Kalte Rache
Uri Avnery, 8. Dezember 2012
„RACHE IST ein Menü, das man am besten kalt zu sich
nimmt,“ sagt eine Redensart, die Stalin zugeschrieben wird. Ich weiß
wirklich nicht, ob er es so gesagt hat. Alle möglichen Zeugen wurden
schon vor langer Zeit exekutiert.
Auf jeden Fall ist verzögerte Rache kein israelischer
Zug. Israelis sind impulsiver, unmittelbarer. Sie planen nicht. Sie
improvisieren.
Auch in dieser Hinsicht ist Avigdor Lieberman kein
Israeli. Er ist Russe.
ALS „EVET“, wie er auf russisch genannt wird, vor
vier Jahren seine Knessetfraktion auswählte, handelte er wie immer
aus dem Bauch heraus. Keinen Unsinn über Demokratie, Vorwahlen oder
Ähnliches. Es gibt einen Führer, und der Führer entscheidet.
Da gab es diese wunderschöne, junge Frau aus
Petersburg, Anastasia Michaeli. Nicht sehr
intelligent, vielleicht, aber während langweiliger
Knessetsitzungen gut zum Ansehen.
Dann gab es noch diesen netten Mann mit einem sehr
russischen Namen, Stas Misezhnikov, den kein Israeli aussprechen
kann. Er ist unter den russischen Immigranten sehr bekannt.
Los, nehmen wir ihn also!
Und dieser israelische Diplomat, Danny Ayalon, könnte
nützlich sein, wenn ich Außenminister werde.
Aber Stimmungen vergehen, und gewählte Leute bleiben
vier Jahre lang gewählt.
Die Schönheit entpuppte sich als Rabauke, außerdem
ist sie dumm. Bei einem öffentlichen Treffen eines Knessetkomitees
stand sie auf und goss ein Glas Wasser über ein arabisches Mitglied.
Bei einer anderen Gelegenheit griff sie ein weibliches arabisches
Mitglied auf der Knessetbühne körperlich an.
Der nette Russe war eher zu nett. Er war regelmäßig
betrunken und organisierte Partys für seine Geliebte im Ausland,
wobei die Unkosten von seinem Ministerium bezahlt wurden. Selbst
seine Leibwächter beschwerten sich, dass er von Zeit zu Zeit
verschwindet.
Und der Diplomat übertrumpfte alle, als er
Journalisten einlud, um Zeugen seiner Demütigung des türkischen
Botschafters zu sein, den er während eines offiziellen Gespräches
auf einen sehr niedrigen Sitz sich setzen ließ. Dies führte weiter
zu dem berühmt-berüchtigten Vorfall mit der türkischen Flotilla und
fügte - und fügt auch noch - israelischen strategischen Interessen
unermesslichen Schaden zu. Außerdem musste er zwanghaft Geheimnisse
preisgeben.
Auf all dies reagierte Lieberman nicht. Er
verteidigte seine Leute und kritisierte ihre Kritiker, die ja
sowieso linkes Gesindel waren.
Aber jetzt ist die Zeit gekommen, um Liebermans
Fraktion zur nächsten Knesset zu ernennen, natürlich ohne den
demokratischen Unsinn. Zu ihrer äußersten Bestürzung wurden diese
drei oben Genannten innerhalb fünf Minuten entlassen. Alles, ohne
dass Lieberman Gefühle zeigte. Ganz kalt.
Gib dich mit Lieberman und seinesgleichen nicht ab!
Genau so wenig wie mit Vladimir Putin und Co.
WENN ICH Binjamin Netanjahu wäre, würde ich keine
Angst haben vor Abbas, Ahmadinejad, Obama, Mursi und vor der
kombinierten Opposition in der Knesset. Wovor ich Angst haben würde,
wäre Lieberman, irgendwo hinter meinem Rücken. Ich würde sehr viel
Angst haben jede Minute, ja, jede Sekunde.
Vor zwei Wochen geschahen zwei verhängnisvolle Dinge,
die das politische Ende von „König Bibi“ sein könnten. Das eine war
nicht sein Werk – das andere ja.
