Das Debakel
Uri Avnery, 30.November 2013
DIE GRÖSSTE
GEFAHR für Israel ist nicht die mutmaßliche iranische Bombe
.Die größte Gefahr ist die Dummheit unserer Führer.
Dies ist kein
einzigartiges israelisches Phänomen. Sehr viele Führer der
Welt sind offensichtlich dumm und sind es immer gewesen. Es
genügt, auf das zu sehen, was sich im Juli 1914 in Europa
abspielte, als eine unglaubliche Häufung dummer Politiker
und inkompetenter Generäle die Menschheit in den 1.
Weltkrieg stürzte.
Aber in
letzter Zeit haben Benjamin Netanjahu und fast das ganze
israelische politische Establishment einen neuen Rekord an
Dummheit erreicht.
LASST UNS
mit dem Ende beginnen.
Der Iran ist
der große Sieger. Er ist herzlich in die Familie
zivilisierter Nationen wieder aufgenommen worden. Seine
Währung, der Real, steigt. Sein Prestige und sein Einfluss
haben in der Region wieder an Bedeutung gewonnen. Seine
Feinde in der muslimischen Welt, Saudi Arabien und seine
Satelliten am Golf sind gedemütigt worden. Jeder
Militärschlag gegen ihn von irgendjemandem, einschließlich
Israel, ist undenkbar geworden.
Das Image des
Iran als einer Nation verrückter Ayatollahs, gefördert von
Netanjahu und Ahmadinejad, ist verschwunden. Der Iran sieht
jetzt wie ein verantwortliches Land aus, das von nüchtern
denkenden und klugen Führern geleitet wird.
Israel ist
der große Verlierer. Es hat sich selbst in eine Position
totaler Isolierung manövriert. Seine Forderungen sind
ignoriert worden. Seine traditionellen Freunde haben sich
selbst von ihm distanziert. Seine Beziehungen mit den US
sind ernsthaft beschädigt worden
Was
Netanjahu und Co gerade tun, ist fast unglaublich. Auf
einem sehr hohen Ast sitzend, sägen sie ihn fleißig durch.
Viel ist über
die totale Abhängigkeit Israels von den US gesagt worden,
und zwar fast auf allen Gebieten. Aber um die Größe der
Dummheit zu verstehen, muss ein Aspekt besonders erwähnt
werden: Israels Kontrollen, in Wirklichkeit, der Zugang zu
den amerikanischen Zentren der Macht
Alle
Nationen, besonders die kleineren und ärmeren, wissen, dass,
wenn man die Hallen des amerikanischen Sultans betritt, um
Hilfe und Unterstützung zu bekommen, sie den Türwächter
bestechen müssen. Die Bestechung mag viele Formen annehmen:
politisch (Privilegien vom Herrscher); oder wirtschaftlich
(Rohmaterial); diplomatisch (Stimmen bei der UN);
militärisch (eine Basis oder „Zusammenarbeit“ mit dem
Nachrichtendienst) oder was auch immer. Wenn es groß genug
ist, wird AIPAC helfen, vom Kongress Unterstützung zu
bekommen.
Dieser
einmalige Vorzug beruht allein auf der Wahrnehmung von
Israels einzigartiger Stellung in den USA. Netanjahus
komplette Niederlage in Bezug auf die US-Beziehungen mit
dem Iran hat schwer geschadet, wenn nicht gar diese
Wahrnehmung gelöscht. Der Verlust ist unermesslich.
DIE
ISRAELISCHEN Politiker, sind wie die meisten ihrer Kollegen
wo anders, mit der Weltgeschichte kaum vertraut. Sie sind
Parteifunktionäre, die ihr Leben mit politischen Intrigen
verbringen. Wenn sie Geschichte studiert hätten, würden sie
nicht für sich selbst die Falle gebaut haben, in die sie
jetzt gefallen sind.
Ich bin
versucht, damit zu prahlen, dass ich vor mehr als zwei
Jahren schrieb: jeder militärische Angriff auf den Iran
durch Israel oder die USA sei unmöglich. Aber es war keine
Prophetie, die mir von irgend einer unbekannten Gottheit
eingegeben wurde. Es war nicht einmal sehr klug. Es war nur
die Folge eines einfachen Blickes auf den Atlas: Die Straße
von Hormuz.
