Ein guter Krieg
Uri Avnery, 14. September 2013
HIER IST wieder ein jüdischer Witz: Ein
hungriger junger Jude sieht ein Ankündigungsplakat
außerhalb eines lokalen Zirkus: Jeder, der auf die 50 Meter
hohe Stange klettert und auf die Zeltplane unten springt,
wird einen Preis von 1000 Rubeln gewinnen.
Aus Verzweiflung geht er hinein, klettert auf
die Stange und, es schaudert ihn beim Hinuntersehen.
„Spring, spring!“ schreit der Zirkusdirektor.
„Springen kommt nicht in Frage!“ ruft der
Jude zurück. „ Aber wie komme ich wieder runter?“
Das ist es, was Barack Obama empfand, kurz
bevor die Russen die Mittel lieferten.
Die Schwierigkeit mit Krieg ist, dass er zwei
Seiten hat.
Man bereitet sorgfältig einen Krieg vor. Man
hat einen perfekten Plan. Zukünftige Generäle werden ihn in
ihren Akademien studieren. Aber wenn man dann den ersten
Schritt macht, geht alles schief. Weil die andere Seite eine
eigene Vorstellung hat und sich nicht so benimmt, wie man
erwartet hat.
Ein gutes Beispiel wurde (nach dem
hebräischen Kalender) genau heute vor 40 Jahren durch den
ägyptischen und syrischen Angriff auf Israel geliefert. Nach
unserer Planung hätten sie das nicht tun sollen. Kein
Ausweg. Sie wussten, dass unsere Kräfte überlegen waren und
ihre Niederlage unvermeidlich.
Der Chef des Armeenachrichtendienstes, der
für die Information der Geheimdienste war, prägte den
berühmten Ausdruck: „ Low Probability“ (Geringe
Wahrscheinlichkeit). Während Hunderte von Anzeichen darauf
deuteten, dass ein Angriff drohte, brachte es die
Regierung von Golda Meir und Mosche Dayan fertig, total
überrascht zu sein, als die Ägypter den Suezkanal
überquerten und die Syrer zum See Genezareth durchbrachen.
Einige Zeit vorher hatte ich die Knesset
gewarnt, dass die Ägypter dabei seien, einen Krieg
vorzubereiten. Keiner nahm es ernst. Ich war kein Prophet.
Ich war nur gerade von einer Friedenskonferenz mit
arabischen Delegierten zurückgekehrt. Und ein hoher
ägyptischer früherer Oberst sagte zu mir, dass Anwar
al-Sadat angreifen würde, wenn Israel seinen geheimen
Friedens-vorschlag und den Abzug vom Sinai nicht
akzeptieren würde. „Aber ihr könnt nicht gewinnen!“
protestierte ich. „Er wird nicht angreifen, um zu gewinnen,
sondern um die eingefrorene Situation wieder zu bewegen“,
antwortete er.
SEITDEM HATTE die Phrase „geringe
Wahrscheinlichkeit“ einen bedrohlichen Klang in den Ohren
der Israelis gehabt. Keiner benützt es. Aber während der
letzten beiden Wochen kamen sie plötzlich wieder zurück.
So unglaublich es klingt: es wurde unserem
Armeekommando neues Leben gegeben. So eifrig man die
Amerikaner Syrien angreifen sehen wollte und man in Israel
hinter Gasmasken her war, verkündeten sie, dass es eine sehr
geringe Wahrscheinlichkeit gebe, dass Bashar al-Assad mit
einem Angriff auf Israel Vergeltung üben würde.
Er würde es natürlich nicht wagen. Wie könnte
er? Seine Armee ist mit den Rebellen festgefahren. Sie ist
auf jeden Fall unserer Armee unterlegen und nach zwei Jahren
Bürgerkrieg ist sie sogar noch schwächer als sonst. Also
wäre es Tollheit, von seiner Seite aus uns zu provozieren.
