Wer ist der Hund? Wer ist der Schwanz?
Uri Avnery, 22.4.06
GEWÖHNLICH erzähle ich diese Geschichten nicht; denn es
könnte der Verdacht aufkommen, ich sei paranoid.
Z.B.
wurde ich vor 27 Jahren zu einer Vortagsreise in 30
amerikanische Universitäten eingeladen, einschließlich
der berühmtesten wie Harvard, Yale, Princeton, MIT,
Berkeley ...
Meine Gastgeberin war die Gesellschaft für Versöhnung (Fellowship
of Reconciliation), eine geachtete nicht-jüdische
Organisation; die Vorträge selbst wurden aber unter der
Schirmherrschaft der jüdischen Bet-Hillel-Rabbiner
gehalten.
Bei
der Ankunft am New Yorker Flughafen wurde ich von einem
der Organisatoren empfangen. „Da gibt es einen Haken“,
sagte er mir, „29 Rabbiner haben Ihren Vortrag
abgesagt.“
Am
Ende fanden alle Vorträge statt doch unter der
Schirmherrschaft christlicher Geistlicher. Als wir zu
dem einen Rabbiner kamen, der meinen Vortrag nicht
abgesagt hatte, erzählte er mir das Geheimnis: die
Vorträge waren durch einen vertraulichen Brief der
Anti-Defamation Liga, der „Gedanken-Polizei“ des
jüdischen Establishments, verboten worden. Der
wichtigste Satz blieb mir im Gedächtnis: „zwar kann
gesagt werden, dass Knessetabgeordneter Avnery ein
Verräter ist, jedoch ...“
UND
EINE ANDERE Geschichte aus dem realen Leben: ein Jahr
später flog ich nach Washington DC, um die
Zwei-Staaten-Lösung zu „verkaufen“, die zu jener Zeit
als ausgefallene, wenn nicht gar als verrückte Idee
betrachtet wurde. Im Laufe meines Besuches waren die
Quäker so freundlich, eine Pressekonferenz für mich zu
arrangieren.
Als
ich ankam, war ich sehr erstaunt. Der Raum war
propenvoll; praktisch alle bedeutenden amerikanischen
Medien waren vertreten. Viele kamen direkt von einer
Pressekonferenz mit Golda Meir, die auch gerade in der
Stadt weilte. Die Veranstaltung sollte wie üblich eine
Stunde dauern, aber die Journalisten ließen mich nicht
gehen. Sie bombardierten mich weitere zwei Stunden lang
mit Fragen. Offensichtlich waren die Dinge, die ich zu
sagen hatte, ganz neu und interessierte sie.
Nun
war ich neugierig, wie das in den Medien berichtet
werden würde. Und in der Tat war die Reaktion
erstaunlich: nicht ein Wort erschien in irgend einer
Zeitung, auch nicht im Radio oder im Fernsehen. Nicht
ein einziges Wort.
Nebenbei: vor drei Jahren hielt ich eine Pressekonferenz
– diesmal auf dem Kapitol in Washington. Es war eine
genaue Wiederholung des letzten Males: viele Reporter,
ihr offensichtliches Interesse, die Fortsetzung der
Konferenz über die angegebene Zeit hinaus – und kein
einziges Wort in den Medien.
ICH
KÖNNTE noch ein paar solcher Geschichten erzählen –
aber das genügt. Ich erzähle sie nur im Zusammenhang mit
dem Skandal, der kürzlich von zwei amerikanischen
Professoren, Stephen Walt von Harward und John
Mearsheimer der Universität Chikago verursacht wurde.
Sie veröffentlichten ein Untersuchungspapier über den
Einfluss der pro Israel Lobby in den USA.
In
80 Seiten – 40 davon Fußnoten und Quellenangaben –
beweisen die beiden, dass die pro Israel Lobby eine
ungehemmte Macht in der US-Hauptstadt ausübt, dass sie
Mitglieder des Senates und des Abgeordnetenhauses
terrorisiert, wie das Weiße Haus nach ihrer Flöte tanzt
(falls ein Haus tatsächlich tanzen kann), dass die
bedeutenden Medien ihren Befehlen gehorchen und dass
selbst die Universitäten in Angst vor ihr leben.
Dieser Aufsatz verursachte einen Sturm. Und ich meine
nicht die voraussagbaren wilden Angriffe der „Freunde
Israels“ - die meisten Politiker, Journalisten und
Professoren. Sie schleuderten die üblichen Anklagen
gegen die beiden Professoren: sie seien Antisemiten, sie
lassen „die Protokolle der Weisen von Zion“ wieder
aufleben usw. Es gab etwas Paradoxes in diesen
Angriffen, da sie nur die Argumente der Autoren
bestätigten.
