Die hohle Zeit
Uri
Avneri, 2.8.08
EHUD OLMERTS RÜCKTRITTSREDE hörten wir auf dem Heimweg von einer
Demonstration.
Wir hatten wegen des Todes von Ahmad Moussa, eines zehnjährigen
Jungen, protestiert. Er wurde auf einer Demonstration gegen den
Trennungszaun im Dorf Na'ilin getötet. Es ist der selbe
Trennungszaun, der das Dorf des Großteils seiner Ländereien beraubt,
um sie der benachbarten Siedlung hinzu zu fügen. Ein Soldat hatte
mit seinem Gewehr gezielt und den Jungen aus kurzer Entfernung
erschossen.
Die Demonstranten standen unter dem Fenster der Wohnung des
Verteidigungsministers in den luxuriösen Akirov-Towers in Tel Aviv
und riefen: "Ehud Barak, Verteidigungsminister, wie viele Kinder
hast Du bis heute getötet ? "
Kurz darauf sprach Olmert von seinen außerordentlichen
Anstrengungen, Frieden zu erreichen, und versprach, sie bis seinem
letzten Moment im Amt fortzusetzen.
Beide Ereignisse – die Demonstration und die Rücktrittsrede – sind
miteinander verbunden. Zusammen ergeben sie ein getreues Bild dieser
Zeit: Friedensreden schweben durch den Äther und auf dem Boden der
Tatsachen geschehen Abscheulichkeiten.
ICH WERDE MICH NICHT in den Chor der Helden-Danach einreihen, die
sich jetzt auf Olmerts politische Leiche stürzen, um sie zu
zerfleddern.
Es
ist kein erfreulicher Anblick. Ich habe so etwas schon mehrmals im
Leben gesehen und es ekelt mich jedes Mal aufs Neue.
Dies ist keine besonders israelische Erscheinung. Man kann in der
Geschichte wie in der Literatur dafür Beispiele finden: "Aufstieg
und Fall von..."
Es
ist eine alte Geschichte. Die Leute kriechen vor ihrem Helden im
Staub. Die Machtgierigen und Profithungrigen tanzen um ihn herum.
Die Hofdichter und Hofnarren singen zu seinem Ruhm, und ihre
modernen Nachfolger – die Medienleute – übernehmen
das Lobpreisen. Und plötzlich
fällt er vom Podest und wird erbarmungslos zertrampelt.
Es
ist die selbe Gemeinde, die Moshe Dayan nach dem Sechs-Tage-Krieg
zum Gott erhob, die nach dem Yom-Kippur-Krieg sein Denkmal in
tausend Stücke schlug. Die Gemeinde, die nach Jahren grenzenloser
Schmeichelei und Unterwürfigkeit David Ben Gurion mit Füßen trat,
die Golda Meir fallen ließ, nachdem sie ihr vorher in blinder
Ergebenheit gefolgt war. Sicher, ich habe alle drei auf dem
Höhepunkt ihrer Macht bekämpft, aber das Über-sie-herfallen des
politischen Mobs nach ihrem Abstieg ist einfach ekelhaft.
So
ist es auch diesmal. Ich bin nie dem Charme Ehud Olmerts verfallen.
Ich beobachte ihn, seit er die politische Bühne betrat, bis hin zu
seiner Rücktrittserklärung. Ich habe nichts an ihm gefunden, was
meine Bewunderung erregen könnte. Jetzt aber, wenn ich all die
Beschimpfungen sehe und höre, die sich über ihn ergießen, aus den
Mündern derer, die ihn erst gestern noch in den Himmel hoben, möchte
ich lieber anderswo hinsehen. Das Recht, ihn zu kritisieren haben
nur die, die ihn all die Jahre bekämpft haben.
ER
IST EIN KOMPLETTER Politiker und sonst nichts. Kein Staatsmann.
Keine Führungspersönlichkeit. Kein Visionär. Nur ein politischer
Techniker. Intelligent. Ein recht glatter Redner. Ein Freund unter
Freunden. Ein Politiker, für den die Macht das Ziel ist, nicht ein
Mittel, um ein Ziel zu erreichen.
Das erste Mal traf ich ihn in der Knesseth vor fast 40 Jahren.
Damals war er der "Waffenträger" von Shmuel Tamir. Er trug ihm die
Aktentasche hinterher.
