Ein einseitiger Krieg
Uri Avnery, 8.7.06
DAS
WAR ES NUN! Morgen werden die WM zu Ende gehen. Wir
können den neuen Weltmeistern gratulieren und ihnen
Arrivederci oder Au revoir sagen – je nachdem.
Nun
kann die Öffentlichkeit sich wieder weniger wichtigen
Dingen zuwenden, wie dem täglichen Töten und Zerstören,
dem gefangenen Soldaten, dem Abschießen von
Qassam-Raketen und all dem, was mit unserer Invasion in
den Gazastreifen zu tun hat.
ALLEIN DIE Definition der Operation stellt ein Problem
dar.
Der
Chef von Israels südlichem Militärkommando General Yoav
Gallant, spricht von „Krieg“ – genau so die Medien. Doch
ist es das wirklich?
„Krieg“ ist eine bestimmte Situation, die vom
internationalen Recht reguliert wird. Er findet zwischen
Feinden statt, die gezwungen sind, einige Grundregeln zu
beachten.
Aber
die israelische Regierung erklärt, dass sie nicht einem
Feind gegenübersteht, der Rechte hat, sondern
„Terroristen“, „Kriminellen“ und „Banden“. Und die haben
natürlich keine Rechte.
In
einem Krieg gibt es „Kriegsgefangene“. Das trifft auch
auf Korporal Gilad Shalit zu, der bei einer
militärischen Aktion gefangen genommen wurde, aber auch
auf die palästinensischen Kämpfer, die von uns fest
gehalten werden. Aber unsere Regierung spricht von
Shalit als „gekidnappt“ und von den palästinensischen
Gefangenen als Verbrechern.
Es
scheint, das jüdische Gehirn erfinde neue Patente ( wie
ein bekanntes israelisches Lied einmal sagte). Nach der
„ unilateralen Trennung“ und dem „unilateralen Frieden“,
haben wir nun einen „unilateralen Krieg“. Ein Krieg, in
dem eine Seite – die stärkere – sich aller Rechte einer
kriegsführenden Macht erfreut, während die andere – die
schwächere – überhaupt keine Rechte hat.
EIN
KRIEG muss ein Ziel haben. Welches Ziel hat dieser
Krieg?
Wie
Bushs Invasion in den Irak, hat Ehud Olmerts Invasion
in den Gazastreifen ein Ziel, das sich von Tag zu Tag
ändert.
Sie
begann als Operation, um Korporal Shalit zu retten. Wie
aber soll man einen Soldaten befreien, der von einer
Untergrundorganisation gefangen genommen wurde und
dessen Aufenthaltsort unbekannt ist? Wie soll man
jemanden mit Gewalt befreien, ohne sein Leben zu
gefährden?
Die
Armee hat eine Lösung – dieselbe Lösung, die sie für
jedes andere Problem hat: die Anwendung von massiver
Gewalt. Wenn wir nur immer mehr erobern, pulverisieren,
töten und zerstören, dann wird der Zeitpunkt kommen, in
dem die palästinensische Gesellschaft nicht mehr in der
Lage sein wird, dem Leiden stand zu halten, und wird von
den Untergrundkämpfern die Freilassung des Gefangenen
verlangen. Und zwar bedingungslos.
Dies
könnte „Harris-Prinzip“ genannt werden. Im 2. Weltkrieg
versprach der britische Luftmarschall Arthur Harris
(„Bomber Harris“), die Deutschen auf die Knie zu
zwingen, indem er ihre Städte in Schutt und Asche
legte. Die Deutschen sprachen von „Terrorangriffen“.
Bei einem von ihnen wurde die Stadt Dresden, eine der
schönsten Städte Deutschlands, völlig zerstört. Bei der
riesigen Feuersbrunst verbrannten zwischen 35 000 und
100 000 Zivilisten zu Tode ( es war unmöglich, die vom
Feuersturm verbrannten Opfer zu zählen). Aber im
Gegensatz zu Harris’ Versprechen brach die deutsche
Moral nicht zusammen. Deutschland ergab sich erst, als
das letzte Haus von Infanteristen erobert worden war.
Die
palästinensische Bevölkerung wird auch nicht
zusammenbrechen, trotz der fürchterlichen Situation. Sie
verlangt einstimmig, dass die, die den Soldaten
gefangen genommen haben, ihn nicht frei lassen sollen,
wenn nicht palästinensische Kriegsgefangene frei kommen.
ANSTELLE DER Befreiung des Gefangenen wurde also ein
neues Kriegsziel erfunden: dem Abschuss von Qassams ein
Ende zu setzen.