Jede
militärische Aktion gegen den Iran würde zu einem größeren
Krieg führen, so etwa wie der Vietnamkrieg, außerdem zu
einem Kollaps der Welt, so etwa zu einem Kollaps der
Welterdölrouten. Selbst, wenn die US-Öffentlichkeit nicht
so kriegsmüde gewesen wäre, .um solch ein Abenteuer zu
starten, der muss nicht nur ein Idiot gewesen sein,
sondern wahnwitzig.
Die
militärische Option ist „nicht vom Tisch“ – sie war nie auf
dem Tisch. Es war eine leere Pistole, und die Iraner wussten
dies sehr wohl.
Die geladene
Pistole war das System der Sanktionen. Das Volk leidet. Es
überzeugte den obersten Führer, Ali Husseini Khamenei, das
Regime völlig zu ändern und einen neuen und sehr anderen
Präsidenten einzusetzen.
Den
Amerikanern war dies klar, und sie handelten dem
entsprechend. Netanjahu, von der Bombe besessen, änderte
nichts. Noch schlimmer: er tut noch immer nichts.
Falls es ein
Symptom von Wahnsinn ist, immer wieder dasselbe zu
versuchen, das fehl geschlagen war, dann sollten wir
beginnen, uns über „König Bibi“ Sorgen zu machen.
UM SICH
SELBST vor dem Image totalen Misserfolges zu retten, hat
AIPAC angefangen, seinen Senatoren und Kongressleuten Order
zu geben, neue Sanktionen auszuarbeiten, die in einer
unbestimmten Zukunft in die Praxis umgesetzt werden
sollten.
Das neue
Leitmotiv der israelischen Propagandamaschine ist: der Iran
täuscht. Die Iraner können nichts anderes. Täuschen liegt in
ihrer Natur
Dies könnte
wirksam sein, weil es sich auf tief verwurzelten Rassismus
gründet. Bazar ist ein persisches Wort, das bei Europäern
mit Feilschen und Täuschen assoziiert ist
Aber die
israelische Überzeugung, dass die Iraner täuschen, hat eine
robustere Grundlage: unser eigenes Verhalten. Als Israel
1950 anfing, seinen eigenen Atomreaktor mit Hilfe
Frankreichs zu bauen, musste es die ganze Welt täuschen und
tat dies mit phantastischer Wirkung.
Durch reinen
Zufall – vielleicht auch nicht – strahlte Israels Kanal 2TV
am letzten Montag eine sehr enthüllende Geschichte aus (nur
zwei Tage nach dem Unterzeichnen des Genfer Abkommens) Das
mit dem größten Prestige- verbundene Programm „Tatsache“
interviewte den israelischen Hollywood-Regisseur Arnon
Milchan, einen Milliardär und Israelpatrioten.
In dem
Programm brüstete sich Milchan mit seiner Arbeit für Lakam,
eine israelische Spionageagentur, die sich mit Yonatan
Pollard befasste (Seit damals ist sie demontiert). Lakam
spezialisierte sich auf wissenschaftliche Spionage, und
Milchan tat unschätzbaren Dienst, indem er geheim und unter
falschen Vorwänden notwendige Materialien für das nukleare
Programm beschaffte.
Milchan
deutete seine Bewunderung für das südafrikanische
Apartheidregime und Israels nukleare Zusammenarbeit mit
diesem an . Zu der Zeit gab eine mögliche nukleare
Explosion im Indischen Ozean nahe Südafrika amerikanischen
Wissenschaftlern rein Rätsel auf, und es gab Theorien, (die
nur flüsternd wiederholt wurden) über einen
israelisch-südafrikanischen nuklearen Versuch.
Eine dritte
Partei war der Schah von Persien, der auch nukleare
Ambitionen hatte. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass
Israel dem Iran half, die ersten atomaren Schritte zu tun.
Israels
Führer und Wissenschaftler gaben sich große Mühe, ihre in
hohem Maße nuklearen Aktivitäten zu verbergen. Der
Dimona-Reaktor wurde als Textilfabrik getarnt. Ausländer
wurden durch Dimona geführt und durch falsche Mauern,
verborgene Stockwerke und ähnliche Dinge getäuscht.
