Vom
Wahn zur Depression
Uri Avnery, 16.8.06
DREIUNDDREISSIG Tage
Krieg. Der längste unserer Kriege seit 1949.
Auf der israelischen
Seite 154 Tote – 117 von ihnen Soldaten. 3970 Raketen
wurden gegen uns abgefeuert, 37 tote Zivilisten, mehr
als 422 verwundete Zivilisten.
Auf der
libanesischen Seite ungefähr tausend tote Zivilisten,
Tausende Verwundete. (1) Eine unbekannte Zahl toter und
verwundeter Hisbollahkämpfer.
Mehr als eine
Million Flüchtlinge auf beiden Seiten.
Was ist zu diesem
horrenden Preis erreicht worden?
„Traurig,
bescheiden, deprimiert“, so beschrieb der Journalist
Yossef Werter Ehud Olmert ein paar Stunden, nachdem
die Feuerpause in Kraft getreten war.
Olmert ? bescheiden?
Ist das derselbe Olmert, den wir kennen? Derselbe
Olmert, der auf den Tisch schlug und schrie: „Nie mehr!“
Der sagte: „Nach dem Krieg wird die Situation vollkommen
anders aussehen als zuvor!“ Der einen „Neuen Nahen
Osten“? als Folge des Krieges versprach?“
DIE RESULTATE des
Krieges sind deutlich:
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Die Gefangenen, die als Casus belli (
oder als Vorwand) dienten, sind noch nicht frei
gelassen worden. Sie werden als Folge eines
Gefangenenaustauschs zurückkommen, genau wie Hassan
Nasrallah es vor dem Krieg vorgeschlagen hat
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Die Hisbollah ist geblieben, was sie war.
Sie wurde nicht zerstört, nicht entwaffnet,
sie wurde auch nicht von dort vertrieben,
wo sie war. Ihre Kämpfer haben sich in der Schlacht
bewährt, ja, haben sogar Komplimente israelischer
Soldaten eingeheimst. Ihre Kommando- und
Kommunikationsstruktur funktionierte bis ans Ende. Ihre
TV-Station sendete weiter.
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Hassan Nasrallah ist gesund und munter.
Hartnäckige Versuche, ihn zu töten, misslangen. Sein
Prestige wuchs himmelhoch. In der ganzen arabischen Welt
– von Marokko bis zum Irak – werden Lieder zu seiner
Ehre komponiert und sein Foto schmückt die Wände.
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Die libanesische Armee wird entlang der
Grenze aufgestellt werden, Seite an Seite mit einer
großen internationalen Truppe. Das
ist die einzige materielle Veränderung, die erreicht
wurde.
Dies wird die
Hisbollah nicht ersetzen. Die Hisbollah wird im Gebiet
bleiben, in jedem Dorf und in jeder Stadt. Der
israelischen Armee ist es nicht gelungen, sie auch nur
von einem einzigen Dorf zu entfernen. Das war einfach
unmöglich, ohne die ganze Bevölkerung zu vertreiben,
von der sie ein Teil ist.
Die libanesische
Armee und die internationalen Kräfte können und wollen
sich nicht mit der Hisbollah anlegen. Allein ihre
Präsenz hängt vom Einverständnis der Hisbollah ab. Es
wird praktisch eine Art Koexistenz der drei Kräfte
entstehen, von denen jede weiß, dass sie mit den beiden
andern klar kommen muss.
Vielleicht ist es
der internationalen Truppe möglich, die Hisbollah an
Überfällen zu hindern, wie dem Überfall, der dem Krieg
vorausging. Sie wird aber auch israelische Aktionen
verhindern, wie die Aufklärungsflüge unserer Luftwaffe
über dem Libanon. Das war der Grund, weshalb die
israelische Armee zu Beginn des Krieges so strikt gegen
die Aufstellung einer internationalen Truppe war.
IN ISRAEL herrscht
nun eine allgemeine Atmosphäre der Enttäuschung und
Mutlosigkeit. Von der Manie zur Depression. Es sind
nicht nur die Politiker und Generäle, die jetzt
Anklagen auf einander abfeuern, wie wir vorausgesehen
haben, auch die normale Öffentlichkeit äußert sich aus
den verschiedensten Ecken mit Kritik. Die Soldaten
kritisieren die Kriegsführung, die Reservesoldaten
meckern über das Chaos und das Fehlen von Vorräten.