Das
schien einfach: man muss nur die Gebiete besetzen, von
denen die Raketen in Richtung Sderot oder Ashkalon
abgeschossen werden. Aber das ist eine Sisyphusarbeit.
Die Operation mag wohl eine vorübergehende Verringerung
der Abschüsse bewirken. Aber selbst die Kommandeure der
Operation geben zu, dass das Abschießen in dem
Augenblick wieder aufgenommen und wahrscheinlich
zunehmen wird, sobald sich die Armee zurückzieht. Fast
keiner befürwortet es, dass die Armee für längere Zeit
dort bleiben soll. Die israelische Öffentlichkeit hat
genug erfahren, um noch einmal vom „Gaza-Sumpf“
verschlungen zu werden.
Der
Wohnungsminister Shitrit hat eine Lösung: „ tausendmal“
nach Gaza zurückkehren.
Der
Verteidigungsminister Peretz spricht von einem „hohen
Preis, der vom palästinensischen Volk verlangt wird“ –
von einem so schrecklichen Preis, dass die
Palästinenser selbst die Qassam-Teams wegjagen werden.
Dies ist die Ansicht des Generalstabschefs. Anstelle des
„Bomber Harris“ tritt nun „Zerstörer Halutz“. Nicht
zufällig sind beide in den Rängen der Luftwaffe hoch
gestiegen.
Wenn
der dauerhafte Stop der Qassams nicht durchführbar ist,
was für ein Kriegsziel bleibt dann noch? Nur eines: der
Zusammenbruch der palästinensischen Regierung. Siehe
Harris-Prinzip.
WIE
JEDES einzelne Ereignis der vergangenen 120 Jahre des
zionistisch-palästinensischen Konfliktes wird auch
dieses auf verschiedene Weise in das Bewusstsein der
beiden Völker eingebrannt werden.
Für
die Israelis ist dies ein weiteres Kapitel im langen
Krieg gegen den „Palästinensischen Terrorismus“. Noch
einmal sind unsere tapferen Soldaten gezwungen, den
gemeinen palästinensischen Mördern entgegen zu treten,
deren Ziel es ist, uns ins Meer zu werfen. Noch einmal
kämpfen wir, weil „es keine Alternative gibt“ . Wie
Yitzhak Shamirs berühmter Ausspruch : „Die Araber sind
dieselben Araber, und das Meer ist dasselbe Meer.“
Für
die andere Seite ist dies ein heroischer Widerstand
ihrer besten Söhne gegen einen bösen und schlimmen
Feind. Eine der stärksten Armeen der Welt, ausgerüstet
mit den neuesten und effektivsten Waffen, wird gegen
eine Handvoll militärisch nicht ausgebildeter Kämpfer
mit primitiven Waffen eingesetzt. Kampfflugzeuge,
Kampfhubschrauber, schwere Panzer, Artillerie,
Kanonenboote, gepanzerte Bulldozer und Nachtsichtgeräte
– alles gegen Kalaschnikows und Panzerfäuste. Ein
palästinensisches Masada.
Der
bisherige Kampf zwischen den palästinensischen
Militias führt jetzt zu neuer Einigkeit gegen den
gemeinsamen Feind. Schon am Vorabend der Operation
stimmte Ismail Haniya mit Mahmoud Abbas der Fatah
überein, das „Dokument der Gefangenen“ zu akzeptieren,
das de facto Israel innerhalb der Grenze der Grünen
Linie anerkennt. Nun, in der Hitze des Gefechts, fordern
die Fatahmitglieder, dass sie sich mit den Hamaskämpfern
im Kampf gegen die Invasoren zusammenschließen. Der
verbliebene Einfluss von Abbas schwindet dahin.
Wenn
die israelische Regierung ihre öffentlichen Drohungen,
den palästinensischen Ministerpräsidenten und seine
Minister zu töten, wahr macht, wird Hamas nur gestärkt
hervorgehen. Der Platz der Märtyrer wird durch neue
Führer aus den Reihen der Kämpfer ersetzt werden, und
die Palästinenser werden die Reihen hinter ihnen
schließen.
IN
ISRAEL wird das Gegenteil geschehen: die Operation wird
wohl die Regierung beschädigen, die mit ihr begonnen
hat. Der grausame Scheinwerfer der Krise wirft ein
grelles Licht auf sie – und dieses Licht ist nicht
schmeichelhaft. Es scheint, es sei unter ihnen nicht
eine einzige Person, die mehr ist als nur ein
gesichtsloser Politiker.
