Über
Bomben und Comics
Uri Avnery, 6.10. 2012
MEINE
ERSTE Reaktion auf Benjamin Netanjahus Vorstellung von Comics bei
der UN-Vollversammlung war Scham.
Scham darüber, dass der oberste Vertreter meines
Landes sich zu so einem primitiven rhetorischen Kunstgriff
herablässt, den man fast kindisch nennen könnte.
(Ein israelischer Kommentator schlug vor, ihn mit
einer Menge Papier und Tusche auf einen Teppich zu setzen, wo er
nach Herzenslust malen könne.)
Er sprach vor einer halbleeren Halle (das israelische
Fernsehen zeigte während seiner Rede vorsichtshalber nicht die
ganze Halle), und die Zuhörerschaft bestand aus zweitklassigen
Diplomaten, aber diese waren noch gut erzogene Leute. Selbst
Netanjahu muss es klar gewesen sein, dass sie diese Schaustellung
verachteten. Aber Netanjahu sprach gar nicht zu ihnen. Er redete mit
der jüdischen Zuhörerschaft zu Hause in Israel und in den USA.
DIESE ZUHÖRERSCHAFT war stolz auf ihn. Es gelang ihm,
ihre tiefsten Gefühle anzusprechen.
Um dies zu verstehen, muss man auf historische
Erinnerungen zurückgreifen. Juden waren überall eine kleine,
hilflose Gemeinschaft. Sie waren vollkommen vom nicht-jüdischen
Herrscher abhängig.
Wann immer ihre Lage in Gefahr war, wählten die Juden
die prominenteste Person aus ihren Reihen, um ihr Problem vor den
Herrscher, den König oder Fürsten, zu bringen. Wenn dieser
„Fürsprecher“ ( auf hebräisch Shetadlan) erfolgreich und die Gefahr
abgewendet war, gewann er die Bewunderung der ganzen Gemeinde. In
einigen Fällen erinnerte man sich noch Generationen lang an ihn wie
an den mythischen Mordechai im biblischen Buch „Esther“.
Netanjahu erfüllte diese Funktion. Er ging direkt ins
Zentrum der nicht-jüdischen Macht, das heutige Äquivalent des
persischen Kaisers, und vertrat die Sache der Juden, die mit
Vernichtung durch den gegenwärtigen Erben Hamans des Bösen, bedroht
werden . (s. auch Buch „Esther“)
Und was für eine geniale Idee, die Zeichnung mit der
Bombe vorzuzeigen! Sie wurde auf den ersten Seiten von Hunderten von
Zeitungen und Nachrichtenprogrammen im Fernsehen rund um die Welt
gezeigt, einschließlich der New York Times!
Für Netanjahu war dies „die Rede seines Lebens“. Um
genau zu sein, wie ein TV-Kommentator trocken hinwies: es war die
8.Rede seines Lebens vor der UN-Vollversammlung.
Seine Popularität sprang in neue Höhen. Moses selbst,
der höchste Fürsprecher am Hof des Pharao, hätte es nicht besser
machen können.
DIE CRUX der Sache lag aber irgendwo verborgen
zwischen dem Schwall von Worten.
Der „unvermeidliche“ Angriff auf Irans nukleare
Einrichtungen, um einen zweiten Holocaust zu verhindern, wurde auf
das nächste Frühjahr oder den Sommer verschoben. Nach der
monatelangen
Drohung, dass der tödliche Angriff kurz bevorstehe,
jede Minute gar - es war keine Minute zu versäumen - verschwand im
Nebel der Zukunft.
Warum? Was war geschehen?
Nun ja, ein Grund war die Umfrage, die anzeigte, dass
Barack Obama wieder gewählt werden könnte. Netanjahu hatte
beharrlich alle seine Karten auf Mitt Romney, seinen ideologischen
Klon, gesetzt. Aber Netanjahu glaubt auch bedingungslos an Umfragen.