In allen Parteien
gibt es neue Oppositionsgruppen und drohende
Absplitterungen. In der Kadimapartei; in der Labor. Auch
bei Meretz brodelt es, weil die meisten ihrer Führer den
Kriegsdrachen fast bis zum letzten Augenblick
unterstützt hatten, als sie gerade noch seinen Schwanz
fingen und mit ihrer kleinen Lanze durchbohrten.
An der Spitze des
Kritikermarsches – welch Überraschung ! – die Medien.
Die ganze Horde der Interviewer und Kommentatoren,
Korrespondenten und „ Presstituierte“ (2) , die - mit
sehr wenigen Ausnahmen – über den Krieg begeistert
waren, die täuschten, in die Irre führten, verfälschten,
ignorierten, hinters Licht führten und fürs Vaterland
logen, die jede Kritik erstickten und jeden als Verräter
brandmarkten, der gegen den Krieg war. Sie laufen nun an
der Spitze des Lynchmobs. Wie vorauszusehen! Wie
unangenehm! Plötzlich erinnern sie sich an das, was wir
von Anfang des Krieges an gesagt haben.
Diese Phase wird
von Dan Halutz symbolisiert, dem Generalstabschef.
Gestern erst war er der Held der Massen – es war
verboten, nur ein Wort gegen ihn zu äußern. Nun wird er
als Kriegsgewinnler beschrieben. Einen Augenblick bevor
er seine Soldaten in die Schlacht sandte, fand er noch
Zeit, seine Aktien zu verkaufen, da er ein Fallen auf
dem Aktienmarkt erwartete. ( Hoffentlich hat er einen
Augenblick vor Kriegsende Zeit gefunden, die Aktien
wieder zurückzukaufen).
Der Sieg hat – wie
allgemein bekannt – mehrere Väter, und der Fehlschlag
ist ein Waisenkind.
AUS DER Menge der
Anklagen und Meckereien ragt ein Slogan hervor, ein
Slogan, der jedem einen Schauer über den Rücken laufen
lässt, der ein gutes Gedächtnis hat : „Die Politiker
ließen die Armee nicht gewinnen.“
Es ist genau so, wie
ich vor zwei Wochen schrieb: vor uns sehen wir die
Wiederbelebung des alten Rufs: „Sie stießen der Armee
einen Dolch in den Rücken.“
Und so läuft es:
Schließlich begann zwei Tage vor dem Ende, die
Landoffensive anzulaufen. Dank unserer tapferen
Soldaten, den Männern der Reserve, war sie ein
Riesenerfolg. Und dann – als wir gerade dabei waren,
einen großen Sieg zu erlangen, trat die Feuerpause in
Kraft.
Davon ist kein
einziges Wort wahr. Diese geplante und seit Jahren von
der Armee trainierte Operation wurde deshalb nicht eher
ausgeführt, weil es klar war, dass sie keine
nennenswerten Ziele erreichen, sondern nur Menschenleben
kosten würde. Die Armee würde tatsächlich große Gebiete
erobern können, aber nicht in der Lagen sein, die
Hisbollahkämpfer aus diesen zu verdrängen.
Die grenznahe Stadt
Bint Jbeil z.B. wurde dreimal von der Armee eingenommen,
doch die Hisbollahkämpfer blieben bis zum Schluss dort.
Wenn wir 20 Städte und Dörfer wie Bint Jbeil
eingenommen hätten, dann wären die Soldaten und Panzer
an 20 Orten den tödlichen Angriffen der Guerillas mit
ihren hoch effizienten Panzerfäusten ausgesetzt
gewesen.
Wenn es so ist,
warum hat man sich im letzten Augenblick entschlossen,
diese Operation dann doch noch auszuführen, obwohl die
UN schon fast das Ende der Feindseligkeiten ausgerufen
hatte? Die schreckliche Antwort: es war ein zynisches –
wenn nicht gar abscheuliches Manöver des gescheiterten
Trio. Olmert, Peretz und Halutz wollten ein „Bild des
Sieges“ schaffen, wie dann auch offen in den Medien
festgestellt wurde. Auf diesem Altar wurde das Leben von
33 Soldaten ( einschließlich einer jungen Frau)
geopfert.
Das Ziel war, die
siegreichen Soldaten am Ufer des Litani zu
photographieren. Die Operation konnte nur 48 Stunden
dauern, bis die Feuerpause in Kraft trat. Obwohl die
Armee Hubschrauber benützte, um Soldaten abzusetzen,
wurde das Ziel nicht erreicht. Nirgendwo hat die Armee
den Litani erreicht.
