Saure Gurken
Uri Avnery, 28.
Oktober 2017
HALLELUJA! ENDLICH
fand ich einen Punkt, bei dem ich mit Benjamin Netanjahu
übereinstimme. Wirklich!
An diesem Montag
versammelte sich die Knesset nach einer langen (aber leider zu
kurzen) Pause für seine Wintersitzung. Bei solchen Gelegenheiten
werden der Staatspräsident und der Ministerpräsident aufgefordert zu
sprechen. Die Reden werden vermutlich festlich sein, voll frommer
Platituden. In ein Ohr ein, im anderen raus.
Doch diesmal
nicht.
Neben dem
Knesset-Sprecher saß Reuven Rivlin, der Präsident von Israel. Er
hielt eine Rede, die in jeder Hinsicht beispiellos war. Er griff die
von Likud beherrschte Regierungskoalition an und klagte sie an, die
Herrschaft des Gesetzes, den Staatsanwalt und die Polizei zu
unterminieren.
Der Präsident ist
kein Linker – auf keinen Fall. Er gehört der nationalen Rechten an.
Seine Ideologie ist die „des ganzen Erez Israel“. Er ist ein
Mitglied der Likud-Partei.
Um ihn zu
verstehen, muss man zu Vladimir Jabotinsky zurückgehen, der in den
1920er Jahren die revisionistische Partei gegründet hat, eine
Vorgängerin der zionistischen Rechten. Jabotinsky wurde im
zaristischen Odessa geboren und dort aufgezogen; er studierte aber
in Italien, als das Risorgimento noch jedem frisch in Erinnerung
war. Dieses war eine ungewöhnliche Mischung von extremem
Nationalismus und extremem Liberalismus und Jabotinsky nahm dies für
sich an.
Das Portrait von
Jabotinsky hängt in jedem Likud-Büro, doch seine Lehren sind seit
langem von der gegenwärtigen Likud Mitgliederschaft vergessen
worden, abgesehen von ein paar Oldtimers, wie Rivlin, der 78 Jahre
alt ist. Er wurde 1939 geboren. Er gehörte einer speziellen Gruppe
von Leuten an: den Nachfahren europäischer Juden, die lange bevor
die zionistischen Bewegung gegründet wurde, nach Palästina kamen.
Sein Vater war ein Spezialist der arabischen Kultur.
Rivlin ist einer
der nettesten Leute, die ich kenne. Jeder mag ihn. Jeder, abgesehen
von Netanjahu, der mit seltener Voraussicht gegen seine Nominierung
war.
NETANJAHU HÖRTE
sich Rivlins Rede mit eiskalter Miene an. Dann erhob er sich und
hielt seine Rede - eine Rede, die schon lange vor der Sitzung
vorbereitet war, die aber klang, als hätte Rivlin sie gehört, bevor
er seine eigene Rede vorbereitete.
Der
Ministerpräsident griff das Oberste Gericht, den Staatsanwalt, den
Chef der Polizei, die Medien und die Linke an, als ob sich all
diese im Geheimen getroffen hätten, um seine Absetzung
vorzubereiten. Dies war ganz ungewöhnlich, da der Staatsanwalt und
der Polizeichef seine eigene persönliche Wahl waren. Nach ihm hätten
diese ein Komplott ausgeheggt, um ihn in einem anti-demokratischen
Komplott abzusetzen, einem Putsch durch polizeiliche Ermittler und
Strafverfolger. Die häufigen Lecks dieser Untersuchungen, die
weithin in den Medien veröffentlicht wurden, waren - nach Netanjahu
–Teile des Komplotts.
Tatsächlich war die
Öffentlichkeit über die Untersuchungen gut informiert worden. Eine
von ihnen betraf die teuren Geschenke, die Netanjahu von
Multi-Millionären vermacht wurden, obwohl er selbst schon sehr reich
ist. Die Geschenke schlossen sehr teure Zigarren ein und deshalb
wurde dieser Bestechungsfall „der Zigarren-Fall“ genannt
Dieselben und
andere Millionäre vermachten auch Sarah, Netanjahus sehr
unbeliebter Frau auch teure Geschenke. Unter diesen war rosa
Champagner und deshalb wurde er der „rosa-Champagner-Fall“ genannt.
