Dubioses in Dubai
Uri Avnery, 20.2.10
VON ZEIT zu Zeit frage ich mich: was würde geschehen, wenn sich die
Regierungen der Welt entscheiden würden, zum selben Zeitpunkt ihre
Spionage-Agenturen aufzulösen?
Das wäre zwar ein großer Schlag gegenüber Autoren und Filmemachern
sein, die ihren Lebensunterhalt mit Spionagegeschichten verdienen.
Ihre Produkte würden ihren Reiz verlieren.
Es
wäre eine Katastrophe für all die Fans werden, die Spionagekrimis
verschlingen, die begeisterte Konsumenten von Büchern und Filmen
über Superhelden wie James Bond und superschlaue Genies wie John Le
Carres Charaktere sind.
Aber wie würde der wirkliche Schaden aussehen, wenn Washington
aufhörte, in Moskau zu spionieren und Moskau in Washington und beide
in Peking? Die Folge wäre ein Knüller. Unmengen von Geld würden
gespart werden, da ein großer Teil der Bemühungen jeder
Spionage-Agentur dafür verwendet wird, die Intrigen der Konkurrenz
zu zerstören. Wie vielen Analphabeten könnte Lesen und Schreiben
beigebracht , wie viele hungrige Leute könnten damit ernährt, wie
viele Krankheiten besiegt werden?
Die beliebten populären Bücher und Filme feiern die imaginären
Erfolge der Spionagedienste. Die Realität ist viel prosaischer und
voll wirklicher Fehlschläge.
DIE BEIDEN klassischen Katastrophen des Geheimdienstes geschahen
während des 2. Weltkriegs. Bei beiden lieferten die Geheimdienste
ihren politischen Bossen falsche Einschätzungen, oder die Führer
ignorierten ihre akkuraten Beurteilungen. So weit es die Folgen
betrifft, liefen beide auf das Gleiche hinaus.
Genosse Stalin war von dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion
völlig überrascht, obwohl die Deutschen Monate benötigten, ihre
riesigen Invasionstruppen an Ort und Stelle zu versammeln.
Präsident Roosevelt war vom japanischen Angriff auf Pearl Harbor
völlig überrascht, obwohl der größte Teil der japanischen Flotte
daran teil nahm. Die Fehlschläge waren so phantastisch, dass
Spionageliebhaber Zuflucht zu Verschwörungstheorien nehmen mussten,
um sie zu erklären. Eine dieser Theorien besagt, dass Stalin
absichtlich die Warnungen ignoriert habe, weil er Hitler mit einem
eigenen Angriff überraschen wollte. Eine andere Theorie behauptet,
dass Roosevelt die Japaner praktisch zu dem Angriff „eingeladen“
habe, weil er einen Vorwand benötigte, um die USA in einen
unpopulären Krieg hineinzuziehen.
Aber seitdem folgt ein Fehlschlag nach dem anderen. Alle
westlichen Spionageagenturen waren von der Khomeini-Revolution im
Iran völlig überrascht, deren Folgen noch heute die Schlagzeilen in
der Presse erreichen. Alle waren vom Kollaps der Sowjetunion total
überrascht, eine der entscheidenden Ereignisse des 20. Jahrhunderts.
Sie waren völlig vom Fall der Berliner Mauer überrascht. Und alle
lieferten falsche Informationen über Saddam Husseins imaginäre
Massenvernichtungswaffen, die für die amerikanische Invasion in den
Irak als Vorwand dienten.
ACH, SAGEN unsere Leute, das geschieht bei den Goyim. Aber nicht bei
uns. Unser Geheimdienst ist wie kein anderer. Das jüdische Gehirn
hat den Mossad erfunden, der alles weiß und der zu allem fähig ist
(Mossad = „Institut“ ist die Kurzform für „Institut für
Nachrichtendienst und Sonder-operationen“)
Wirklich? Beim Ausbruch des 1948er Krieges unterrichteten alle
Chefs der Nachrichtendienste einmütig David Ben Gurion, die Armeen
der arabischen Staaten würden nicht intervenieren. (Zum Glück
richtete sich David Ben Gurion nicht danach) Im Mai 1967 war unsere
ganze Nachrichtendienstgemeinde von der Konzentration der
ägyptischen Armee im Sinai total überrascht, dem Schritt, der zum
Sechs-Tage-Krieg führte. (Unsere Geheimdienstchefs waren davon
überzeugt, dass der größte Teil der ägyptischen Armee im Jemen
beschäftigt war, wo gerade ein Bürgerkrieg wütete) . Der
ägyptisch-syrische Angriff an Yom Kippur, 1973, überraschte völlig
unsere Nachrichtendienste, obwohl es eine Menge Warnungen im
voraus gab.
Die Geheimdienstagenturen wurden von der ersten Intifada völlig
überrascht und dann wieder von der zweiten. Sie waren von der
Khomeini-Revolution total überrascht, obwohl (oder gerade weil) sie
tief im Schah-Regime eingebettet waren. Sie waren vom Hamas-Sieg bei
den palästinensischen Wahlen völlig überrascht.