Bei den Likud-Vorwahlen, bei denen hässliche
Geschäftemacherei und Manipulationen herrschten, wurde eine neue
Knessetfraktion zusammengestellt, die fast nur aus extremen Rechten,
einschließlich totaler Faschisten besteht, viele von ihnen sind
Siedler und die von ihnen Ernannten. Gegen Netanjahus Wünsche wurden
alle moderaten Rechtsorientierten unfeierlich rausgeschmissen.
Natürlich ist Netanjahu selbst ein extremer Rechter.
Aber er liebt es, sich als moderaten, verantwortlichen, reifen
Staatsmann darzustellen. Die Moderaten dienten ihm als Alibi.
Der neue Likud hat nichts mit der ursprünglichen
„revisionistischen“ Partei zu tun, die ihr Vorgänger war. Der
Gründer der Partei war vor 85 Jahren Vladimir (Se’ev) Jabotinsky,
ein in Odessa geborener und in Italien ausgebildeter Journalist und
Poet war. Er war ein extremer Nationalist und ein sehr liberaler
Demokrat. Er erfand ein spezielles hebräisches Wort („Hadar“) für
den idealen Juden, der ihm als Vision vorschwebte: gerecht, ehrlich,
zurückhaltend, ein harter Kämpfer für seine Ideale, aber auch
großherzig und großzügig gegenüber seinen Feinden.
Wenn Jabotinsky seine letzten Erben sehen könnte,
wäre er entsetzt. (Er riet einmal Menachem Begin, einem seiner
Schüler, in die Weichsel zu springen, wenn er nicht an das Gewissen
der Menschheit glauben würde.)
KURZ VOR den Likud-Vorwahlen tat Netanjahu etwas
Unglaubliches: Er kam mit Lieberman überein, ihre beiden Wahllisten
zu vereinigen.
Warum dies? Sein Wahlsieg schien ohne dies sicher zu
sein. Aber Netanjahu ist ein neurotischer Taktiker ohne Strategie.
Er ist auch ein Feigling. Er möchte auf Nummer sicher gehen. Mit
Lieberman ist seine Mehrheit so sicher wie eine Festung.
Aber was geht innerhalb der Festung vor sich?
Lieberman, jetzt die Nummer zwei, wird für sich
selbst das bedeutendste und mächtigste Ministerium, das der
Verteidigung, herauspicken. Er wird geduldig warten, wie der Jäger
auf seine Beute. Die vereinte Fraktion wird im Geist viel enger mit
Lieberman verbunden sein als mit Netanjahu. Lieberman, der kalte
Rechner, wird warten, bis Netanjahu durch internationalen Druck
gezwungen wird, gegenüber den Palästinensern, einige Konzessionen zu
machen. Dann wird er zuschlagen.
In dieser Woche sahen wir das Vorspiel. Nachdem die
UN in überwältigender Weise Palästina als einen Staat (mit
Beobachterstatus) anerkannt hat, „rächte“ sich Netanjahu, indem er
seinen Plan verkündigte, 3000 neue Wohneinheiten in den besetzten
palästinensischen Gebieten zu bauen, einschließlich Ostjerusalem,
der zwangsläufig zukünftigen Hauptstadt Palästinas.
Er betonte seine Entscheidung, das E-1-Gebiet
aufzufüllen, den noch immer leeren Raum zwischen West-Jerusalem und
der riesigen Siedlung Maaleh Adumim (die allein ein Gemeindegebiet
hat, das größer als das von Tel Aviv ist). Dies würde dann
tatsächlich den nördlichen Teil der Westbank vom südlichen Teil
abschneiden, abgesehen von einem engen Flaschenhals bei Jericho.
Die Reaktion der Welt war stärker, als je zuvor.
Zweifellos hat Präsident Obama im Geheimen die europäischen Länder
ermutigt, Liebermans Botschafter zusammenzurufen, um gegen diesen
Schritt zu protestieren. (Obama selbst ist zu feige, um dies selbst
zu tun.) Angela Merkel, gewöhnlich eine Matte unter Netanjahus
Füßen, warnte ihn, Israel riskiere, total isoliert zu werden.
Falls Merkel denkt, dies würde Netanjahu oder die
Israelis allgemein einschüchtern, dann hat sie sich sehr geirrt.