Davor war etwas geschehen, das ich als bezeichnend für den gesamten
Weg dieses ehrgeizigen Mannes sehe. Tamir, damals ein junger
Abgeordneter der Herut-Partei (heute Likud), dachte, es biete sich
die Gelegenheit, Menachem Begin zu stürzen und die Macht in der
Partei an sich zu reißen. Er versuchte, ihn während eines Parteitags
zu stürzen, und für einen Moment hatte es den Anschein, dies würde
ihm gelingen. Damals war Begin 53 Jahre alt; er wirkte müde und
erschöpft nach sechs verlorenen Wahlen hintereinander. Der 21jährige
Olmert nützte die Gelegenheit und hielt auf dem Parteitag eine
leidenschaftliche Rede gegen den legendären Parteivorsitzenden.
Er
hatte sich aber verrechnet. Begin schüttelte alle Müdigkeit von sich
und schlug die Meuterer vernichtend. Sie wurden in Schande aus der
Partei verwiesen. Olmert blieb bei der kleinen Fraktion um Tamir,
die sich als moderate Partei präsentierte. Sie machten sich lustig
über die nationalistischen Parolen der Herut-Partei ("Zwei Ufer hat
der Jordan, beide gehören uns.") und fügten sich so in die Frieden
suchende Stimmung im Land zu der Zeit. Als aber der Sechs-Tage-Krieg
ausbrach und die Stimmung sich um 180 Grad drehte, war es Tamir, der
die Parole prägte: "Befreites Land wird nicht zurück gegeben". Ohne
mit der Wimper zu zucken, wurde Olmert, der Moderate zu Olmert, dem
Extremen.
In
der kleinen Partei voller Führungspersönlichkeiten aber war sein Weg
auf der Karriereleiter voller Hindernisse. Es verging nicht viel
Zeit, da spaltete er sie und wurde die Nummer Zwei in einer noch
kleineren Partei. Auch die spaltete er, um den greisen Eliezer
Shostak an ihrer Spitze loszuwerden. Die Ereignisse grenzten an eine
Farce: Olmert lief mit dem Partei-Stempel davon.
Vor den Wahlen 1973 kehrte Olmert zum Likud zurück und wurde endlich
auf dem Listenplatz Nr.24 seiner Partei in die Knesseth gewählt.
Vorher war er nicht faul gewesen: Er hatte Jura studiert und war zu
Wohlstand gekommen, nützte seine Verbindungen in der Knesseth und in
den Korridoren der Regierung zum Vorteil seiner Klienten. Damals
entwarf und perfektionierte er das System des Nützens der
Verbindungen von Macht und Geld, das ihn seither begleitete und
schließlich zu seinem Fall führte.
In
der Knesseth suchte der junge Abgeordnete ein Thema, das
Aufmerksamkeit erregen könnte. In jener Zeit erfand die Presse das
"organisierte Verbrechen", lange bevor es tatsächlich in Erscheinung
trat. (Jemand machte sich damals darüber lustig: "Hier im Land ist
gar nichts organisiert, warum sollte ausgerechnet das Verbrechen
organisiert sein?") Olmert dachte, er könne gut auf dieser Welle
reiten. Er hielt begeisterte Reden, wedelte mit Papieren im Stil von
Joe McCarthy, präsentierte sich als mutiger Verfolger der Verbrecher
und bekam viel öffentliche Aufmerksamkeit. Es war eine Vorstellung
mit nichts dahinter. Auch die höheren Ränge der Polizei sprachen
davon, dass die Aktion rein gar nichts zum Kampf gegen das
Verbrechen beigetragen habe. Aber sie war ein gutes Beispiel für
das, was später als "Spin" bekannt wurde.
1977 KAM Menachem Begin an die Regierung. Es wäre ihm im Traum nicht
eingefallen, den, der ihm elf Jahre zuvor sozusagen den Dolch
zwischen die Rippen stoßen wollte, zu befördern. Neben anderen guten
Eigenschaften hatte Begin auch ein gutes Gedächtnis. Als Olmert sah,
dass seine Karriere in der Knesseth blockiert war, entschloss er
sich 1993, einen Sprung von olympischen Ausmaßen zu wagen: Er
kandidierte zur Wahl des Bürgermeisters von Jerusalem.
