Napoleon, „Made in Israel“
Uri Avnery, 7.1.06
Er war ein israelischer Napoleon.
Von früher
Jugend an war er davon überzeugt, die einzige Person in der Welt zu
sein, die den Staat Israel retten könnte. Das war absolut sicher –
ohne jeden Zweifel. Er wusste, er müsse äußerste Macht erlangen, um
die Mission zu erfüllen, die das Schicksal ihm auferlegt habe.
Dieser Glaube
führte zu einer kompletten Integration der persönlichen Egozentrik
und der nationalen Egozentrik. Für eine Person, die an solch eine
Mission glaubt, gibt es keinen Unterschied zwischen persönlichem und
nationalem Interesse. Was für ihn gut ist, wird automatisch gut für
die Nation und umgekehrt. Das bedeutet, dass jeder, der ihn daran
hindert, an die Macht zu kommen, wirklich ein Verbrechen gegen den
Staat begeht. Und jeder, der ihm zur Macht verhilft, eine
patriotische Tat begeht.
Diese
Überzeugung lenkte jahrzehntelang seine Aktionen. Sie erklärt die
hartnäckige Bestimmung, die Zähigkeit, die unbeugsame
Beharrlichkeit, die sein Markenzeichen wurde und ihm den Spitznamen
„der Bulldozer“ einbrachte. Sie zog Bewunderer an, die vollkommen
unter seinen Einfluss gerieten.
Dies erklärt
auch seine Haltung gegenüber dem Geld. Man sagte über ihn, dass „er
nicht bei rot halte!“ und „Gesetze gelten für ihn nicht“. Mehr als
einmal wurde er angeklagt, er habe Geld von reichen Juden im
Ausland angenommen. Am Tag vor seinem schicksalhaften Schlaganfall
kam ein förmliches Papier der Polizei heraus, er habe
Bestechungsgeld in Höhe von drei Millionen Dollar von einem
Casino-Besitzer angenommen. (Es ist möglich, dass diese
Veröffentlichung seinen Blutdruck erhöhte und den schweren
Schlaganfall auslöste.) Aber nicht alle diese Millionäre erwarteten
eine Gegenleistung. Einige von ihnen glaubten, wie er selbst, wer
ihn unterstütze, unterstütze den Staat Israel. Kann es eine
heiligere Pflicht geben, als den israelischen Napoleon mit einem
abgesicherten Einkommen auszustatten, damit er sich mit ganzer
Energie der Erfüllung seiner historischen Aufgabe widmen kann?
Auf seinem
langen Weg hat Sharon solche Hindernisse einfach übersprungen. Sie
brachten ihn nicht von seinem Kurs ab. Persönliche Tragödien und
politische Niederlagen haben ihn nicht einen Augenblick aufgehalten.
Die Unfälle, die seine erste Frau und seinen ältesten Sohn töteten,
seine Entlassung aus dem Amt, nachdem er von einem Unterausschuss
der „indirekten Verantwortung“ für Sabra und Shatila bezichtigt
wurde, als auch die vielen anderen Rückschläge, Fehlschläge und
Enttäuschungen, die ihm während all der Jahre widerfuhren,
schreckten ihn nicht ab. Sie lenkten ihn nicht einen Augenblick von
seinen Bemühungen ab, die höchste Macht zu erlangen.
Und nun sollte
es Wirklichkeit werden. Am Mittwoch, dem 4. Januar 2006, konnte er
sicher sein, dass er in drei Monaten der allein herrschende Führer
Israels werden würde. Er hat eine Partei geschaffen, die ihm allein
gehörte, die dabei war, nicht nur eine zentrale Position in der
nächsten Knesset einzunehmen, sondern auch alle andern Parteien in
Stücke zu reißen.
Er war
entschlossen, seine Macht zu gebrauchen, um das ganze politische
System Israels umzuwerfen und ein Präsidialsystem zu adoptieren,
das ihm eine allmächtige Position geben würde, so wie Juan Peron
auf dem Höhepunkt seiner Macht in Argentinien. Dann endlich würde er
in der Lage sein, seine historische Mission zu erfüllen, um für die
nächsten Generationen in Israel die Weichen zu stellen, so wie es
Ben Gurion vor ihm getan hatte.