Doch dies sind
Bagatellen, verglichen mit einer schwarzen Wolke, die sich Netanjahu
nähert und „U-Boot-Fall“ genannt wird. Er betrifft den Erwerb von
U-Booten und Korvetten von einer deutschen Werft. Seitdem deutsche
Waffen-Produzenten dafür bekannt sind, riesige Summen
Bestechungsgelder den Chefs rückständiger Länder zu zahlen, war
wirklich keiner über Gerüchte überrascht, dass viele Zehnmillionen
Euros an israelische Politiker, Admiräle und Vermittler gezahlt
wurden. Aber wo stoppten die Euros? Bevor sie die Spitze erreichten?
DIE REAKTION
Netanjahus sprach lauter als die Gerüchte. Sie hat seine Manie über
die iranische Atombombe, die schreckliche Gefahr der Hisbollah und
sogar die verräterische israelische Linke ersetzt. Sie scheinen
seine Hauptbeschäftigung zu sein.
Um der Kabale ein
Ende zu setzen: Netanjahu und seine Lakaien kamen auf eine einfache
Lösung: das „französische Gesetz“ anzunehmen. Dies ist jetzt die
Hauptbeschäftigung der israelischen Regierung und der Likud-Partei
zum Nachteil von allem anderen. Es sagt einfach, dass keine
Strafverfolgung oder Anklage gegen einen noch „im Amt befindlichen
Ministerpräsidenten“ ausgeführt werden darf.
Wie es aussieht,
gibt es einigen Sinn darin. Unser Ministerpräsident muss die
Angelegenheiten des Staates regeln, den nächsten Krieg planen (es
gibt immer einen nächsten Krieg) und das wirtschaftliche Wachstum
fördern – alles Funktionen, die darunter leiden, wenn er mit
Dutzenden von Straffällen beschäftigt ist. Beim zweiten Gedanken
bedeutet es, dass ein Krimineller im höchsten Amt sitzt und dass der
Ministerpräsident – er und kein anderer im Land - von einer
Strafverfolgung ausgeschlossen wird.
Stimmt, nach diesem
Gesetz werden die Strafverfolgungen nur solange ausgesetzt, bis der
Ministerpräsident wieder ein normaler Bürger wird. Aber Netanjahu
ist in seiner vierten Vier-Jahres-Amtszeit und alles deutet
daraufhin, dass er beabsichtigt, noch eine 5.,6. Und 7. Amtszeit zu
erleben, falls Gott – er möge gesegnet sein - sein Leben
entsprechend verlängert.
Kein anderer Führer
in der demokratischen Welt erfreut sich solch eines Privilegs,
außer einem: der französische Präsident. Es wird das „französische
Gesetz“ genannt - doch da gibt es riesige Unterschiede. Das
französische Gesetz schützt den Präsident vor Strafverfolgung,
während er im Amt ist, aber nicht den Ministerpräsidenten. Und da
ist noch ein sehr großer Unterschied: die Amtszeit des
französischen Präsidenten beträgt nur zwei Amtszeiten von 5 Jahren
- so dass die Verschiebung zeitlich nicht zu lange ist.
Zu diesem Zeitpunkt
wird die ganze Regierungsmaschinerie in Bewegung gesetzt, um diese
juristische Abscheulichkeit in ein Gesetz zu verwandeln.
Einige der Partner
der Likud-Koalition sperren sich dagegen. Diese Koalition besteht
aus vielen Parteien – sechs, wenn ich richtig zähle - und wenn
sich eine davon der Stimme enthält, mag es unruhig werden. Im
Augenblick haben zwei verkündet, dass sie ihren Mitgliedern „freie
Hand“ geben werden.
Erzürnt droht
Netanjahus Koalitionschef, die Regierung aufzulösen und neue Wahlen
zu erklären – eine ernste Drohung für alle Koalitionspartner, die
einem Verlust gegenüberstehen.
