Ein Bürgerkrieg?
Uri Avnery - 3.August 2013
ZUR ZEIT ist es üblich, zu sagen: „Die Zwei Staaten-Lösung ist
tot“, oder: „Die Zeit für eine Zwei-Staaten-Lösung läuft aus.“
Warum tot? Wie tot? Das gehört zu Dingen, die keine Beweise
erfordern. Die Erklärung genügt.
Bedrängt man jedoch diejenigen, die nicht um die
Zwei-Staaten-Lösung trauern, geben sie als Begründung an: „Es
gibt zu viele Siedler in der Westbank und Ost- Jerusalem. Man
kann sie nicht umsiedeln. Das ist einfach zu problematisch.“
Ist es das?
ZWEI BEISPIELE werden angeführt: die Beseitigung der Siedlungen
im Norden des Sinai nach der Unterzeichnung des
Friedensvertrages mit Ägypten durch Menachem Begin und die
Räumung der Siedlungen im Gazastreifen auf Befehl von Ariel
Sharon.
Wie entsetzlich war das! Erinnern Sie sich noch an die
herzzereißenden Szenen im Fernsehen, die weinenden Soldatinnen,
die die Siedlermädchen fortgetragen haben, an die
Auschwitz-Pyjamas mit dem gelben Stern, mit denen die Siedler
bekleidet waren, an das Stürmen der Hausdächer, an die Rabbis
mit ihren Torarollen, die in den Synagogen unisono weinten
All das nur wegen einer Handvoll Siedlungen. Was geschieht wohl,
wenn eine halbe Million Menschen umgesiedelt werden müssen?
Entsetzlich! Undenkbar!
Nonsens.
In
Wirklichkeit war der Abtransport der Siedler aus dem
Gazastreifen nichts als eine gut inszenierte Tragikomödie.
Niemand wurde dabei getötet.
Niemand wurde ernsthaft verletzt. Niemand hat Selbstmord
begangen. Nachdem sie ihre zugeteilten Rollen gespielt hatten,
sind alle Siedler abgezogen. Lediglich eine Handvoll Soldaten
und Polizeibeamter haben sich den Befehlen widersetzt. Alle
Anderen haben die Befehle der demokratisch gewählten Regierung
ausgeführt.
Wird das Gleiche nochmals geschehen? Nicht unbedingt.
Westbank-Siedler von den Bergkuppen im Herzen des biblischen
Israels zu entfernen, ist etwas Anderes.
Lassen Sie uns das näher beleuchten.
BEI DER ERSTEN Planungsphase ist das Problem zu analysieren. Wer
sind die Siedler, die umgesiedelt werden müssen?
Nun, vor allem bilden sie keine homogene monolithische Kraft.
Wenn man von „den Siedlern“ spricht, hat man eine Masse
halbbesessener religiöser Fanatiker vor Augen, die jeden Moment
den Messias erwarten und bereit sind, jeden zu erschießen, der
sich ihnen nähert, um sie aus ihren Festungen zu vertreiben.
Das ist pure Einbildung.
Natürlich gibt es auch solche Siedler. Sie bilden den harten
Kern. Es sind diejenigen, die man im Fernsehen sieht,
diejenigen, die in palästinensischen Dörfern Moscheen in Brand
setzen, diejenigen, die palästinensische Bauern auf ihren
Feldern angreifen, diejenigen, die Olivenbäume ausreißen. Sie
haben lange Haare, Seitenlocken, tragen die obligatorische
Kleidung mit den Fransen unter oder über ihren Hemden, tanzen
ihre skurrilen Tänze. Sie sind vollkommen anders als
durchschnittliche Israelis.
Fast alle diese Juden sind neugeboren (in Hebräisch heißt es:
„Jene, die sich zurückbegeben in Reue“) und werden von den
wahren orthodoxen Juden, die ihre Töchter nicht mit ihnen
verheiraten würden, zutiefst verachtet. Aber sie bilden nur eine
winzig kleine Minderheit.
Viel bedeutender ist der sogenannte „national-religiöse“ Kern,
die tatsächliche Führung des Siedlungsunternehmens. Sie glauben,
dass Gott uns dieses Land - und zwar das gesamte Land - gegeben
hat, und viele von ihnen glauben, dass Gott ihnen auch befohlen
hat, das Land zwischen dem Meer und dem Fluss (dem Mittelmeer
und dem Jordan) von Nicht-Juden zu säubern. Einige von ihnen
glauben jedenfalls, Nicht-Juden seien keine vollkommenen
Menschen, sondern etwas zwischen Mensch und Tier, wie von der
Kabbala behauptet wird.