Und da, gerade,
als es schien, ihn könne nichts mehr aufhalten, hat ihn mit
grausamer Plötzlichkeit sein Körper im Stich gelassen.
Was geschah,
ähnelt einem zentralen Motiv der jüdischen Mythen: das Schicksal des
Moses, den Gott für seinen Stolz strafte, indem er ihm noch
erlaubte, von weitem einen Blick auf das Gelobte Land zu werfen, ihn
aber sterben ließ, bevor er einen Fuß auf seinen Boden setzen
konnte. An der Schwelle zur absoluten Macht bekommt Ariel Sharon
einen Schlaganfall.
Während er im Krankenhaus noch um sein Leben ringt, beginnt sich schon der
Mythos von „Sharons Vermächtnis“ aufzubauen.
So wie es vielen
Führern ergangen ist, die kein schriftliches Testament hinterließen,
kann sich nun jeder einen Sharon frei auf seine Weise vorstellen.
Die Linken, die noch gestern Sharon als den Schlächter von Kibiya,
den Mörder von Sabra und Shatila verfluchten und als den Mann, der
für den Raub und das Gemetzel in den besetzten Gebieten
verantwortlich ist, begannen, ihn als den „Mann des Friedens“ zu
bewundern. Siedler, die ihn als Verräter verurteilten, erinnerten
sich daran, dass er es war, der die Siedlungen schuf und sie bis auf
den heutigen Tag erweitern ließ.
Erst gestern war
er einer von den am meisten gehassten Leuten in Israel und der Welt.
Heute, nach der Evakuierung von Gush Kativ, ist er zum Liebling der
Öffentlichkeit geworden. Die Führer der Nationen erhoben ihn zum
„großen Krieger, der ein Held des Friedens wurde“.
Jeder stimmt
darin überein, dass sich Sharon völlig verändert habe, dass er von
einem Extrem ins andere geraten sei; der sprichwörtliche Äthiopier,
der seine Hautfarbe, der Leopard, der seine Flecken veränderte.
All diese
Analysen haben eines gemeinsam: sie haben nichts mit dem wirklichen
Ariel Sharon zu tun. Sie gründen sich auf Ignoranz, Illusion und
Selbsttäuschung.
Ein Blick auf seine lange Karriere (und ich kann hinzufügen, meine eigene
Erfahrung mit ihm )
zeigt, dass er
sich nicht verändert hat. Er blieb seinem Grundkonzept treu, glich
nur seine Slogans veränderten Zeiten und Umständen an. Sein
Gesamtplan blieb das, was er von Anfang an war.
Seinem Konzept
lag ein primitiver Nationalismus des 19. Jahrhunderts zugrunde, der
besagt: unser Volk steht über allen anderen – andere Völker sind
minderwertig. Die Rechte unseres Volkes sind heilig – andere
Nationen haben überhaupt keine Rechte. Die Regeln von Ethik und
Moral gelten nur innerhalb der Nation – nicht für die Beziehungen
zwischen Nationen.
Diese
Überzeugung hat er mit der Muttermilch eingesogen. Sie herrschte in
Kfar Malal, dem genossenschaftlichen Ort, in dem er geboren wurde.
Es war die Überzeugung, wie sie zu jener Zeit auch in der ganzen
Welt herrschte. Unter Juden wurde sie besonders nach den Schrecken
des Holocaust noch stärker. Der Slogan „alle Welt ist gegen uns“ ist
tief in der nationalen Seele verankert und gilt jetzt vor allem
gegenüber den Arabern.
Aus dieser
moralischen Grundansicht baute sich das Ziel auf, den jüdischen
Staat so groß wie möglich zu bauen und ohne Nicht-Juden. Das
konnte zu dem Schluss führen, dass die ethnische Säuberung, die von
Ben-Gurion 1948 begonnen wurde, als die Hälfte der Palästinenser ihr
Heim und ihre Heimat verloren, vollendet werden müsse. Sharons
Karriere begann kurz danach, als er zum Kommandeur der
Undercover-Einheit 101 ernannt wurde, deren mörderische Aktionen
jenseits der Grenze dazu bestimmt waren, zu verhindern, dass
Flüchtlinge in ihre Dörfer zurückkehrten.
