Miss C.
Uri Avnery, 18.8.07
ICH STELLE Miss Calculatia vor, das zur Zeit so
beliebte Fremdwort, den neuen Star im israelischen
Diskurs.
Für hebräische Ohren klingt dies wie eine junge
Schönheit, so wie „Miss Israel“. Aber Miss-Calculatia,
die hebräische Version für „Miscalculation“
(Fehlkalkulation) ist weder jung noch schön und nicht
einmal weiblich: es ist nur ein weiteres hochtrabendes
Fremdwort, das ein gutes hebräisches Wort ersetzt.
(Im Lateinischen ist „calculus“ ein kleiner Stein.
Lange bevor die Römer von Computern träumten,
benutzten sie einen Abakus - ein antikes Rechenbrett -,
das aus kleinen Steinen zusammengesetzt war.)
Die Miskalkulation, von der hier die Rede ist, ist keine
Schönheitskönigin, sondern eine Königin der
Hässlichkeit: es geht um einen Krieg zwischen Israel und
Syrien, der jeden Moment ausbrechen kann – nicht, weil
Israel ihn will oder die Syrer, sondern weil eine Seite
einen provokativen Akt falsch einschätzen wird, der dann
wiederum die andere Seite in den Krieg treibt.
Wie alle Kriege wird er eine Kampagne des Todes und der
Zerstörung sein, verbunden mit Trauer und Flucht, mit
Leid und Not auf beiden Seiten. Und keiner kann
voraussehen, wie das enden mag.
FAST JEDEN Tag erklären der Ministerpräsident, der
Verteidigungsminister und ihre Trabanten, Israel sei an
keinem Krieg interessiert. Überhaupt nicht. Gott
bewahre!
Es erinnert einen fast an Hamlets Kommentar über seine
treulose Mutter: „Die Dame protestiert zu viel, dünkt
mich.“ Besonders weil Ehud Barak seine
Friedensbekenntnisse ablegt, während er auf den
besetzten Golanhöhen steht - mit dem Hintergrund
lärmender Panzer, die bei einem kriegsähnlichen
Manöver vorrücken..
Die israelischen Chefs der militärischen
Nachrichtendienste berichten, dass nach ihrer
Einschätzung Syrien keinen Krieg beabsichtigt. Ihrer
Meinung nach würde ein Krieg zu diesem Zeitpunkt keinen
syrischen Interessen dienen.
Um die Runde voll zu machen, erklärte auch Hassan
Nasrallah in dieser Woche bei einer Massen-Rallye in
Beirut, die Hisbollah wünsche ebenfalls keinen Krieg.
Von „unten“ kommt auch keinerlei Druck für einen Krieg.
Die israelische Öffentlichkeit fürchtet sich davor – und
die syrische anscheinend genau so.
Woher kommt dann also das tägliche Gerede über einen
Krieg? Wenn ihn keiner wünscht, warum wird dann soviel
über ihn geredet? Warum berichten die Medien in Israel
und in aller Welt von „Spannungen an der Nordgrenze
Israels“? Warum führt die israelische Armee hektische
Manöver auf dem Golan durch? Warum gibt es Berichte
über hastige Waffenkäufe der syrischen Armee und über
hektische Baumaßnahmen, die sich auf Befestigungen
gegen Israel beziehen? Warum bietet die türkische
Regierung dringende Vermittlung zwischen Israel und
Syrien an?
Das ist alles sehr mysteriös.
Es scheint, die Lösung dieses Rätsels könne weder in
Jerusalem noch in Damaskus gefunden werden – sondern in
Washington..
Wenn Ehud Olmert sich weigert, auf Bashar al-Assad
Serenaden zu reagieren, deutet er an, dass Präsident
Bush jeden Kontakt mit den Syrern verbietet. Im
vergangenen Jahr stieß Amerika Israel in den
Libanonkrieg, es blockierte einen frühen
Waffenstillstand und anscheinend war es daran
interessiert, den Krieg nach Syrien hin auszudehnen.
Syrien gehört natürlich zur „Achse des Bösen“, die in
Bushs Gehirn besteht. Seine arabischen Verbündeten sagen
ihm vergeblich, dies sei ein Fehler: das sunnitische
Syrien sei kein natürlicher Verbündeter der iranischen
Schiiten. Es brauche sie nur, weil die USA es isoliere.