Wenn deshalb
unsere Führer von Täuschung, Betrug und Irreführung
sprechen, dann wissen sie genau, worüber sie sprechen. Sie
respektieren die persische Fähigkeit, dasselbe zu tun, und
sind ganz davon überzeugt, dass dies geschehen wird.
Praktisch denken alle Israelis so und besonders
die-Kommentatoren der Medien
EINES DER
bizarreren Aspekte der amerikanisch-israelischen Krise ist
die israelische Klage, dass die US „hinter unserm Rücken“
einen geheimen diplomatischen Kanal mit dem Iran gehabt
habe.
Falls es
einen internationalen Preis für Chuzpe (Frechheit) gäbe,
dann wäre dies ein glaubwürdiger Kandidat.
„Die einzige
Welt-Supermacht“ hat geheime Verbindungen mit einem
bedeutenden Land und informiert Israel erst verspätet
darüber. Was für eine Unverschämtheit! Wie können sie es nur
wagen!
Das
wirkliche Abkommen – so scheint es – war nicht in den
vielen Stunden der Verhandlungen in Genf ausgehandelt,
sondern in diesen geheimen Kontakten
Übrigens,
vergaß unsere Regierung nicht, sich damit zu brüsten, dass
sie über all dies die ganze Zeit durch Quellen des eigenen
Geheimdienstes Bescheid wusste. Sie deutet darauf hin, dass
dies Saudis waren. Ich würde eher einen unserer zahllosen
Informanten der US-Regierung verdächtigen.
Sei es, wie
es sei, die Annahme ist, die US sei im Voraus
verpflichtet, Israel über jeden Schritt, den es in Nahost
unternimmt, zu informieren. Interessant!
PRÄSIDENT
OBAMA hat offensichtlich entschieden, dass Sanktionen und
militärische Drohungen nur so weit gehen können. Ich denke,
er hat recht.
Eine stolze
Nation ergibt sich keinen offenen Drohungen. Mit solchen
Herausforderungen konfrontiert, tendiert eine Nation dazu,
mit patriotischem Eifer zusammen zu rücken und seine Führer
zu unterstützen, auch wenn sie nicht beliebt sind. Wir
Israelis würden dies tun. So würde es auch jede andere
Nation tun.
Obama hat
fest mit einem iranischen Regimewechsel gerechnet, der schon
begonnen hat. Eine neue Generation, die in den sozialen
Medien sieht, was in aller Welt geschieht, möchte am guten
Leben teilnehmen. Revolutionärer Eifer und ideologische
Orthodoxie schwinden mit der Zeit, wie wir Israelis nur zu
gut wissen. Es geschah in unsern Kibbuzim; es geschah in der
Sowjetunion; es geschieht in China und Kuba; nun geschieht
es auch im Iran.
WAS SOLLEN
wir also tun? Mein Rat wäre einfach: wenn du sie nicht
schlagen kannst, schließ Dich ihnen an.
Stopp
Netanjahus Obsession und die Torheit der AIPAC, nimm das
Genfer Abkommen an, weil es gut für Israel ist, unterstütze
Obama. Flicke die Beziehungen mit der US-Regierung. Und
besonders wichtig; strecke deine Fühler zum Iran aus, um
sehr langsam die gegenseitigen Beziehungen zu verändern.
Geschichte
zeigt, dass Freunde von gestern die Feinde von heute sein
können und die Feinde von heute die Verbündeten von morgen.
Es geschah schon einmal zwischen dem Iran und uns. Abgesehen
von der Ideologie, gibt es keinen wirklichen Zusammenstoß
der Interessen zwischen den beiden Nationen.
Wir benötigen
einen Wandel in der Führung wie denjenigen, den der Iran
begonnen hat. Leider haben sich alle israelischen
Politiker, linke wie rechte, dem Marsch der Toren
angeschlossen. Nicht eine einzige Stimme aus dem
Establishment hat sich dagegen erhoben. Der neue Führer der
Labor-Partei, Yitzhak Herzog ist genau so ein Teil wie Yair
Lapid und Tsipi Livni.
Auf Jiddisch
sagt man: Über Narren würde man sich amüsieren, wenn sie
nicht unsere eigenen Narren wären.
(Aus dem
Englischen Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)