In der Likud Partei
selbst gibt es keine einzige Meinungsverschiedenheit, keinen
einzigen tapferen Rebellen wie die beiden republikanischen Senatoren
in Amerika, die sich in dieser Woche Präsident Trump widersetzten.
Doch Präsident
Rivlin verurteilte das vorgeschlagene Gesetz auf strengste Weise,
und der Staatsanwalt nannte es „absurd“.
WO ALSO
stimme ich mit Netanjahu überein? An einem Punkt: er griff die Linke
an, die eine „Depressions-Anlage“ besitzt, die nur eine saure
Stimmung erzeugt.
Im Hebräischen gibt
es einen Ausdruck für saure Lebensmittel, wie z.B. saure Gurken. Es
mag mit „Saurem“ übersetzt werden. Netanjahu sagte, dass die Linke
eine saure öffentliche Stimmung erzeugt, um ihn zu stürzen.
Einige Leser mögen
sich daran erinnern, dass ich die Linke derselben Krankheit
angeklagt habe, wenn auch aus einem anderen Blickwinkel. Es gibt
innerhalb großer Strecken des israelischen Friedenslagers einen
Gemütszustand der Depression, einen Gemütszustand der Verzweiflung,
tatsächlich einen sauren Gemütszustand.
Dieser Zustand
führt zu dem Eindruck, dass wir nichts tun können, um unsern Staat
zu retten, der von Netanjahu und seinen Lakaien in die Katastrophe
geführt wird. Ein eher bequemer Gemütszustand, da er bedeutet, dass
wir nichts tun können und wir nichts riskieren müssen, weil die
Schlacht sowieso verloren ist.
Einige ziehen die
Schlussfolgerung, dass die Schlacht anderswo ausgefochten werden
muss, bei weitem nicht hier, wie zum Beispiel der Aufruf der BDS, um
alles Israelische zu boykottieren. In diesen Tagen hat diese
Schlacht absurde Höhen erreicht, als eine US-Stadt, die tödlich vom
schweren Hurrikan getroffen wurde, verkündigte, dass die Bürger nur
dann eine Wiedergutmachung erhalten werden, wenn sie sich
verpflichten, sich nicht am Boykott gegen Israel zu beteiligen.
Tatsächlich, ein Land der unbegrenzten Absurditäten.
(Übrigens
veröffentlichte Haaretz in dieser Woche, dass unsere Regierung eine
juristische Firma der USA angeheuert habe, um gegen BDS zu kämpfen.)
EINE SAURE
Gemütsstimmung weckt keine Kämpfer. Ein glückliches Gemüt schafft
Kämpfer. Wenn die Situation schlecht ist, wenn sie hoffnungslos
aussieht, kann ein Haufen glücklicher Kämpfer den Ausgang der
Schlacht ändern.
Es gibt keinen
Grund zu verzweifeln. Geschichte wird nicht von Gott geschaffen. Wir
sind es, die sie schaffen.
Wenn man vom
französischen Präsidenten spricht – erinnern wir uns daran, dass
Emmanuel Macron aus dem Nirgendwo erschien, eine neue Partei
gründete und beim ersten Versuch eine absolute Mehrheit errang. Wenn
die Franzosen dies können, können wir das auch.
Verzweiflung,
Depression, das ist alles Luxus, den wir uns nicht leisten können.
Wir müssen mit Hoffnung und Selbstvertrauen wieder zur Schlacht
zurückkehren.
Wie Obama sagte:
Ja, wir können.
Lasst uns guten
Mutes sei. Lasst uns die Schlacht wieder fröhlich beginnen.
Der oben erwähnte
Jabotinsky schrieb eine historische Novelle über den biblischen Held
Simson. Kurz bevor er den Tempel der Philister über sich zum
Einsturz brachte, vermachte er seinem Volk ein Testament mit drei
Forderungen: wählt einen König, sammelt Eisen und - lacht!
(dt. Ellen Rohlfs,
vom Verfasser autorisiert)