Damaskus benützt die schiitische Hisbollah nur, um
Druck auf Beirut und Jerusalem auszuüben, erklären sie.
Es sollte im Interesse der USA sein, zwischen Israel und
Syrien Frieden zu schaffen, um Syrien aus der iranischen
Umarmung zu befreien. Aber Bush hört nicht auf sie.
Vielleicht stößt er Olmert in einen Krieg mit Syrien, um
die Aufmerksamkeit von seinem irakischen Debakel
abzulenken, das von Tag zu Tag schlimmer wird.
Vielleicht ist er auch nur an künstlichen Spannungen
interessiert, um das Assad-Regime zu Fall zu bringen.
Hauptsache ist, eine weitere arabische Demokratie zu
errichten wie Ägypten, Jordanien und Saudi Arabien.
Die Frage ist: Warum beteiligt sich Israel an diesem
Spiel.?
DIE ZENTRALE Figur in diesem Spiel ist Ehud Barak. Seine
Verbindung mit Syrien hat nicht erst gestern begonnen.
Vor acht Jahren, während seiner kurzen und
katastrophalen Amtszeit als Ministerpräsident, spielte
er mit der Idee, mit Syrien Frieden zu machen. Er
verhandelte mit Hafez al-Assad und – welche
Überraschung! – die beiden Parteien kamen an die
Schwelle eines historischen Friedensabkommens. Die
Golanhöhen wären zurückgegeben worden, die Siedler
umgesiedelt, ein weiteres wichtiges arabisches Land
hätte mit Israel in Frieden gelebt.
Und dann fiel alles wie ein Kartenhaus in sich zusammen.
Der Vorwand war, dass der alte Assad unbedingt seine
langen Füße ins Wasser des Genezarethsees tauchen
wollte, statt ein paar hundert Meter davon entfernt zu
bleiben. Doch der wirkliche Grund lag in den Füßen
Baraks: er bekam nämlich kalte Füße. Er sprang im
letzten Augenblick ab und begann mit dem
unverantwortlichen Abenteuer von Camp David.
Ich nannte ihn damals einen „Friedensverbrecher“ – einen
politischen Serientäter gegen den Frieden. Nachdem Camp
David misslang – wegen seiner unbändigen Arroganz und
seiner tiefen Verachtung gegenüber den Arabern. Er
erfand das Mantra: „Wir haben keinen Partner“. Natürlich
war nicht er es, der versagte. Es war auch nicht die
Konferenz, die er initiiert, aber auch nicht
entsprechend vorbereitet hatte.
Nein. Es war der Partner, der versagte. Mit den
Palästinensern kann es keinen Frieden geben, so wie man
auch mit den Syrern keinen Frieden machen kann. Wie die
unsterbliche Redensart des Ultra-ultra-rechten Yitzhak
Shamir: „Das Meer bleibt dasselbe Meer, und die Araber
bleiben dieselben Araber.“
„Wir haben keinen Partner.“ Dieses Mantra zerstörte die
israelische Friedensbewegung und verursachte Schaden,
der anscheinend kaum mehr zu reparieren ist.
EHUD OLMERT hält Barak aus dem Spiel fern, das er mit
Mahmoud Abbas spielt. Warum einem Konkurrenten ein
Geschenk machen? Aus Rache wischt Barak die Idee vom
Frieden mit den Palästinensern mit einer Handbewegung
vom Tisch. Er verkündet, dass die Idee vom Frieden ein
Blindgänger sei, weil ein palästinensischer Staat Israel
mit Raketen überschütten würde. Was heute Sderot
geschieht, würde morgen dem Ben-Gurion-Flughafen
passieren, der nur wenige Kilometer von der Grünen Linie
entfernt liegt.
Das heißt, dass Frieden nur dann gemacht werden kann,
wenn Israel ein Waffensystem hat, das absoluten Schutz
gegen Kurzstreckenraketen bietet. Und wann geschieht
das? In ein paar Jahren. ( Aber bis dahin haben die
Palästinenser wahrscheinlich ihre Raketen weiter
entwickelt, und wir brauchen ein noch höher
entwickeltes Verteidigungssystem).