Diese Gruppe besitzt eine ungeheure politische Macht. Sie hat
die sukzessiven Regierungen aus allen Parteien dazu gebracht,
sie manchmal widerwillig, manchmal mehr als bereitwillig, dort
zu platzieren.
Diese Siedler leben in kleineren Siedlungen konzentriert, die
über die gesamten besetzten Gebiete verstreut sind. Sie sind in
die Armee und in den Regierungsapparat infiltiert und
schüchtern die Politiker ein. Ihre Partei ist die „Jewish Home“
(Jüdische Heimat), deren Vorsitz Naftali Benett, der „Bruder“
von Ja'ir Lapid, hat, jedoch haben sie auch enge Beziehungen zu
der aufstrebenden jungen Führung des Likud und zu dem Gefolge
Liebermanns.
Jede Regierung, die Frieden schafft, muss sich mit ihnen
auseinandersetzen. Sie bilden jedoch eine Minderheit unter den
Siedlern.
VON DEN meisten Siedlern hört man weniger.
Sie sind in den Siedlungsblocks konzentriert, die sich
einige Kilometer in den besetzten Gebieten entlang der Grünen
Linie aneinanderreihen.
Sie werden „Lebensqualität-Siedler“ genannt, weil sie dorthin
gezogen sind, um die klare Luft und die pitoreske Aussicht auf
die muslimischen Minaretts auf den benachbarten Hügeln zu
genießen, jedoch hauptsächlich, um
ihre Traumvillas mit den roten Schweizer-Ziegeldächern
fast geschenkt zu bekommen. Sie konnten nicht einmal davon
träumen, diese jemals im eigentlichen Israel zu erwerben.
Eine Kategorie für sich sind die Orthodoxen. Ihr riesiges,
natürliches Wachstum drängt sie aus ihren Städten und
Wohngebieten im eigentlichen Israel, weshalb sie dringend neue
Unterkünfte benötigen, die ihnen die Regierung nur allzu gerne
bereitstellt – in den besetzten Gebieten. Sie haben dort bereits
mehrere Städte gegründet, eine von ihnen ist Modi'in Illit, die
Grenzstadt, die auf den Ländereien von Bil'in, liegt, dem Dorf,
das einen heldenhaften gewaltlosen
Kampf führt, um diese zurückzubekommen.
In
Ostjerusalem sind die Siedlungen eine völlig andere Geschichte.
Die Hunderttausende israelischer Juden, die in den neuen
Wohngebieten dort leben, sehen sich selbst keineswegs als
Siedler an, sie haben alles, was die Grüne Linie betrifft,
vergessen. In der Tat sind sie ziemlich überrascht, wenn man sie
daran erinnert. Sie mag nur ein paar Häuserblöcke entfernt sein.
ALL DIESE Kategorien – und die vielen Unter-Kategorien – muss
man separat behandeln. Für jede gibt es eine unterschiedliche
Lösung.
Nehmen wir der Diskussion wegen an, in neun Monaten würde der
Traum von Kerry wahr. Es gäbe einen unterzeichneten
Friedensvertrag geben, der alle Probleme löst, einschließlich
eines vereinbarten Zeitplans für dessen Umsetzung.
Nehmen wir weiterhin an, diesem Vertrag würde eine breite
Mehrheit in einem israelischen Referendum (und auch in einem
palästinensischen) zustimmen. Das gäbe unserer Regierung die
politische und moralische Macht, das Siedlungsproblem zu
bewältigen.
Für die Jerusalemiten hatte Bill Clinton eine einfache Antwort:
Lass sie dort, wo sie sind. Zeichne die Karte von Jerusalem neu,
so dass „was Jüdisch ist, zu einem Teil Israels -, was Arabisch
ist, zu einem Teil Palästinas wird.“
Unter Berücksichtigung der immensen Schwierigkeit, das Omelett
dahingehend auseinanderzupflücken, hat es seine Reize,
besonders, wenn den Palästinensern die vollständige Souveränität
über den Tempelberg und die Altstadt zurückgegeben würde (und
die Westmauer mit dem jüdischen Viertel in Israel bliebe).