Die Liste ist lang und unrühmlich. Aber auf einem Feld – so sagt man
– zeichnet sich unser Mossad wie kein anderer aus: bei Attentaten.
(Pardon, bei den „Eliminierungen“).
STEPHEN SPIELBERGS Film „München“ beschreibt die Attentate
(‚Eliminierungen’) auf die PLO-Offiziellen nach dem Massaker der
Athleten bei den Olympischen Spielen 1972. Es ist ein Meisterstück
an Kitsch und kann nur mit dem Film ‚Exodus’ verglichen werden, der
sich auf Leon Uris kitschigen Roman gründet.
Nach dem Massaker (die Hauptverantwortung dafür fiel auf die
inkompetente und unverantwortliche bayrische Polizei), tötete der
Mossad auf Befehl von Golda Meir sieben PLO-Offizielle – zur Freude
der rachedurstigen israelischen Öffentlichkeit. Fast alle Opfer
waren PLO-Diplomaten, die zivilen Vertreter der Organisation in
europäischen Hauptstädten, die keine direkte Verbindung zu den
gewalttätigen Operationen hatten. Ihre Tätigkeiten waren öffentlich,
sie arbeiteten in regulären Büros und lebten mit ihren Familien in
Wohngebäuden. Sie waren statische Ziele, eine leichte Beute.
Bei einer der Aktionen - die der letzten Affäre ähnelt – wurde ein
marokkanischer Kellner in der norwegischen Stadt Lillehammer
irrtümlicherweise ermordet. Der Mossad hielt ihn für Ali Hassan
Salameh, einen ranghohen Fatahoffizier, der als Kontaktmann mit dem
CIA diente. Die Mossadagenten, einschließlich einer mondänen
Blondine (hier gibt es immer eine mondäne Blondine), wurden
identifiziert, verhaftet und zu langen Gefängnisstrafen verurteilt
( aber sehr bald entlassen). Der echte Salameh wurde später
‚eliminiert’.
1988, fünf Jahre vor dem Oslo-Abkommen, wurde Abu Jihad (Halil
al-Wazir), die Nummer zwei in der Fatah, in Tunis vor den Augen der
Frau und Kinder ermordet. Wäre er nicht ermordet worden, würde er
wahrscheinlich heute als Präsident der palästinensischen Behörde
anstelle von Abu Mazen ( (Mahmoud Abbas) dienen. Er würde denselben
Rang in seinem Volk gehabt haben wie Yassir Arafat – der
höchstwahrscheinlich mit einem Gift getötet wurde, das keine Spuren
hinterlässt.
Das Fiasko, das der letzten Aktion am meisten gleicht, war der
Versuch des Mossad, Khaled Mishal, einem ranghohen Hamasführer, das
Leben zu nehmen – und zwar auf Befehl von Binyamin Netanyahu. Die
Mossadagenten überfielen ihn in einer Hauptstraße von Amman und
spritzten ihm ein Nervengift ins Ohr, das ihn töten sollte, ohne
Spuren zu hinterlassen. Sie wurden an Ort und Stelle überwältigt.
König Hussein, der Hauptverbündete der israelischen Regierung in
der arabischen Welt, war wütend und setzte ein Ultimatum: entweder
würde Israel sofort ein Gegengift liefern und Mishals Leben retten,
oder die Mossadagenten würden durch den Strang hingerichtet werden.
Netanyahu gab wie üblich nach, Mishal wurde gerettet, und die
israelische Regierung entließ als eine Art Bonus Sheich Ahmed
Yassin, den Haupt-Hamasführer. Er wurde später durch eine
Höllenfeuerrakete ‚eliminiert’.
WÄHREND DER letzten Wochen wurde eine Unmenge zu der Ermordung von
Mahmoud al-Mabhouh in Dubai geschrieben, einem anderen Hamasoffizier.
Die Israelis stimmten vom ersten Augenblick darin überein, dass dies
wieder der Job des Mossad war. Was für eine phantastische Tat! Wie
konnten sie nur so lange im voraus wissen, wann der Mann nach Dubai
ging, welchen Flug er nahm, in welchem Hotel er bliebe? Was für
eine präzise Planung!
Die „Militärkorrespondenten“ und die „Korrespondenten für arabische
Angelegenheiten“ auf den Fernsehschirmen strahlten. Sie sahen so
aus, als würden sie sagen: Oh, oh, oh, wenn über dem Sache nicht ein
Embargo verhängt wäre, wenn ich nur sagen dürfte, was ich weiß …wenn
ich euch nur sagen könnte, dass der Mossad noch einmal bewiesen
hat, dass seine langen Arme überall hinreichen können. Lebt in
Angst, ihr Feinde Israels!
Als die Probleme sichtbar zu werden begannen und die Fotos der
Attentäter auf den TVs in aller Welt erschienen, nahm die
Begeisterung ab, aber nur ein wenig. Eine alte und bewährte
israelische Methode wurde angewandt: man nehme ein marginales Detail
und diskutiere es leidenschaftlich und ignoriere das Hauptproblem.