Frieden in drei Jahren oder in dreißig oder in 300
Jahren?
VORLÄUFIG SPIELT Olmert sein Spiel weiter. Fast jeden
Tag gibt es einen neuen farbigen Ballon:
Friedensvorschläge, „Prinzipien“ für einen Frieden, der
in irgend einer unbestimmten Zeit kommen wird, ein
theoretisches „Friedensabkommen“. All diese Pläne haben
eines gemeinsam: sie haben mit der Realität nichts zu
tun – weder hier noch jetzt. Sie gehören in eine rosige
Zukunft, während sehr schlimme Dinge vor Ort geschehen.
Es ist wieder Präsident Bush, der Olmert in diese
Richtung drängt. So sehr er Spannungen zwischen Israel
und Syrien wünscht, so sehr wünscht er auch positive
Nachrichten über seine Vision eines „Friedensprozess“
zwischen Israel und den Palästinensern. Lasst sie einen
virtuellen „Friedensprozesses“ in den Raum stellen und
über ein Dokument für die Zeit der Wiederkunft des
Messias diskutieren, lasst sie einander anlächeln und
umarmen. Dies belegt, dass Bush schließlich gewinnt:
seine Vision von Frieden ist im Anmarsch. Das ist gut
für Bush, gut für Olmert und gut für Abbas.
Für wen ist es nicht gut? Für die Palästinenser, die
unter dem Joch der Besatzung zusammenbrechen. Die Not im
Gazastreifen wird von Tag zu Tag größer – gemäß dem
Plan, der einen totalen Zusammenbruch, Anarchie und den
Fall der Hamas vorsieht. Die Situation in der Westbank
ist nicht viel besser. Die Straßensperren bleiben , wo
sie sind, auch die Siedlungen und Außenposten. Das
Straßennetz „nur für Israelis“ dehnt sich weiter aus,
der Mauerbau ist in vollem Schwange.
Das Schwerwiegendste der Situation in den besetzten
Gebieten unter Olmert und Barak ist das tägliche Töten.
Es vergeht fast kein Tag ohne erneute Brutalität. Ein
Schüler wurde überfahren; seine Verletzungen waren
schwer; er wurde an einer Straßenkontrollstelle über
eine Stunde lang festgehalten, bis er dort starb. Die
Armee veröffentlicht ein lakonisches Statement: er war
auf der Liste derer, denen es“ verboten ist, Israel zu
betreten“. Fünf Soldaten greifen sich einen
Jugendlichen, der an einer Bushaltestelle auf einen Bus
wartet und prügeln ihn zu Tode. Eine kranke Frau kommt
an eine Straßensperre und wird dort ohne ersichtlichen
Grund aufgehalten, bis sie stirbt.
Solche Geschichten sind zur Routine geworden und
verursachen keine Wellen der Aufregung mehr. Zwei oder
drei Journalisten regen sich noch darüber auf und
berichten – die übrigen ignorieren dies. Die Gefühle
sind abgestumpft. Es sind einfach keine Neuigkeiten
mehr.
MAN MÖCHTE eigentlich erwarten, dass jemand über die
inhaltslosen Spiele des „Friedenprozesses“ wütend wird.
Jede denkende Person weiß doch, dass Abbas von der
Hamas aus der Westbank vertrieben werden wird ( wie es
schon im Gazastreifen geschah), wenn er politisch
nichts erreicht – und dies sollte den Israelis doch
Angst einjagen.
Die Israelis ängstigen sich aber nicht. Die Hamas wird
die Westbank übernehmen? Na und?
Die-Araber-sind-doch-alle-gleich.
Syrien hat Raketen, die jeden Ort in Israel erreichen –
einschließlich Tel Avivs, einschließlich Dimonas. Ein
Krieg mit Syrien wird kein fröhlicher Ausritt sein.
Na und? Die Leute regen sich nicht auf. Barak sagt, es
gebe keinen Krieg, aber dass es vielleicht doch Krieg
gibt. Aber das würde dann nur eine geringfügige
Mis-calculatia - eine Fehlkalkulation - sein.
(Aus dem Englischen:
Ellen Rohlfs und Christoph Glanz, vom Verfasser
autorisiert).