Es scheint, dass seine Berater ihn davon überzeugt haben, auf Nummer
sicher zu gehen. Der üble Obama mag trotz Sheldon Adelsons Millionen
gewinnen. Besonders jetzt, nachdem der Milliardär George Sorros sein
Geld auf den amtierenden Präsidenten gesetzt hat.
Netanjahu hatte die brillante Idee, den Iran direkt
vor den US-Wahlen anzugreifen. Er hoffte, dass die Hände aller
amerikanischen Politiker gebunden sein würden. Wer würde es wagen,
zu diesem Zeitpunkt Israel zurück zu halten? Wer würde sich
weigern, Israel zu helfen, wenn die Iraner zurückschlagen?
Aber wie so viele von Netanjahus brillanten Ideen, so
ist auch diese ein Flop. Obama hat Netanjahu in klaren Worten
gesagt: Kein Angriff vor den Wahlen - oder …
DER NÄCHSTE Präsident der USA – wer immer es sein mag
– wird Netanjahu genau dasselbe auch nach den Wahlen sagen.
Wie ich schon früher gesagt habe (man möge mich
entschuldigen, dass ich mich wieder selbst zitiere), ein
militärischer Angriff auf den Iran kommt nicht in Frage. Der Preis
ist unerträglich hoch. Die geographischen, wirtschaftlichen und
militärischen Fakten wirken zusammen, um dies zu verhindern. Die
Meerenge von Hormuz würde geschlossen werden, die Weltwirtschaft
würde zusammenbrechen, ein langer und verheerender Krieg wäre die
Folge.
Selbst wenn Mitt Romney an der Macht wäre, umgeben
von einer Menge von Neo-Cons würde es kein bisschen diese Fakten
ändern.
Obamas Sache wird durch die aus dem Iran kommenden
wirtschaftlichen Nachrichten sehr gestärkt. Die internationalen
Sanktionen haben erstaunliche Ergebnisse. Die Skeptiker – von
Netanjahu angeführt – werden widerlegt.
Im Gegensatz zu den anti-islamischen Karikaturen ist
der Iran ein normales Land mit einer normalen Mittelklasse und
Bürgern mit hohem politischem Bewusstsein. Sie wissen, dass Mahmoud
Achmadinejad ein Tor ist. ( Falls er tatsächlich eine Atombombe
produzieren wollte, hätte er dann wirklich all diese idiotischen
Reden über Israel und/oder den Holocaust gehalten? Hätte er dann
nicht eher seinen Mund gehalten und im Stillen hart gearbeitet ?)
Aber da er sowieso weggeht, braucht man gerade jetzt keine
Revolution machen.
Das praktische Ergebnis: Tut mir leid: kein Krieg.
DIE GANZE Affäre bringt uns wieder auf die
Walt-Mearsheimer-Kontroverse. Kontrolliert Israel die US-Politik?
Wedelt der Schwanz mit dem Hund?
Zu einem sehr großen Teil ist dies zweifellos der
Fall. Es genügt, der gegenwärtigen Wahlkampagne zu folgen und
wahrzunehmen, wie beide Kandidaten mit der israelische Regierung in
unterwürfiger Weise umgehen, mit einander konkurrieren, wer den
andern mit schmeichelnden Worten und Unterstützung übertrifft.
Jüdische Stimmen spielen eine bedeutende Rolle in
Pendelstaaten*, und jüdisches Geld spielt eine große Rolle bei der
Finanzierung beider Kandidaten (O tempora- o mores! Es gab einmal
einen jüdischen Witz: Ein polnischer Edelmann bedrohte seinen
benachbarten Edelmann: „Wenn du meinen Juden schlägst, werde ich
deinen Juden schlagen!“ Jetzt bedroht ein jüdischer Milliardär einen
andern jüdischen Milliardär: Wenn du deinem Goi eine Million
schenkst, gebe ich meinem Goi eine Million!“)
Die Nahost-Politik des Obama-Regierungsstabes ist von
zionistischen Juden besetzt bis zum US-Botschafter in Tel Aviv, der
ausgezeichnet Hebräisch spricht. Dennis Ross, der den
Nahost-Friedens begrub, scheint überall zu sein. Romney’s Neo-Cons
sind auch meistens Juden.
