden hinter ihren Linien zurück. Es sah unter diesen
Umständen wie eine einfache militärische Notwendigkeit aus. Die
Kämpfer dachten damals nicht an ‚ethnische Säuberung’ – ein
Terminus, der erst später erfunden wurde.
Wir wussten nichts über die wirklichen Kräfteverhältnisse zwischen
uns und der anderen Seite. Die Araber erschienen uns wie eine
riesige Macht. Wir wussten nicht, dass die Palästinenser unter
einander zerstritten und unfähig waren, sich zu einigen und eine
landesweite Verteidigungskraft zu schaffen und dass sie fast keine
modernen Waffen hatten. Später, als sich die arabischen Armeen dem
Kampf anschlossen, wussten wir auch nicht, dass sie unfähig waren,
zusammen zu arbeiten, dass es für sie wichtiger war, mit einander zu
konkurrieren, als uns zu besiegen.
Heute hat eine wachsende Anzahl von Israelis damit begonnen, die
volle Bedeutung der Nakba zu verstehen, die große Tragödie des
palästinensischen Volkes und all seiner Individuen, die ihr Heim und
den größten Teil ihrer Heimat verloren haben. Aber die Lieder
kommen und erinnern uns, was wir damals fühlten, als diese Dinge
geschahen. Ein Abgrund gähnt zwischen der emotionalen Realität jener
Tage und der historischen Wahrheit, wie wir sie heute kennen.
Einige sehen den ganzen Krieg von 1948 als eine Verschwörung der
zionistischen Führung, die von Anfang an, die Palästinenser aus
ihrem Land vertreiben wollte, um das Land in einen jüdischen Staat
zu verwandeln. Nach dieser Ansicht waren die Soldaten von 1948
Kriegsverbrecher, die eine bösartige Politik ausführten, so wie die
Pioniere der vorhergehenden Generation Landräuber, Vollstrecker der
ethnischen Säuberung durch Vertreibung und Enteignung waren.
Sie werden in dieser Ansicht von den Taten der heutigen Siedlern
bestärkt, die jetzt die Palästinenser aus den Resten des Landes
vertreiben wollen. Mit ihren Aktionen verunglimpfen sie die
Pionier-Vergangenheit. Religiöse Fanatiker und faschistische
Hooligans, die behaupten, die Erben der Pioniere zu sein, verwischen
die wirklichen Absichten jener Generation.
WIE KANN man den Widerspruch zwischen den Absichten und Emotionen
der Beteiligten und ihre großartige Leistung, einen neuen Staat
aufzubauen, einerseits und der dunklen Seite ihrer Aktionen und
deren Folgen andrerseits überwinden?
Wie kann man über die Hoffnungen und Träume unserer Jugend singen
und gleichzeitig die schreckliche Ungerechtigkeit von vielen
unserer Aktionen zugeben? Können wir mit ganzem Herzen die
Pionierlieder und die Kriegslieder von 1948 (von denen ich eines
schrieb und gar nicht stolz darüber bin) singen, ohne die
schreckliche Tragödie, die wir dem palästinensischen Volk
auferlegten, zu leugnen?
Barack Obama sprach in dieser Woche zum türkischen Volk, dass es
endlich mit den von ihren Vorfahren begangenen Massakern an den
Armeniern klar kommen müsse, während er gleichzeitig die Amerikaner
daran erinnerte, sie müssten sich mit dem Genozid an den
Ureinwohnern Nordamerikas und der Ausbeutung der schwarzen Sklaven
durch ihre Vorfahren auseinandersetzen.
Ich glaube, dass wir dies hinsichtlich der Katastrophe, die wir
gegenüber den Palästinensern verursachten, tun können. Ich bin
davon überzeugt, dass dies bedeutsam ist, ja sogar lebensnotwendig
für unsere eigene geistige nationale Gesundheit und auch ein
erster Schritt zu einer schlussendlichen Versöhnung. Wir müssen die
Konsequenzen unserer Taten eingestehen - und reparieren, was
repariert werden kann – ohne unsere Vergangenheit und die Lieder
zu verwerfen, die die Unschuld unserer Jugend ausdrücken.
Wir müssen mit diesem Widerspruch leben, weil er die Wahrheit
unseres Lebens ist.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs und Christoph Glanz, vom Verfasser
autorisiert)
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