Man konzentriere sich auf einen besonderen Baum und lenke die
Aufmerksamkeit vom Wald ab.
Warum benützten die Agenten die Namen von wirklichen Leuten, die in
Israel leben und eine doppelte Staatsangehörigkeit haben? Warum
benützen sie von allen möglichen Pässen ausgerechnet die von
befreundeten Staaten: Wie konnten sie sicher sein, dass die Besitzer
dieser Pässe nicht zur entscheidenden Zeit auch ins Ausland fliegen?
Außerdem, war ihnen nicht klar, dass Dubai voller Kameras ist, die
jede Bewegung aufnehmen? Sahen sie nicht voraus, dass die lokale
Polizei Filme der Ermordung in allen Details produzieren würde ?
Aber das hat in Israel nicht zu viel Aufregung verursacht. Jeder
verstand, dass die Briten und Iren gezwungen waren, pro forma
zu protestieren; aber das geschah nur der Form halber. Hinter den
Szenen gibt es intime Verbindungen zwischen dem Mossad und den
anderen Nachrichtendiensten. Nach ein paar Wochen wird alles
vergessen sein. So war es in Norwegen nach Lillehammer, so ging es
in Jordanien nach der Mishal-Affäre. Sie werden protestieren, tadeln
– und damit hat es sich. Was ist also das Problem?
DAS PROBLEM ist, dass der Mossad wie ein unabhängiger Lehnsherr
handelt, der die vitalen, langfristigen, politischen und
strategischen Interessen Israels ignoriert und sich der
automatischen Unterstützung eines unverantwortlichen
Ministerpräsidenten erfreut. Er ist – wie ein englischer Ausdruck
sagt - eine „lose Kanone“ – eine Kanone auf einem Schiff aus alten
Zeiten, die sich aus ihren Befestigungen löste und auf dem Deck
herumrollt und jeden unglücklichen Seemann zu Tode drückt, der
zufällig in ihren Weg kommt.
Vom strategischen Standpunkt aus verursacht die Dubai-Operation der
Regierungspolitik, die Irans vermutliche Atombombe als
existentielle Bedrohung für Israel sieht, schweren Schaden. Die
Kampagne gegen den Iran hilft, die Aufmerksamkeit der Welt von der
andauernden Besatzung und den Siedlungen abzulenken, und veranlasst
die USA und Europa und andere Länder, nach seiner Pfeife zu tanzen.
Barack Obama versucht gerade, eine weltweite Koalition zu bilden, um
dem Iran „lähmende Sanktionen“ aufzuerlegen. Die israelische
Regierung dient ihm freiwillig als knurrender Hund.
Er
erzählt den Iranern: die Israelis sind verrückt. Sie können euch
jeden Augenblick angreifen. Ich halte sie mit großer Schwierigkeit
zurück. Aber wenn ihr nicht pariert, lass ich sie von der Leine. Mag
Allah sich euer erbarmen!
Dubai, ein Land am Persischen Golf, dem Iran gegenüberliegend, ist
eine wichtige Komponente in dieser Koalition. Es ist ein Verbündeter
Israels, etwa wie Ägypten und Jordanien. Und jetzt kommt genau diese
israelische Regierung und bringt ihm Unannehmlichkeiten, demütigt
es, lässt unter den arabischen Massen den Verdacht aufkommen, Dubai
kollaboriere mit dem Mossad.
In
der Vergangenheit brachten wir Norwegen in Verlegenheit, dann
machten wir Jordanien wütend, nun demütigen wir Dubai. Ist das
weise? Frage Meir Dagan, dem vor kurzem von Netanyahu ein - bis
jetzt noch nie da gewesenes - achtes Jahr als Chef im Amt des Mossad
gewährt wurde.
VIELLEICHT sind die Auswirkungen der Operation auf unsere Stellung
in der Welt sogar noch bedeutsamer.
Es
gab einmal eine Zeit, in der es möglich war, diesen Aspekt fast
unter den Tisch fallen zu lassen. Lasst die Gojim (nicht-Juden)
sagen, was sie wollen. Aber seit der Operation „Geschmolzenes Blei“
ist sich Israel seiner weit reichenden Auswirkungen bewusster
geworden. Das Urteil des Richters Goldstone, das Echo auf Avigdor
Liebermans Possen, die weltweit wachsende Kampagne, Israel zu
boykottieren – all dies scheint zu beweisen, dass Thomas Jefferson
kein dummes Zeug geredet hat, als er sagte, keine Nation könne es
sich leisten, die Meinung der Menschheit zu ignorieren.
Die Dubai-Affäre verstärkt das Image Israels als Rabaukenstaat, als
Schurkenstaat, der der allgemeinen Meinung der Welt mit Verachtung
begegnet, ein Land, das einen Bandenkrieg führt, das mafiose
Todesschwadronen ins Ausland schickt, eine Paria-Nation, die von
vernünftigen Menschen gemieden werden soll.
War es dies wert?
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
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