Absolut. Sehr, sehr geringe Wahrscheinlichkeit.
Oder?
Es wäre sicher so, wenn Assads Gehirn so
arbeiten würde wie das eines israelischen Generals. Aber
Assad ist kein israelischer General. Er ist der syrische
Diktator, und sein Gehirn arbeitet ganz anders.
Wie wäre es mit dem folgenden Szenario?
Die Amerikaner greifen Syrien mit Raketen und
Bomben mit der Absicht an, die Rote Linie zu unterstreichen.
Nur gerade eine kurze, begrenzte Aktion.
Assad erklärt Israel dafür verantwortlich und
schleudert seine Raketen auf Tel Aviv und Dimona.
Israel rächt sich mit einem schweren Angriff
auf Syriens Einrichtungen.
Assad erklärt, dass der Bürgerkrieg vorbei
ist und ruft alle Syrer und die ganze arabische und
muslimische Welt auf, sich hinter ihm vereint zu versammeln,
um die heilige arabische Erde gegen den allgemeinen
zionistischen Feind, den Unterdrücker der palästinensischen
Brüder, zu verteidigen.
Die Amerikaner werden zur Verteidigung
Israels eilen und----
Und dass soll „geringe Wahrscheinlichkeit“
sein“?
DESHALB WAR ich so erleichtert als Obama
selbst - als die Russen ihm halfen -von der hohen Stange
herunterkam. Wow!
Was wird nun mit den chemischen Waffen
geschehen? Ich mache mir wirklich wenig Sorgen. Ich dachte
von Anfang an, die Hysterie darum sei bei weitem
übertrieben. Assad ist in der Lage, all die gewünschten
Gräueltaten auch ohne Giftgas auszuführen.
Es sollte daran erinnert werden, warum sein
Vater dieses Gas an erster Stelle produzieren ließ. Er
glaubte, Israel entwickle Atomwaffen. Da er nicht in der
Lage war, so teure und technisch fortgeschrittene Waffen
selbst herzustellen, entschied er sich für billigere -
chemische und biologische - Waffen zur Abschreckung. Nach
einem geheimen CIA-Bericht von 1982 produzierte Israel auch
schon solche Waffen selbst.
Wir stecken also jetzt in einem langen
Prozess von Verhandlungen, gegenseitigen Beschuldigungen,
Inspektionen, Materialtransfer usw. Gut für viele Monate,
wenn nicht für Jahre.
Inzwischen gibt es keine amerikanische
Intervention. Keinen regionalen Krieg –nur das übliche
gegenseitige Blutvergießen in Syrien.
ISRAEL IST wütend. Obama ist ein Waschlappen.
Ein Feigling. Wie wagt er es noch, der amerikanischen
öffentlichen Meinung zuzuhören? Wer wird ihm noch glauben?
Nachdem diese Rote Linie überquert war, wer
wird Obama die viel breitere Linie abnehmen, die er in den
Sand des Iran gezogen hat?
Ehrlich gesagt, keiner. Aber nicht wegen
Syrien.
Es gibt absolut keine Ähnlichkeit zwischen
der Situation in Syrien und im Iran. Selbst wenn die
„begrenzte“ Aktion zu einer großen Aktion geführt hätte, was
ziemlich möglich gewesen wäre, es wäre ein kleiner Krieg mit
wenigen Auswirkungen auf die amerikanisch nationalen
Interessen gewesen. Ein Krieg mit dem Iran ist eine völlig
andere Sache.
Wie ich viele Male zuvor geschrieben habe,
würde ein Krieg mit dem Iran zur unmittelbaren Schließung
der Straße von Hormuz führen, eine weltweite Öl-Krise, eine
globale ökonomische Katastrophe mit unvorstellbaren
Konsequenzen.
Ich wiederhole: es wird keinen Amerikaner –
und keinen Israeli geben, der den Iran angreift. Punkt.