Teddy Kollek war ein populärer Bürgermeister, aber schon alt und
erschöpft. Olmert besiegte ihn. Heute ist man sich generell einig,
dass er ein schlechter Bürgermeister war, die Stadt kam herunter,
die Armut in ihr wuchs, junge Leute wanderten ab und die
palästinensischen Viertel wurden auf eine Art und Weise
vernachlässigt, die man nur noch kriminell nennen kann. 1996 drängte
Olmert den Ministerpräsidenten Benjamin Natanyahu, den Tunnel, der
von der Klagemauer ins moslemische Viertel der Stadt führt, zu
öffnen, was dann zu gewaltsamen Unruhen führte, in deren Verlauf 17
Soldaten der israelischen Armee und fast 100 Palästinenser starben.
Er hat nie auch nur ein Wort des Bedauerns darüber geäußert. Er
forcierte auch die Gründung der umstrittenen Siedlung Har Homa
zwischen Jerusalem und Bethlehem, die bis heute in der arabischen
Öffentlichkeit für gefährlichen Ärger sorgt. Alle Anschläge der
letzten Zeit wurden von jungen Leuten ausgeführt, die in den
arabischen Vierteln der Nachbarschaft von Har Homa aufgewachsen
waren. Olmert präsentierte sich als Judaisierer Jerualems und
nationaler Kämpfer ohne Furcht und Tadel.
Als er aber 1999 versuchte, die Führung im Likud zu erringen, wurde
er mit Leichtigkeit von Ariel Sharon besiegt und auf den Listenplatz
Nr.32 der Partei verbannt (von 38 gewählten Abgeordneten). Die
logische Antwort darauf war, auf Sharons Trittbrett zu springen und
ihn zu drängen, den Likud zu verlassen, um "Kadima" zu gründen.
Die gewagte Aktion gelang dank seiner geschärften politischen Sinne.
Sharon machte ihn zur Nummer Zwei in "Kadima" und setzte ihn zum
Stellvertreter ein (als Trostpflaster dafür, dass er ihm nicht das
Finanzministerium, sondern nur das Industrie-und Handelsministerium
gegeben hatte). Damals schien dieser Titel bedeutungslos, doch als
Sharon einen Schlaganfall erlitt, besetzte Olmert geschwind den
Sessel des Ministerpräsidenten. Ein langer gewundener Weg hatte ihn
zum Gipfel geführt.
SHARONS ERBE war auch sein Gegenteil in fast jeder Hinsicht. Sharon
war ein ziemlich ungeschickter Politiker und ein schlechter Redner,
aber eine entschlossene Führungspersönlichkeit mit klarer
politischer Weltanschauung. Er hatte ein Ziel und verfolgte es
kontinuierlich. Olmert ist Politiker mit Leib und Seele, ein
vollständiger Opportunist und glattzüngiger Redner, ohne jegliches
Charisma, ohne Vision. Stattdessen wiederholt er das abgedroschene
Mantra vom demokratischen jüdischen Staat.
Als er in Folge von Sharons Schlaganfall versehentlich an die Spitze
der Regierung kam, versuchte er anfangs, wie dessen getreuer
Nachfolger auszusehen. Sharon wollte einen starken kompakten Staat,
dem er die Siedlungsblöcke einverleiben wollte, und beabsichtigte,
die verbleibenden arabischen Enklaven als hilflosen "Staat
Palästina" übrig zu lassen. Deshalb hat er die "Trennung" vom
Gazastreifen durchgeführt. Olmert versprach, eine ähnliche Aktion in
der Westbank durchzuführen, ließ aber schnell die Finger davon. Im
Laufe seiner Ministerpräsidentschaft tauchten in Schwindel
erregender Geschwindigkeit grandiose Pläne auf und verschwanden in
der Versenkung, jeder davon diente als etwas Brennstoff, um sein
"Spin"-Rad am Laufen zu halten.
Seine Inkompetenz als Führer und Kommandeur bewies er schon kurz
nach seiner Wahl an der Spitze von "Kadima". Der Krieg im Libanon
war ein desaströser Skandal, Die Medien, die ihm begeistert
zujubelten, stürzten sich nach vollbrachter Tat auf ihn wegen
"fehlerhafter Führung" des Krieges, ignorierten aber seinen
Haupt-Fehler: Er war ohne klares Ziel, ohne politische oder
militärische Strategie in den Krieg gezogen.