Zum Vergleich:
Während des 1. Libanonkrieges, dem von Sharon 1982,
überquerte die Armee den Litani in den ersten paar
Stunden. ( Der Litani ist übrigens kein Fluss mehr,
sondern ein schmaler Bach. Der größte Teil seines
Wassers wird weiter im Norden abgeleitet. Seine letzte
Strecke ist 25 km von der israelischen Grenze entfernt,
von Metulla aus sind es sogar nur 4km).
Als die Feuerpause
dieses Mal in Kraft trat, hatten alle teilnehmenden
Truppen Dörfer auf dem Weg zum Fluss erreicht. Dort
wurden sie wie zu Zielscheiben einer Schießbude, die
von Hisbollahkämpfern umgeben war, ohne sichere
Nachschubverbindungen. Von diesem Augenblick an hatte
die Armee nur noch einen Wunsch, sie dort so schnell wie
möglich herauszuholen, egal, wer ihren Platz dann
einnahm.
Wenn eine
Untersuchungskommission aufgestellt wird – wie es sich
gehört – und alle Schritte dieses Krieges untersucht,
und damit anfängt, wie die Entscheidung, den Krieg zu
beginnen, getroffen wurde, dann muss auch die
Entscheidung untersucht werden, wie die letzte Operation
begonnen wurde. Der Tod der 33 Soldaten (einschließlich
des Sohnes des Schriftstellers David Grossman, der den
Krieg zunächst unterstützt hat) und das große Leid
ihrer Familien verlangt dies.
ABER DIESE Fakten
sind der normalen Öffentlichkeit noch nicht klar. Die
Gehirnwäsche der Militärkommentatoren und Exgeneräle,
die in jener Zeit die Medien beherrschten, hat die
dumme, eigentlich möchte ich die „kriminelle“
Operation sagen, zu einer sensationellen Siegesparade
gemacht. Die Entscheidung der politischen Führung, den
Krieg zu stoppen, wird jetzt von vielen als ein Akt von
Defätisten, von rückgratlosen, korrupten und sogar
verräterischen Politikern angesehen.
Und das ist genau
der neue Slogan der faschistischen Rechten, die jetzt
ihren hässlichen Kopf erhebt.
Nach dem 1.
Weltkrieg kam unter ähnlichen Umständen die
Dolchstoßlegende auf, der „Dolch im Rücken der
siegreichen Armee“. Auf dieser Welle ritt Adolf Hitler
zur Macht und weiter zum 2. Weltkrieg.
Jetzt, noch bevor
der letzte gefallene Soldat beerdigt worden ist,
beginnen die inkompetenten Generäle schon schamlos über
eine „nächste Runde“, den nächsten Krieg, zu reden, der
sicher bald „in einem Monat oder in einem Jahr“ kommen
wird – so Gott will. Auf jeden Fall können wir die
Sache nicht so – mit einem Fehlschlag – beenden. Wo
bleibt unsere Ehre ?
DIE ISRAELISCHE
Öffentlichkeit ist in einem Zustand des Schocks und der
Desorientierung. Gerechtfertigte und ungerechtfertigte
Anklagen kommen aus allen Richtungen, und man kann nicht
voraussehen, wie sich die Sache weiter entwickeln wird.
Vielleicht wird am
Ende die Logik gewinnen. Die Logik sagt, was nun
gründlich demonstriert wurde: es gibt keine militärische
Lösung. Das trifft für den Norden zu. Das trifft genau
so für den Süden zu, wo wir mit einem ganzen Volk
konfrontiert sind, das nichts mehr zu verlieren hat. Der
Erfolg der libanesischen Guerilla wird die
palästinensische Guerilla nur ermutigen.
Damit die Logik
gewinnt, müssen wir gegen uns selbst ehrlich sein:
definieren wir unser Scheitern genau, untersuchen wir
seine tieferen Gründe, ziehen wir daraus die richtigen
Schlüsse!
Einige Leute wollen
dies um jeden Preis verhindern. Präsident Bush erklärt
lautstark, dass wir den Krieg gewonnen haben. Ein
glorreicher Sieg über die Bösen. Wie sein eigener Sieg
im Irak.
Wenn ein
Fußballteam den Schiedsrichter wählen kann, dann
überrascht es auch nicht, wenn es zum Sieger erklärt
wird.
1) Die
israelische Luftwaffe ließ Tausende von Bomben fallen
und zerstörte Dörfer, Stadtviertel von Beirut, die
Infrastruktur, Flughäfen, Straßen, Brücken, Kraftwerke,
Öltanks ....(Ergänzung der Übers.)
2) „Presstitution“
: neue Wortbildung von U.A.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser
autorisiert )
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