TATSÄCHLICH KOMMT Obama ziemlich gut aus
dieser Krise heraus.
Sein Zögern, das in Israel so viel Verachtung
hervorrief, gereicht ihm zu Kredit. Es ist richtig, zu
zögern, statt in den Krieg zu eilen. Im Krieg werden
Menschen getötet. Selbst ein gezielter Schlag kann sehr
viele Menschen töten. In der gereinigten militärischen
Sprache wird dies „Kollateralschaden“ genannt.
Wir sollten es wissen. Vor Jahren begann
Israel im Libanon eine winzige Operation und tötete
unabsichtlich eine Menge Leute in einem UN-Flüchtlingslager.
Obama benützte militärische Gewalt in der
Weise, wie sie benützt werden sollte, nicht zum Kämpfen,
wenn das Kämpfen vermieden werden kann, sondern um dem
diplomatischen Druck mehr Gewicht zu geben. Die Russen
würden sich nicht bewegt haben, und Assad hätte sich ihrem
Druck nicht gebeugt, wenn es nicht die glaubwürdige Drohung
eines amerikanischen Militärschlag gegeben hätte. Sogar
Obamas Entscheidung, den Kongress um Genehmigung zu bitten,
war in diesem Kontext richtig. Dies lieferte die Atempause,
die die russische Initiative möglich machte. Ja, die Russen
sind bei dem großen Spiel wieder dabei. Sie werden auch eine
Rolle bei der kommenden Konfrontation mit dem Iran spielen.
Sie sind einfach zu groß, um ignoriert zu werden. Und
Vladimir Putin ist ein zu schlauer, raffinierter Spieler,
als dass er beiseitegeschoben werden könnte
Für Zuschauer mit literarischer Neigung ist
das Zwischenspiel zwischen Obama und Putin faszinierend – so
verschiedene Charaktere, solch verschiedene Motivationen.
Wie der Schwert schwingende und den Dreizack schwingende
Gladiator in der alten römischen Arena.
Und die UN ist auch wieder zurück. Die gute
alte UN, so unwirksam, so schwach, aber so nötig in
Situationen wie dieser. Gott segne sie.
ABER WAS ist nun mit Syrien los? Was mit
den weiter gehenden Massakern, anderweitig als Bürgerkrieg
bekannt? Wird er immer weitergehen? Kann diese Krise in eine
Lösung verwandelt werden?
Ich denke, das ist möglich.
Jetzt wo die US und die Russen nicht mehr mit
einander auf Kriegsfuß stehen und Iran mit einer viel
vernünftigeren Stimme spricht (danke für die Grüße zu Rosh
Hashana), könnten wir vielleicht vorsichtig, sehr vorsichtig
an eine Lösung denken.
Ich kann mir z.B. eine gemeinsame
amerikanisch-russische Initiative entlang folgender Linien
vorstellen:
Syrien wird als Bundesstaat ähnlich Bosnien
oder der Schweiz reorganisiert .Es wird aus konfessionellen
Kantonen nach bestehenden Linien zusammengesetzt werden:
Sunniten, Alawiten, Kurden und Drusen etc.
Anstelle des allmächtigen Präsidenten wird
es eine kollektive oder rotierende Präsidentschaft geben.
Dies würde das persönliche Problem von Assad lösen.
Dies wäre eine Lösung, mit der jeder leben
könnte. Ich sehe keine andere Lösung, die ohne viel
Blutvergießen adoptiert werden kann. Ich denke nicht, dass
man zum Status quo ante zurück gehen kann. Die Alternative
zu dieser Lösung ist endloses Blutvergießen und das
Auseinander-brechen des Staates.
Falls so etwas wie diese Lösung adoptiert
würde, könnte diese Krise nützliche Früchte bringen.
Was wieder zeigen würde, dass, der einzige
„gute Krieg“ ein Krieg ist, der vermieden wird.
(aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom
Verfasser autorisiert)