Die Israelis freuen sich tatsächlich über die Isolierung. Nicht,
weil dies herrlich wäre, sondern weil es wieder einmal bestätigt,
die ganze Welt sei antisemitisch und man ihr nicht trauen könne.
Also zur Hölle mit ihr!
WAS IST mit den anderen Parteien? Beinahe frage ich:
was für Parteien?
In der israelischen Politik mit ihren Dutzenden von
Parteien, sind es nur zwei Blöcke, die zählen: die rechts-religiöse
und die … andere.
Es gibt keinen „linken“ Block in Israel. Keiner wagt
es, sich so zu bezeichnen. Stattdessen behauptet jeder jetzt, „im
Zentrum“ zu sein.
Eine anscheinend kleine Sache weckte in dieser Woche
viel Aufmerksamkeit. Shelly Yachimovichs Laborpartei hat ihr
langjähriges Stimmen-Abkommen mit Meretz beendet und machte ein
neues mit Yair Lapid’s Partei „ Es gibt eine Zukunft“.
Im israelischen Wahlsystem, das streng proportional
ist, wird sorgfältig darauf geachtet, dass keine Stimme verloren
geht. Deshalb können zwei Wahllisten im Voraus einen Deal machen,
der ihre nach der Sitzverteilung übrig gebliebenen Stimmen
kombiniert, so dass einer von ihnen, noch einen Sitz erhält. In
gewissen Situationen kann dieser zusätzliche Sitz bei der
endgültigen Sitzaufteilung zwischen beiden Blöcken entscheidend
sein.
Labor und Meretz hatten eine natürliche Verbindung.
Beide waren Sozialisten. Man konnte für Labor stimmen und doch
zufrieden sein, seine Stimme ende damit, sie helfe einem anderen
Meretz-Mitglied, gewählt zu werden – und umgekehrt. Das Verdrängen
einer Partei mit einer anderen hat Bedeutung – vor allem, wenn die
andere eine hohle Liste ist, ohne ernsthafte Ideen, die sich
Netanjahus Regierung anschließen will.
Diese Partei, die nichts weiter außer dem
persönlichen Charme von Lapid vertritt, kann etwa acht Sitze
gewinnen. Dasselbe gilt für Zipi Livnis brandneue „
Bewegungs“-Partei, die im letzten Augenblick zusammengeschustert
wurde.
Meretz ist eine loyale alte Partei, die alles beim
richtigen Namen nennt, unbescholten von Korruption. Leider hat sie
das langweilige Aussehen eines alten Topfes. Keine reizvollen,
neuen Gesichter in einer Zeit, wo Gesichter mehr zählen als Ideen.
Die Kommunisten (Hadash) werden als „arabische“
Partei angesehen, obwohl sie einen jüdischen Kandidaten hat. Wie die
anderen beiden „arabischen“ Parteien hat sie wenig Schlagkraft, vor
allem, weil die Hälfte der arabischen Bürger überhaupt nicht mehr
wählt – aus Gleichgültigkeit oder Empörung.
Und da ist also noch Labor. Yachimovitch ist es
gelungen, ihrer halbtoten Partei neues Leben einzuflößen. Frische
neue Gesichter beleben die Wahlliste, obwohl einige der Kandidaten
kaum mit einander reden. (Nummer zwei ist im letzten Augenblick
ausgeschieden).
Aber ist dies die neue Opposition? Nicht, wenn es
sich um so kleine Dinge wie um Frieden handelt (ein Wort, das nicht
erwähnt wird), um das riesige Militärbudget (dasselbe), um die
Besatzung, um die Siedler (Shelly liebt sie),um die Orthodoxen (Shelly
liebt auch diese). Unter Druck gibt sie zu, sie sei für die
Zwei-Staaten-Lösung, aber im heutigen Israel bedeutet dies so gut
wie nichts. Viel wichtiger ist, dass sie sich kategorisch weigert,
sich zu verpflichten, sich der Netanjahu-Lieberman-Koalition
anzuschließen.
Es könnte sich sehr wohl herausstellen, dass der
Sieger der Wahlen, die heute in sechs Wochen stattfinden, Avigdor
Lieberman sein wird, der Mann der kalten Rache.
Und das würde der Beginn eines ganz und gar neuen
Kapitels der israelischen Geschichte sein.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs,
vom Verfasser autorisiert)