Sharon wurde
ziemlich bald davon überzeugt, dass eine zweite ethnische Säuberung
en masse jedoch in voraussehbarer Zukunft nicht möglich sei (
abgesehen von einigen nicht voraussehbaren internationalen
Geschehnissen, die die Lage im Ganzen verändern würden).
Aus Mangel an
einer solchen Möglichkeit glaubte Sharon, dass Israel alle Gebiete
ohne dichte palästinensische Bevölkerung zwischen dem Mittelmeer und
dem Jordan annektieren müsse. Schon vor Jahrzehnten bereitete er
eine Karte (den sog. Sharon-Plan*) vor, die er stolz lokalen und
ausländischen Persönlichkeiten zeigte, um sie von seinen Ansichten
zu überzeugen.
Nach dieser
Karte wird Israel die Gebiete entlang der 1967er Grenze annektieren
und das Jordantal bis zum „Rücken der Bergkette“ ( ein von Sharon
besonders beliebter Ausdruck). Er würde auch einige
West-Ost-Streifen Land annektieren, um das Jordantal mit der Grünen
Linie zu verbinden. In diesen Gebieten, die zur Annexion bestimmt
sind, schaffte Sharon ein dichtes Netz von Siedlungen. Das waren
seine Hauptbemühungen während der letzten dreißig Jahre in seinen
verschiedenen Positionen als Minister für Landwirtschaft, Minister
für Industrie und Handel, als Verteidigungsminister, als Wohnungs-
und Bauminister, als Minister für Infrastruktur und als
Ministerpräsident - und diese Arbeit geht bis zu diesem Augenblick
weiter.
Die Gebiete mit
dichter palästinensischer Bevölkerung beabsichtigte Sharon, der
palästinensischen Selbstverwaltung zu überlassen. Er war
entschlossen, alle Siedlungen aus diesen zu entfernen, die dort
unüberlegt errichtet wurden. Auf diese Weise würden acht oder neun
Enklaven entstehen, die von einander getrennt und von Siedlern und
israelischen Armee-Einrichtungen umgeben sind. Es wäre ihm
gleichgültig, ob diese „Palästinensischer Staat“ genannt würden. Die
Verwendung dieses Terminus ist ein Beispiel seiner Fähigkeit, nach
außen hin und verbal sich veränderten Situationen anzugleichen.
Der Gazastreifen
ist eine dieser Enklaven. Das ist der wirkliche Sinn der Auflösung
der Siedlungen und des Rückzuges der israelischen Armee. Es ist das
erste Stadium der Verwirklichung der Karte: das kleine Gebiet mit
einer dichten palästinensischen Bevölkerung von einer und einer
Viertel Million wurde den Palästinensern übergeben. Die israelischen
Land- See- und Luftkräfte umgeben den Streifen fast vollständig. Die
pure Existenz seiner Bewohner hängt zu allen Zeiten von der Gnade
Israels ab, das die Ein- und Ausgänge kontrolliert - außer dem
Rafah-Übergang nach Ägypten, der von Israel fernkontrolliert wird -
und die Wasser und Stromzufuhr jeden Augenblick sperren kann. Sharon
beabsichtigte, dieselbe Situation in Hebron, Ramallah, Nablus, Jenin
und anderswo zu schaffen.
Ist das
ein „Friedensplan“?
Frieden wird
zwischen Nationen gemacht, die darin übereinstimmen, eine Situation
zu schaffen, in der alle in Freiheit, Wohlergehen und gegenseitiger
Achtung leben können und glauben, dass dies für alle gut sei. Das
hatte Sharon nicht im Sinn. Als Militär kannte er nur
Waffenstillstand. Wenn ihm Frieden auf einem Silbertablett angeboten
worden wäre, hätte er ihn nicht erkannt..
Er weiß sehr
genau, dass kein palästinensischer Führer mit dieser Karte
einverstanden sein kann – weder jetzt noch später. Deshalb
beabsichtigte er nicht, irgend welche politischen Verhandlungen mit
den Palästinensern zu führen. Sein Slogan war: „Wir haben keinen
Partner.“ Er beabsichtigte, all die verschiedenen Stadien seines
Planes „einseitig“ zu realisieren, so wie er es mit Gaza tat – ohne
Dialog mit den Palästinensern, ohne Rücksicht auf ihre Forderungen
und Hoffnungen und natürlich ohne ihre Zustimmung.