Die
Debatte, die mich fasziniert, ist jedoch von anderer
Art. Sie brach zwischen hochrangigen Intellektuellen
aus, vom legendären Noam Chomsky, dem Guru der Linken in
aller Welt (einschließlich Israels), bis zu den
progressiven Internetseiten überall. Der Zankapfel war
die Schlussfolgerung der Untersuchung: die
jüdisch-israelische Lobby beherrsche die US-Außenpolitik
und unterwerfe sie israelischen Interessen – und zwar
im krassen Widerspruch zu den nationalen Interessen der
USA selbst. Ein einschlägiger Fall: der amerikanische
Angriff auf den Irak.
Chomsky und andere erhoben gegen diese Behauptung
Einspruch. Sie leugneten nicht die tatsächlichen
Erkenntnisse der beiden Professoren, sondern
protestierten gegen ihre Schlussfolgerungen. Ihrer
Ansicht nach lenken nicht die pro Israel Lobby die
amerikanische Politik, sondern die Interessen der großen
Aktiengesellschaften, die das amerikanische Empire
beherrschen und Israel für ihre eigenen selbstsüchtigen
Ziele ausbeuten.
Einfach gesagt: wedelt der Hund mit seinem Schwanz, oder
wedelt der Schwanz mit dem Hund?
ICH
BIN etwas nervös, mich in die Debatte solch berühmter
Intellektueller einzumischen , aber ich fühle mich
irgendwie trotzdem verpflichtet, meine Ansicht dazu zu
äußern.
Ich
will mit dem Juden beginnen, der zum Rabbi ging und sich
über seinen Nachbarn beschwerte. „Du hast recht“,
erklärte der Rabbi. Dann kam der Nachbar und verurteilte
die Klage. „Du hast recht,“ verkündete der Rabbi. „Aber
wie ist das möglich?“ rief seine Frau aus. „Es kann
doch nur einer recht haben!“ „Und du hast auch recht!“
sagte der Rabbi.
Ich
befinde mich in einer ähnlichen Situation. Ich denke,
dass beide recht haben, (und hoffe damit, auch selbst
Recht zu haben).
Die
Erkenntnisse der beiden Professoren sind bis ins letzte
Detail richtig. Jeder Senator und Kongressmann weiß,
dass Kritik an der israelischen Regierung für ihn
politischer Selbstmord bedeutet. Zwei von ihnen, ein
Senator und ein Kongressmann, versuchten dies - und
wurden politisch hingerichtet. Die jüdische Lobby wurde
komplett gegen sie mobilisiert und jagte sie aus ihrem
Amt. Dies geschah vor aller Augen, um ein öffentliches
Beispiel zu geben. Wenn die israelische Regierung morgen
ein Gesetz haben möchte, das die Zehn Gebote für
ungültig erklärt, dann würden mindesten 95 Senatoren
den Gesetzesentwurf unverzüglich unterschreiben.
Präsident Bush z.B. hat sich von allen lang bestehenden
amerikanischen Positionen, die unsern Konflikt
betreffen, zurückgezogen. Er akzeptiert automatisch die
Positionen unserer Regierung – egal wie sie aussehen.
Fast alle amerikanischen Medien wollen nichts von
palästinensischen und israelischen Friedensaktivisten
wissen. Was die Professoren betrifft, so wissen fast
alle, welche Seite ihres Brotes mit Butter bestrichen
ist. Wenn trotz allem einer von ihnen den Mund zu öffnen
wagt und etwas gegen die israelische Politik sagt – was
alle paar Jahre einmal vorkommt – wird er unter einem
Hagel von Verwünschungen begraben: ein Antisemit, ein
Holocaustleugner, ein Neo-Nazi .
Nebenbei gesagt, sind amerikanische Gäste in Israel, die
wissen, dass es zu Hause verboten ist, über den Einfluss
der jüdischen Lobby zu reden, sprachlos, wenn sie
hören, dass hier die Lobby ihre Macht in Washington
nicht verheimlicht, sondern offen damit angibt.
Die
Frage ist deshalb nicht, ob die beiden Professoren mit
ihren Untersuchungen recht haben, die Frage lautet
eher, welche Schlussfolgerungen können aus ihnen gezogen
werden?
NEHMEN WIR mal die Irakaffäre. Wer ist der Hund? Wer
der Schwanz?
Die
israelische Regierung betete um den Angriff, der für
Israel die strategische Bedrohung des Irak zunichte
gemacht hat. Amerika wurde von einer Gruppe
Neo-Konservativer, fast alles Juden, die einen großen
Einfluss auf das Weiße Haus haben, in den Krieg
gestoßen. Früher waren einige von ihnen Berater von
Binyamin Netanyahu gewesen
Oberflächlich betrachtet, ein klarer Fall. Die pro
Israel Lobby drängte zum Krieg, Israel profitiert am
meisten davon. Wenn der Krieg in einem Desaster für
Amerika endet, dann wird sicher Israel die Schuld dafür
gegeben.