Juden haben einen sehr großen Einfluss - bis zu
einem gewissen Punkt. Dieser Punkt ist extrem wichtig.
Ein kleines Beispiel: Jonathan Pollard, der
amerikanisch-jüdische Spion, bekam eine lebenslängliche
Gefängnisstrafe. Viele Leute (einschließlich meiner selbst) halten
diese Strafe für ungebührlich hart. Doch kein Amerikaner wagte zu
protestieren, auch AIPAC verhielt sich ruhig, und kein
amerikanischer Präsident wurde von israelischem Ersuchen zur Milde
umgestimmt. Das für die Sicherheit zuständige US-Establishment sagte
nein, und dabei blieb es.
Der Krieg gegen den Iran ist eine Million mal
bedeutender. Er betrifft lebenswichtige amerikanische Interessen.
Das amerikanische Militär ist dagegen (wie auch das israelische
Militär). Jeder in Washington DC weiß, dass dies keine Nebensache
ist. Es berührt die eigentliche Basis der amerikanischen Macht in
der Welt.
Und wer hätte das gedacht: die USA sagen gegenüber
Israel „Nein“. Der Präsident sagt kühl, in Sachen lebenswichtiger
Sicherheitsinteressen kann kein fremdes Land den US-Chef-Kommandeur
zwingen, rote Linien ziehen und ihn selbst in einen Krieg ziehen .
Nicht einmal mit Hilfe von Zeichnungen aus einem Comicbuch.
Die Israelis sind entsetzt. Was? Wir, das von Gott
erwählte Volk, sind Fremde? Genau wie andere Ausländer?
Dies ist eine sehr wichtige Lektion. Wenn sich die
Dinge zuspitzen, dann ist der Hund ein Hund und der Schwanz noch
immer ein Schwanz.
WAS IST es also mit Netanjahus Iran- Engagement?
Vor kurzem wurde ich von einem ausländischen
Journalisten gefragt, ob Netanjahu die Beendigung der militärischen
Option gegen den Iran überleben wird, nachdem er monatelang über
nichts anderes geredet hat. Wie ist es mit dem iranischen Hitler?
Was ist mit dem bevorstehenden Holocaust?
Ich sagte zu ihm, er solle sich darüber keine Sorgen
machen. Netanjahu kann leicht damit fertig werden, indem er
erklärt, die ganze Sache sei eine List gewesen, damit die Welt
strengere Sanktionen gegen den Iran verhänge.
Aber war es das?
Einflussreiche Leute in Israel sind in zwei Gruppen
geteilt, die zwei Meinungen vertreten.
Das erste Lager macht sich Sorgen, dass unser
Ministerpräsident wirklich übergeschnappt sei. Dass er von der Idee
Iran besessen sei, vielleicht krankhaft unausgewogen, dass der Iran
für ihn zu einer fixen Idee wurde.
Das andere Lager ist davon überzeugt, dass die ganze
Sache von Anfang an ein Trick war, um unsere Aufmerksamkeit von dem
einen Problem abzulenken, mit dem wir uns wirklich befassen sollten:
Frieden mit den Palästinensern.
Darin war er sehr erfolgreich. Seit Monaten stand
Palästina weder auf Israels Agenda noch auf der der Welt.
Palästina? Frieden? Was für ein Palästina? Was für ein Frieden? Und
während die Welt auf den Iran wie ein hypnotisiertes Kaninchen auf
die Schlange starrt, werden Siedlungen vergrößert und die Besatzung
verstärkt – und wir segeln stolz auf eine Katastrophe zu.
Und das ist keineswegs eine Geschichte aus einem
Comicbuch.
*bei den meisten Staaten in den USA steht von
vornherein fest, wer gewählt wird, bei einigen andern ( z.B.
Florida) aber nicht und um die geht es beim Wahlkampf – das sind die
sog. „swing states“ – Pendelstaaten)
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs,
vom Verfasser autorisiert)