So
groß seine Unfähigkeit als Staatsmann und Kommandeur ist, so groß
ist sein Talent als Politiker und Überlebenskünstler. Die Tatsache,
dass er sich noch zwei Jahre nach solch einem monumentalen Bankrott
an der Regierung gehalten hat, zeigt sein politisches Talent, aber
auch, wie armselig das politische System in Israel ist.
Nach dem Krieg brauchte er dringend ein neues Pferd, um weiter zu
kommen. Er nahm den "politischen Prozess" – die Verhandlungen mit
den Palästinensern, dann auch mit den Syrern.
Diese Wahl ist von Bedeutung: Seine feine politische Nase roch, dass
dies jetzt die wirklich populäre Sache ist: Nicht das Größere
Israel, nicht die Siedlungen, sondern Friedensverhandlungen und
"zwei Staaten für zwei Völker" – außerdem ist es auch in den USA und
Europa populär.
Diese Woche beklagten arabische Führungspersönlichkeiten, "der
politische Prozess wird wieder vom ersten Mosaiksteinchen beginnen".
Das ist ein Irrtum. Der Prozess ist nie über das erste
Mosaiksteinchen hinaus gekommen. Er war hohl, leer, ohne Inhalt,
alles nur ein "Spin". Olmert hat im Traum nicht daran gedacht, einen
wirklichen Schritt in Richtung Frieden zu tun. "Der Prozess" kam an
Stelle des Friedens. Die Idee der "Übereinkunft in der Schublade"
kam anstatt eines wirklichen Friedensabkommens. Es gab nie auch nur
die geringste Chance, dass Olmert es gewagt hätte, sich mit den
Siedlern anzulegen.
Die Ära Olmert zusammengefasst: Es wurde nicht auch nur der kleinste
wirkliche Schritt in Richtung Frieden getan. Das historische
arabische Friedensangebot wurde begraben. Die säkulare
friedensbereite palästinensische Führung wurde zerstört, so wurde
der Weg für die Herrschaft der Hamas im Gazastreifen bereitet,
vielleicht auch in der Westbank. Von den Siedlungen wurde nicht eine
Hütte abgebaut, die Siedlungen sind überall erweitert worden.
In
einer Sache ähnelt Olmert Sharon: Beide lieben das Geld fast so
sehr wie die Macht (wie auch Natanyahu und Barak es tun). Beide
pflegten ihre Verbindungen zu Milliardären. Hinter beider
politischen Karren zieht sich ein schlammiger Klumpen von
Korruption den ganzen Weg entlang.
Sharon hat das nicht geschadet. Er strahlte Führerschaft aus, und
die Skandale konnten ihm nicht wirklich schaden. Er war stark genug,
sein breiter Rücken hat es ausgehalten. Den zerbrechlicheren Olmert
hat es umgeworfen.
Am
Ende ist er gefallen – nicht wegen des kriminellen Krieges, nicht
wegen mangelnder Ernsthaftigkeit im Streben nach Frieden, nicht
wegen der Ernennung eines Mannes zum Justizminister, der
beabsichtigt, die Rechtsprechung im Land zu zerstören, sondern wegen
geldgefüllter Umschläge und Gratisreisen.
WENN IN FERNER ZUKUNFT Historiker die Ära Olmert
in der Geschichte dieses Staates
zu bewerten versuchen, - werden sie nur ein Wort finden, das diese
Zeit treffend zusammenfasst. Es ist das Wort, das der Schriftsteller
David Grossmann in ähnlichem Zusammenhang wählte: Hohl.
Es
war eine hohle Zeit. Ein Loch in der Zeit. Eine Ära ohne Bedeutung,
ohne Inhalt, leer (außer für all diejenigen, die dafür mit dem
Leben, mit Zerstörung und Ruin bezahlt haben).
Und es ist auch die Eigenschaft des Mannes Olmert selbst. Ein hohler
Politiker. Ohne Vision.
Wer die Schlagzeilen der letzten zwei Jahre durchgeht, findet dort
zum großen Teil Dramatisches. Viele Initiativen, viele Schlagwörter,
viele "Spins", viel heiße Luft. Und am Ende kommt das heraus:
nichts.
Ein hohler Führer einer hohlen Partei in einem hohlen politischen
System.
(dt.Weichenhan-Mer
G., vom Verfasser autorisiert)
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