Die falsche Fackel
Uri Avnery, 1. Juni 2013
YAIR LAPID , der Freshman-Parlamentarier und
Finanzminister, hat erklärt, dass er von jetzt ab alle wichtigen
Reden außerhalb der Knesset halten und sein Erscheinen in der
Knesset auf rein rechtliche Erfordernisse beschränken will.
Der Grund: Mitglieder der Opposition unterbrechen
ihn. Und wenn er unterbrochen wird, kann er seine Gedanken nicht
ordnen. Da er es gewöhnt ist, seine Reden mit Hilfe eines
Teleprompters zu machen – also ohne jede Unterbrechung - ärgert ihn
das.
Was sagt uns das über ihn aus?
Während meiner zehn Jahre in der Knesset hielt ich
etwa 1000 Reden vom Knesset-Rednerpult aus – eine Art Rekord. Ich
hoffte immer sehr, unterbrochen zu werden. Die Zwischenrufe belebten
die Reden und erlaubten mir, scharf zu erwidern, Punkte zu klären,
die Berichterstattung anzuziehen.
Ich selbst war auch ein sehr häufiger Unterbrecher.
Zwischenrufe zu machen, hat mir richtig Spaß gemacht; ich sagte ein
paar Wörter, wozu ich sonst eine ganze Rede benötigte.
Dieses Geben und Nehmen ist das Wesentliche an
parlamentarischen Debatten. Es testet deine Schnelligkeit des
Denkens, die Beherrschung des Stoffes und die allgemeine
Aufmerksamkeit. Ohne dies würden Knesset-Debatten nur eine
langweilige Übung von Langatmigkeit sein.
Ich erinnere mich an einen Minister, der total aus
dem Konzept kam, wenn er unterbrochen wurde. Es war Ariel Sharon.
Mitten im Satz unterbrochen, kam er völlig durch einander und fing
von Vorne an. Er war schließlich ein alter General, und Generäle
sind nicht daran gewöhnt, von ihren Untergebenen unterbrochen zu
werden.
Hier ist nun dieser (relativ) junge Mann - ein
Journalist und eine TV-Persönlichkeit - der es nicht ertragen kann,
dass seine Gedanken- so wie sie sind - unterbrochen werden.
WELCHES SIND diese kostbaren Gedanken, die es nicht
ertragen, unterbrochen zu werden?
Seit mehreren Monaten ist Lapid der Mittelpunkt des
Interesses in der israelischen Politik. Und nicht nur in Israel. Das
Time-Magazine bleibt beharrlich dabei, sich lächerlich zu machen,
nachdem es Binjamin Netanjahu zu Israels „König Bibi“ krönte und es
jetzt Lapid unter die 100 einflussreichsten Leute in der Welt
platzierte. Also sollten wir jetzt eine dunkle Ahnung von dem haben,
was Lapid wirklich denkt.
Während seiner mit Hilfe von lokalen
Meinungsforschern und amerikanischen Beratern außerordentlich
erfolgreichen Wahlkampagne wählte Lapid sorgfältig ein paar Themen
aus und blieb an diesen hängen.
Es waren vor allem drei Hauptversprechen:
Erstens die Mittelklasse retten, die, wie er
behauptet, von den letzten Regierungen vernachlässigt worden sei.
Zweitens, eine „Gleichheit der Bürde“ erreichen, d.h.
die ultra-orthodoxen Jünglinge zwingen, in der Armee zu dienen wie
jeder andere auch. Seit der Gründung des Staates waren zehntausende
dieser jungen Männer und Frauen ausgenommen worden – wie auch die
arabischen Bürger, doch aus völlig anderen Gründen.
Drittens den „politischen Prozess“ (der in Israels
Umgangssprache benützte Terminus, um das schreckliche Wort „Frieden“
zu vermeiden) um eine „dauerhafte Lösung“, die sich (ebenso) auf
zwei Staaten gründet, zu erreichen.
Wie sich herausstellt, sind alle drei Versprechen
eklatante Lügen.
KEINER WEISS genau, was die „Mittelklasse“ ist. Es
muss jedoch vermutet werden, dass sie irgendwo in der Mitte zwischen
Stinkreichen und den Bitterarmen liegt. Das mag fast die ganze
Bevölkerung oder wenigstens ein großer Teil davon sein.