Aber Sharon
wollte wirklich Frieden machen – Frieden mit den USA. Für ihn war
der amerikanische Konsens wichtig. Er wusste, dass Washington nicht
mit seinem ganzen Plan einverstanden sein konnte. Deshalb wollte er
ihr Einverständnis Schritt um Schritt holen. Da sich Präsident Bush
ihm ganz unterworfen hat und keiner weiß, wer ihm folgt, wollte
Sharon den Hauptteil seines Planes innerhalb der nächsten zwei bis
drei Jahre, vor dem Ende von Bushs Amtszeit durchgezogen haben. Das
ist der Grund seiner Eile. Er musste jetzt sofort zu absoluter
Macht kommen – nur der Schlaganfall verhinderte dies.
Der Eifer, mit
dem so viele gute Leute der Linken das „Sharon-Vermächtnis“
aufnehmen, zeigt nicht, dass sie seinen Plan verstehen, sondern eher
ihre eigene Sehnsucht nach Frieden. Sie verlangen mit all ihren
Fasern nach einem starken Führer, der den Willen und die Fähigkeit
hat, den Konflikt zu beenden.
Die
Zielstrebigkeit, mit der Sharon die Siedler aus Gush Kativ evakuiert
hat, erfüllte die Linken mit Begeisterung. Wer hätte geglaubt, dass
es einen Führer gibt, der in der Lage ist, dies ohne Bürgerkrieg,
ohne Blutvergießen auszuführen? Und wenn dies im Gazastreifen
geschehen ist, warum kann dies dann nicht auch in der West Bank
geschehen? Sharon wird die Siedler hinaustreiben und dann Frieden
machen. Und all dies, ohne dass die Linken einen Finger rühren. Der
Retter wird wie ein deus ex machina herunterspringen. Ein
hebräisches Sprichwort besagt: „Die Arbeit der Gerechten wird von
den anderen gemacht“, die womöglich alles andere als gerecht sind.
Sharon hat sich
leicht dem Verlangen der Öffentlichkeit angepasst. Er hat seinen
Plan nicht verändert, ihm aber einen neuen Anstrich gegeben, den
Geist der Zeit. Von jetzt an erschien er als „der Mann des
Friedens“. Er kümmerte sich nicht darum, welche Maske gerade zu
tragen passend war. Aber diese Maske reflektiert die tiefsten
Wünsche der Mehrheit des israelischen Volkes.
Von diesem
Gesichtspunkt aus kann das imaginäre „Sharon-Vermächtnis“ eine
positive Rolle spielen. Als er seine neue Partei gründete, nahm er
eine Menge Likudleute mit, und zwar diejenigen, die zu dem Schluss
gekommen waren, dass das Ziel, „das ganze Land Israel“ zu erlangen,
unmöglich sei. Viele von ihnen werden in der Kadima-Partei bleiben,
auch wenn Sharon die politische Bühne verlassen hat. Als Teil eines
weitergehenden, langsamen, unterirdischen Prozesses sind auch die
Likudleute bereit, die Teilung des Landes zu akzeptieren. Das ganze
System bewegt sich langsam in Richtung Frieden.
Das
„Sharon-Vermächtnis“, selbst wenn man es sich einbildet, könnte zum
Segen werden, wenn Sharon darin in seiner letzten Inkarnation
erscheint: Sharon als derjenige, der die Siedlungen auflöste; als
Sharon, der bereit war, Teile von Erez Israel aufzugeben; als
Sharon, der mit einem Palästinensischen Staat einverstanden ist.
Dies war zwar
nicht Sharons Absicht. Aber wie Sharon vielleicht selbst gesagt
haben könnte: Es sind nicht die Absichten, die von Bedeutung sind ,
sondern die realen Ergebnisse.
(Aus dem Deutschen: Ellen Rohlfs,
vom Verfasser autorisiert)
* Sharon-Plan s. Viktoria Weitz:
“Die Erde habt ihr uns genommen, 100 Jahre zionistische
Siedlungs-Politik in Palästina! 1986, S. 287 - ER)
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