Ehud
Olmert redet sich selbst politisch tot Sein endloses
Geplapper beginnt zu irritieren – um so mehr, als es
nichts aussagt als nur die Klischees der 50er-Jahre:
Wir werden keiner Erpressung nachgeben; Terrorismus
wird nicht siegen; der Feind will uns auslöschen;
Mördern wird nicht verziehen; wir haben eine wunderbare
Armee; unser Arm ist lang etc. etc.
Amir
Peretz wiederholt die grauenhaftesten Slogans seines
schlimmsten Vorgängers. Nichts ist von dem Führer
übriggeblieben, für den wir erst vor kurzem stimmten,
der eine soziale Revolution anzuführen im Begriffe war
und die nationalen Prioritäten verändern, das
militärische Budget drastisch kürzen und den Frieden
näher bringen wollte. Was blieb von ihm übrig: ein
Sprecher – und nicht der beste – des Generalstabschefs.
Wenn meine Zeitschrift Haolam Hazeh noch bestehen würde,
dann hätte es in dieser Woche eine Karikatur gebracht,
die einen Papagei auf der Schulter von Dan Halutz
zeigt.
Tsipi Livni, die so viele Hoffnungen geweckt hatte, ist
einfach verschwunden. Sie spielt keine Rolle in diesem
Drama. Außer den banalsten Platitüden hat sie nichts zu
sagen. Wie Olmert zeigt sie sich als das, was sie ist:
eine Politikerin der Rechten, die den Fußstapfen eines
Vater folgt, der zur politischen Rechten gehörte.
Der
wirkliche Herrscher Israels ist Dan Halutz, ein
Kampfpilot, der die Welt unten nur durch eine
Bombenzielvorrichtung sieht. Der einzige Konkurrent
ist der Chef des Sicherheitsdienstes Yuval Diskin. Die
Chefs der Armee und des Sicherheitsdienstes entscheiden
unter sich den Lauf des Staates Israel. Olmert ist
bestenfalls ein Schiedsrichter.
Ein
Kuriosum: die Namen weisen nicht auf die Neigung ihrer
Besitzer hin. Ehud („beliebt“ auf hebräisch) verliert
seine Popularität. Peretz („aufbrechen“) bricht nicht
zu einem guten Platz auf. Livni („weiß“) rechtfertigt
schwarze Taten. Und Halutz („Pionier“ ) führt zu
nichts Neuem.
Aber
der seltsamste Name gehört dem Kommandeur der Operation,
General Galant. In europäischen Sprachen bedeutet
„galant“ tapfer und ritterlich.
WIE
WIRD das alles enden?
Ich
vermute, dass es am Ende keine Alternative gibt, als
dass mit der Freilassung des Soldaten ein Austausch von
Gefangenen stattfinden wird. Unsere Seite wird dann
hinausposaunen, dies sei ein großer Sieg der Operation ,
weil die Palästinenser gezwungen worden seien, sich mit
einer kleineren Anzahl entlassener Gefangener zufrieden
zu geben, als sie ursprünglich forderten. Die
Palästinenser werden sich rühmen, einen glorreichen Sieg
errungen zu haben, weil Israel Gefangene entlassen wird,
nachdem es mit hochtrabenden Slogans begann:
„Niemals...!“ ( (Wie oft gesagt wurde: Sage niemals
nie!“)
Wenn
wir es wünschten, könnte die Freilassung des Soldaten
mit einem größeren Paket verbunden werden: mit einem
gegenseitigen Waffenstillstand, einem Stop des
Qassambeschusses, und dafür mit einem vollständigen
Rückzug aus dem Gazastreifen, der Beendigung der
„gezielten Tötungen“ und der Freilassung der kürzlich
verhafteten Hamasführer.
Ein
kurzer Waffenstillstand kann zu einem langen
Waffenstillstand und zu einem ernsthaften Dialog führen.
Ist
die Olmert-Regierung nach all dem arroganten Geprahle
dazu in der Lage? Ist sie überhaupt daran interessiert,
nachdem sie sich selbst der „einseitigen Konvergenz“
und der Annexion von Gebieten verschrieben hat?
Wahrscheinlich nicht. Andrerseits könnte die israelische
öffentliche Meinung aus den Folgen der „unilateralen
Trennung“ und dem unilateralen Krieg eine Lektion
gelernt haben. Die israelische Friedensbewegung muss
helfen, dass dies erreicht wird.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser
autorisiert)
|