Es ist nicht leicht, Lapids sozial-ökonomische
Vorschläge zu erkennen, da er sie ständig verändert. Die
Öffentlichkeit hat sich schon an dieses Theater gewöhnt: am Morgen
schlägt er einige Maßnahmen vor, um das Defizit zu reduzieren (z.B.
Schulgelderhöhung), mittags entsteht ein Protestkrawall und am Abend
wird der Vorschlag zurückgezogen.
Doch das Budget zur Einberufung für das laufende und
das nächste Jahr ist schon fast vollständig. Das große Defizit - an
dem Lapid keine Schuld hat – wird von der Mittelklasse gedeckt.
Die Steuern werden für die Reichen minimal bleiben.
Multinationale und andere große Gesellschaften werden fast gar keine
Steuern zahlen. Die öffentlichen Dienste für die Armen werden
beschnitten. Doch die Hauptlast der Bürde wird von der Mittelklasse
durch indirekte Steuern getragen, Mehrwertsteuern und andere
Steuern, die Israels sowieso schon hohe Lebenskosten noch höher
werden lassen. Die Gehälter für die Mittelklasse in Israel sind
niedriger als in fast allen entwickelten Ländern.
Es ist jetzt klar, dass Lapid, auch wenn er der
Hauptnutznießer der riesigen sozialen Proteste von vor zwei Jahren
war, tatsächlich – wie Netanjahu – ein eifriger Bewunderer von
Ronald Reagan und Margret Thatcher ist.
All das lässt mich an Worte von König Rehabeam, den
Sohn von Salomo, denken: „Mein Vater züchtigte euch mit der
Peitsche, aber ich will euch mit Skorpionen züchtigen“(1.Könige,
12,14)
Die Magnaten lieben ihn schon.
DAS BEDEUTENDSTE Mitglied von Lapids Partei ist nach
ihm selbst ein Jacob Perry, der zufällig ein sehr reicher Magnat ist
und früher Chef des Shin Bet war. Er hat gerade jetzt den Bericht
einer Kommission veröffentlicht, die von ihm geleitet wird und die
die „Bürde“ der Armee zum Thema hat.
Angeblich ist das ein großer Sieg für das
anti-orthodoxe Lager. Endlich wird die Massenausnahme der orthodoxen
Jugend vom Militärdienst aufgehoben. Abgesehen von ein paar
„Ausnahme- Talmudstudenten“ etwa 1800 pro Jahr – werden sie alle
ihre drei Jahre wie gewöhnliche männliche Sterbliche dienen.
Aber schaut man sich den Bericht unter dem Mikroskop
an, taucht ein ganz anderes Bild auf. Diese Masseneinberufung zum
Militär der orthodoxen Jugend wird praktisch erst in vier Jahren
oder später stattfinden. Das kommt in Israel einer Ewigkeit gleich –
wenigstens. In dieser Zeit – nach den nächsten Wahlen – mögen Lapid
und seine Gruppe schon Geschichte sein.
Nach dem Plan werden orthodoxe Männer erst mit 21
Jahren eingezogen werden, wenn praktisch alle von ihnen schon
verheiratet sind und mindesten zwei Kinder haben. Dies wird ihren
Militärdienst für die Armee zu teuer machen, die sie sowieso nicht
haben will. Alle andern Rekruten werden mit 18 eingezogen.
Was heute betrifft: alle orthodoxen Männer, die heute
21 oder älter sind, werden vom Militärdienst befreit.
Die fehlende Begeisterung der Armee für das ganze
Projekt kann leicht verstanden werden. Es erscheint jetzt, dass in
dem viel propagierten „orthodoxen Bataillon“ von Freiwilligen, die
augenblicklich schon Militärdienst machen, nur eine winzige Anzahl
der wirklich orthodoxen Soldaten ist. In Wirklichkeit sind ihre
Ränge voll mit andern Kippa tragenden Prachtexemplaren.
Die ganze Sache ist eine Übung in Täuschung.
Praktisch gibt es keine Macht in Israel, die möglicherweise die
Massen der orthodoxen Jugend zwingen kann, gegen ihren und ihrer
Rabbiner Willen und Glauben Militärdienst zu machen.