Für die großen Siedlungsblocks hat man die Lösung mehr oder
weniger bereits vereinbart: ein Gebietstausch.
Die Siedlungen, die hart an der Grenze liegen, werden von Israel
annektiert, im Gegenzug wird ein
gleich großes (jedoch wahrscheinlich nicht gleichwertiges)
israelisches Gebiet an Palästina übergeben.
Das könnte nicht so einfach sein, wie es klingt. Nur die
Siedlungen selbst annektieren,
oder auch das Gebiet um sie herum oder zwischen ihnen? Und, was
ist mit Ariel, der „Hauptstadt der Siedler“, die 20 km in der
Westbank liegt? Ein Korridor? Eine Enklave? Und Ma'alah Adumim,
das, wenn es dem jüdischen Teil Jerusalems angegliedert würde,
die Westbank in zwei Teile spalten würde. Es gibt viel zu
diskutieren.
Die „Lebensqualität“-Siedler müssen ausgezahlt werden. Das ist
eine simple Frage des Geldes. Geben Sie jedem von ihnen ein
gleichwertiges oder sogar besseres Appartement in der Nähe von
Tel Aviv und die meisten von ihnen werden sich darauf stürzen.
In der Tat haben einige Umfragen ergeben, dass ziemlich viele
von ihnen sogar heute umziehen würde, falls ihnen ein solches
Angebot unterbreitet würde. (Wir machten Yitzhak Rabin diesen
Vorschlag, aber er lehnte ihn ab.)
Bleibt noch der harte Kern der Siedler übrig, die
„Ideologischen“, die Gott dienen, indem sie auf gestohlenem Land
leben. Was ist mit denen?
DIE EINFACHSTE Lösung lieferte Charles de Gaulle. Nach der
Unterzeichnung des Friedensvertrages, der der Besetzung
Algeriens nach hundert Jahren ein Ende setzte, kündigte er an,
dass die französische Armee das Land an einem bestimmten Datum
verlassen werde. Er sagte zu über einer Million Siedlern, viele
von ihnen bereits in der vierten oder fünften Generation: „Wenn
ihr fortziehen wollt, zieht fort. Wollt ihr bleiben, so bleibt.“
Das Ergebnis war ein wilder Massenexodus in letzter Minute von
historischem Ausmaß.
Ich kann mir keinen israelischen Führer vorstellen, der kühn
genug ist, diesem Beispiel zu folgen. Noch nicht einmal Sharon,
ein rücksichtsloser Mensch, ohne jegliches Mitgefühl, wagte es.
Natürlich könnte die israelische Regierung diesen Siedlern
sagen: „Wenn ihr euch mit der palästinensischen Regierung
arrangieren könnt, als
palästinensische Bürger (oder sogar israelische Bürger) zu
bleiben, tut es.“
Einige naive Israelis sagen: „Warum nicht? Es gibt anderthalb
Millionen arabische Bürger in Israel? Weshalb kann es nicht
Hunderttausende von Israelis in Palästina geben?“
Das ist unwahrscheinlich. Die Araber in Israel leben auf ihrem
eigenen Boden, der ihnen seit
Jahrhunderten gehört. Die Siedler leben auf „ enteignetem“
Gebiet und sie haben mit Recht den Hass ihrer Nachbarn geerntet.
Ich sehe keine Möglichkeit, wie eine palästinensische Regierung
dies genehmigen könnte.
Verbleibt noch der harte Kern vom harten Kern; jene, die die
Siedlungen nicht gewaltlos räumen würden. Man wird sie mit
Gewalt entfernen müssen, auf Befehl einer starken Regierung,
unterstützt von dem größten Teil der „Öffentlichen Meinung“, die
in einem Referendum zum Ausdruck gebracht wurde.
Ein Bürgerkrieg? Nicht wirklich. Nicht wie der amerikanische
Bürgerkrieg, noch wie der gegenwärtige syrische. Aber trotzdem
ein harter, gewalttätiger, brutaler Kampf, in dem Blut vergossen
werden wird.
Erhoffe ich das? Sicherlich nicht. Erschreckt es mich? Ja, das
tut es. Denke ich, dass wir deshalb die Zukunft Israels, den
Frieden, die Zwei-Staaten-Lösung, die einzige Lösung, die es
gibt, aufgeben sollten?
Nein!
(aus dem Englischen übersetzt von Inga Gelsdorf u. Ellen Rohlfs,
vom Verfasser autorisiert)