Wirklich? Und wie ist es mit dem amerikanischen Ziel,
ihre Hände auf die Weltölreserven zu legen, um die
Weltwirtschaft zu beherrschen? Und mit dem Ziel, eine
amerikanische Garnison im Zentrum der wichtigsten
ölproduzierenden Region, über dem irakischen Öl, zu
setzen - genau zwischen dem Öl Saudi Arabiens, des Iran
und dem Kaspischen Meer? Wie ist es mit dem immensen
Einfluss der großen Öl-Gesellschaften auf die der Bush
–Familie? Was mit den großen multinationalen
Aktiengesellschaften, deren hervorragendster Vertreter
Dick Cheney ist, die hofften, Hunderte Milliarden Gewinn
beim „Wiederaufbau des Irak“ zu machen?
Die
Lektion der Irakaffäre ist die, dass die
amerikanisch-israelische Verbindung am stärksten ist,
wenn es scheint, dass amerikanische und israelische
Interessen übereinstimmen (ungeachtet, ob dies auf
Dauer wirklich der Fall ist). Die US benützen Israel, um
den Nahen Osten zu beherrschen – Israel benützt die US,
um Palästina zu beherrschen.
Wenn
aber etwas Außergewöhnliches geschieht, wie die
Jonathan-Pollard-Spionage-Affäre oder der Verkauf eines
israelischen Spionage-Flugzeugs an China, und sich so
eine Kluft zwischen den Interessen beider Seiten
öffnet, dann ist Amerika fähig, Israel zu ohrfeigen.
DIE
AMERIKanisch-israelischen Beziehungen sind tatsächlich
einzigartig. Es sieht so aus, als gäbe es keinen
Präzedenzfall in der Geschichte. Es ist als hätte König
Herodes Kaiser Augustus Befehle gegeben und bestimmt,
wer Mitglied des römischen Senats werden soll.
Ich
denke nicht, dass dieses Phänomen allein durch
wirtschaftliche Interessen erklärt werden kann. Selbst
die orthodoxesten Marxisten müssen anerkennen, dass dies
auch eine geistige Dimension hat. Es ist kein Zufall,
dass amerikanische ( sowie auch britische)
fundamentalistische Christen die zionistische Idee vor
Theodor Herzl erfunden haben. Die evangelikale Lobby ist
nicht weniger bedeutend im heutigen Washington als die
jüdische. Nach ihrer Ideologie müssen Juden das ganze
Heilige Land in Besitz nehmen, um die Wiederkunft
Christi möglich zu machen ( und dann – was sie nicht
laut verkünden - werden einige Juden Christen und der
Rest wird in der Schlacht von Armageddon (heute Meggido
im Norden Israels) vernichtet.
An
der Basis des Phänomens liegt die unheimliche
Ähnlichkeit zwischen den beiden national-religiösen
Geschichten: der amerikanische Mythos und der
israelische. In beiden haben Pioniere, die wegen ihrer
Religion verfolgt wurden, die Küsten ihres „Verheißenen
Landes“ erreicht. Sie wurden gezwungen, sich gegen die
„wilden“ Einheimischen zu wehren, die sie ausrotten
wollten. Sie „erlösten“ das Land, brachten die Wüste zum
Blühen, schufen mit Gottes Hilfe eine blühende,
demokratische und moralisch hochstehende Gesellschaft.
Beide leben in einem Zustand der Leugnung und der
unbewussten Schuldgefühle - drüben wegen des Genozids
an den einheimischen Amerikanern und der entsetzlichen
Sklaverei der Schwarzen - hier wegen der Entwurzelung
des halben palästinensischen Volkes und der
Unterdrückung der andern Hälfte. Hier wie dort glauben
die Menschen an einen ewigen Krieg zwischen den Söhnen
des Lichts und den Söhnen der Finsternis.
JEDENFALLS ist die amerikanisch-israelische Symbiose
ein zu einzigartiges und komplexes Phänomen, um sie als
einfache Verschwörung zu beschreiben. Ich bin sicher,
dass die beiden Professoren dies auch nicht so meinten.
Der
Hund wedelt mit dem Schwanz und der Schwanz wedelt mit
dem Hund. Sie wedeln sich gegenseitig.
(Aus dem Englischen:
Ellen Rohlfs, und vom Verfasser autorisiert)
Das Papier der Professoren John Mearsheimer und
Stephen Walt //johnmearsheimer.uchicago.edu/pdfs/A0040.pdf
Zu John Mearsheimer and
Stephen Walt.
Nahost, Links zu Beiträgen über The Israel-Lobby von
Mearsheimer und Walt
hier.
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