Der einzige Sieger dieser Affäre ist Lapids
adoptierter politischer Blutsbruder, Naftali Bennett. Dieser neue
Minister für Wirtschaft und religiösen Militärdienst, der Vertreter
der Siedler und anderer national-religiöser Extremisten, hat einen
anderen Teil des Perry-Berichtes zurückgewiesen. Schüler der
religiösen vormilitärischen Schulen, die jetzt nur 16 Monate dienen
(weniger als die Hälfte der Zeit der säkularen Soldaten) würden
gezwungen, 20 Monate zu dienen. Diese-Jeshivas sind für ihre
Brutstätten von Rassismus und ultra-Nationalismus bekannt, aber ihre
Schüler wollen nicht so lange dienen, wie ihre säkularen Brüder.
Bennett gelang es, ihren Dienst um einen Monat zu reduzieren: seine
kriegsliebenden Schützlinge werden nur 17 Monate dienen.
In dieser Woche führte Lapid ein Meisterstück in PR
aus: er drohte Netanjahu mit einer großen Kabinett-Krise, wenn seine
Forderung von einem ganz unbedeutenden Detail nicht akzeptiert
würde. Netanyahu gab nach, und Lapid gewann. Heil dem Sieger!
UND WIE ist es mit Lapid, dem Mann des Friedens?
Während der Wahlkampagne schien er ein Mann der „Mitte-Links“
zu sein. Sein ganzes Verhalten war das von „Einem von uns“, des
säkularen, liberalen Zentrums, das sich mit einem allgemeinen Wunsch
nach Frieden identifiziert.
Lapid artikulierte die
angemessen unbestimmten Phrasen zu Gunsten einer Zwei-Staatenlösung.
Aber seine ihn anbetenden Anhänger hätten stutzen sollen, als er
seine Kampagne ausgerechnet in der Ariel-„Universität“ eröffnete,
dem Flaggschiff der Siedler. Er erklärte auch, dass Jerusalem
niemals geteilt werden würde.
Am Morgen nach der Wahl schloss er ein Abkommen einer
unzerbrechlichen und unerschütterlichen Blutsbrüderschaft mit Bennet
ab, dem extrem Rechten. In einem klassischen, hebräischen Sprichwort
heißt es: „ Der Spatz geht nicht für nichts zum Raben.“
In dieser Woche gewährte Lapid der
Ariel-„Universität“ eine extra 50 Millionen Schekel-Summe, eine
riesige Bestechungssumme zu einer Zeit, in der die sozialen Dienste
bis zur Schmerzensgrenze beschnitten werden. Sein Budget streicht
keinen Schekel von der massiven Unterstützung der Regierung für die
Siedlungen.
In einem Interview mit der New York Times offenbarte
Lapid seinen Plan für Frieden: ein palästinensischer Staat mit
„vorläufigen Grenzen“. (d.h. praktisch weniger als die Hälfte der
Westbank und lässt ihnen etwa 11% des historischen Palästina)
Jerusalem würde vereinigt unter israelischer Kontrolle bleiben.
Mahmoud Abbas reagierte fast
sofort: dies sei absolut nicht annehmbar. Selbst der unermüdliche
John Kerry wird die Parteien nicht auf dieser Basis zusammenbringen.
ALL DIES hat Lapid nicht geholfen. Die
Öffentlichkeit, einschließlich vieler (wenn nicht aller) seiner
Wähler sind von ihrem Held enttäuscht worden. Und so steht er schon
früh in seiner politischen Karriere als oberflächliches Individuum,
das zwar gut aussieht, aber nicht vertrauenswürdig ist, das
rhetorisch gut aber nicht ernst zu nehmen ist. Die „neue Politik“,
die er versprochen hat, sieht verdächtig wie die alte Politik aus
oder gar noch schlimmer.
Das ist weithin ernster als die Frage von Lapids
zukünftiger Karriere oder Nicht-Karriere. Es ist von entscheidender
Bedeutung für Israel, dass eine neue Generation von Aktivisten für
Frieden und soziale Gerechtigkeit eine neue Kraft schafft, die in
der Lage ist, bei den nächsten Wahlen in den Wettbewerb zu treten.
Die Enttäuschung mit Lapid kann junge Leute leider politikmüde
machen.
Die leuchtende Fackel (die wörtliche Übersetzung von
Yair Lapids Namen) ist nahe dran zu verlöschen. Hoffen wir, dass ein
ernster zu nehmender Fackelträger rechtzeitig erscheint und nicht zu
lange auf sich warten lässt.
(aus dem Englischen:
Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)