Wen soll man wählen?
Uri Avnery, 23.3.06
ICH GLAUBE, es ist etwa
das 15. Mal, dass ich solch einen Artikel schreibe. Am
Vorabend jeder Knessetwahl lege ich meine Zweifel und
meine inneren Kämpfe dar. Ich sag den Leuten nicht, wie
sie wählen sollen. Ich versuche, dem Wähler,
einschließlich mir, zu helfen, seine Gedanken zu ordnen
und einen logischen Beschluss zu fassen, jeder nach
seinem eigenen Gewissen und Verständnis.
Natürlich weiß ich, dass
keiner von uns seine Wahl nur auf der Basis von Logik
macht. Viele Faktoren beeinflussen einen Wähler auf dem
Weg zur Wahlurne, einige bewusst, einige unbewusst:
Loyalität zur Familie oder Rebellion gegen sie,
Loyalität zu einer Partei, Sympathie mit einem Führer
oder Antipathie gegen einen anderen, Zugehörigkeit zu
einer Gruppe oder Gemeinschaft, die Ansichten der Leute
um uns – alles dies hat seinen Einfluss. Aber
vernünftige und selbstbewusste Leute werden trotz allem
versuchen, dass die Logik mitbestimmt.
Meine Überlegungen
können nur Leuten helfen, die ähnliche Ansichten haben
wie ich. Das bedeutet, Leute, die glauben, dass das
Erreichen eines israelisch-palästinensischen Friedens
für die Zukunft Israels wesentlich ist, dass das
Ignorieren von Moral und Gerechtigkeit auf Dauer nicht
im nationalen Interesse ist, dass die Fortsetzung der
Besatzung auch für uns eine Katastrophe ist, dass
Frieden durch Verhandlungen mit der palästinensischen
Führung erreicht werden kann, dass er sich auf
gegenseitiger Anerkennung und Achtung zwischen dem Staat
Israel und dem zukünftigen Staat Palästina gründet, dass
die Grenze zwischen ihnen auf der Grünen Linie basiert,
dass Jerusalem die Hauptstadt von beiden Staaten sein
muss.
Wen kann man wählen,
wenn man diese Ansichten vertritt?
VOR ALLEN Überlegungen
steht der kategorische Imperativ: Jeder muss wählen.
Es ist leicht und
verlockend zu sagen: da ist ja niemand, den man wählen
kann. Sie sind alle korrupte Heuchler. Es gibt keinen
wirklichen Unterschied zwischen ihnen. Warum sich also
die Mühe machen? Warum sich selbst beschmutzen? Warum
ein Partner dieser Leute sein?
Das lässt vermuten,
wenn man nicht wählt, stärkt dies die Überzeugungen des
Nichtwählers. Oder: dass dieser Protest irgendwo
registriert wird und so jemanden beeinflusst. Das ist
ein großer Irrtum. Ein total logischer Trugschluss.
Ich will es erklären:
wenn jemand wählt, unterstützt er eine bestimmte
Wahlliste. Wenn er Liste X wählt, geht seine Stimme zu
100% zu Liste X. Wenn er nicht wählt oder einen
unausgefüllten Wahlzettel abgibt , lässt er die anderen
Wähler das Ergebnis bestimmen. Er nützt seine
Möglichkeit nicht, das Gleichgewicht der Kräfte zu
ändern. Tatsächlich bestätigt er nur die Wahl der
andern. Es ist, als ob er seine Stimme zwischen der
Rechten, der Mitte und der Linken teilt, entsprechend
der Entscheidung der allgemeinen Wählerschaft.
Ich hoffe, dass keiner,
der den Frieden unterstützt, versucht sein wird, diesen
unwirksamen Kurs zu wählen.
NACHDEM WIR uns zu
wählen entschieden haben, müssen wir uns entscheiden,
welche Hauptprinzipien uns leiten sollen.
Bei diesen Wahlen – wie
bei fast allen vorausgegangenen – stehen wir einem
Dilemma gegenüber: Die unseren Überzeugungen nach
nächste Liste, ist notwendigerweise nicht die, die sie
in der Praxis auch realisieren kann
Wenn dem so ist, was
wäre wichtiger? Soll ich meine einzige kostbare Stimme
einer Liste geben, die dem am nächsten kommt, woran ich
glaube, selbst wenn ihre Chance, die Entscheidung in
den nächsten paar Jahren zu beeinflussen, gering ist?
Oder soll ich eine Liste wählen, die weniger nah an
meinen Optionen liegt, aber das Geschehen tatsächlich
beeinflussen kann?
Was ist moralischer –
meinem Credo eine Stimme verleihen und eine Partei
wählen, die außerhalb des Entscheidungsgremiums bleibt
oder einen Kompromiss machen und eine Partei wählen, die
die Chance hat, wenigstens einen Teil der Dinge zu
verwirklichen, von denen man selbst überzeugt ist? Kurz
gesagt: das Wünschenswerte oder das Durchführbare
wählen?
Dies ist ein wirkliches
Dilemma. Möge es keiner verharmlosen. Ich beabsichtige
nicht, jemanden in seiner Wahl zu beeinflussen. Jeder
muss selbst die Entscheidung treffen. Falls ich
überhaupt helfen kann, dann nur, die Bedeutung der
einzelnen Wahl zu klären.
DIE LISTE, die dem am
nächsten kommt, was ich anfangs skizzierte, ist Hadash
mit der kommunistischen Partei in ihrem Zentrum.
Seit dem Kollaps der
Sowjetunion sind viele Zweifel, die ich in der
Vergangenheit gegenüber dieser Partei hatte, irrelevant.
Weder die Marxistische Ideologie noch Erinnerungen an
Stalin spielen jetzt eine Rolle.
Das Problem mit Hadash
ist ein ganz anderes: in der öffentlichen Meinung ist
sie eine der „arabischen Parteien“. In der jetzt zu Ende
gehenden Knesset hatte sie kein einziges jüdisches
Mitglied. In der nächsten Knesset wird sie
wahrscheinlich eines haben: Dov Hinin, einen Anwalt,
die Nr.3 auf der Liste, eine talentierte, anständige und
aktive Person. Aber das Image der Partei ist eben
„arabische Partei“. Die überwiegende Menge ihrer Wähler
werden Araber sein, und die Wahlkampagne wird fast ganz
auf arabischen Straßen stattfinden.
Dies sollte keinen
progressiven israelischen Wähler daran hindern, sie zu
wählen. Wir wollen einen Staat, in dem alle seine Bürger
gleich sind, unabhängig von seiner Herkunft. Aber es
wird einen entscheidenden Einfluss auf die Fähigkeit der
Partei haben, die Politik des Staates zu beeinflussen.
Unser Hauptziel ist es, die Meinung der jüdischen
Mehrheit in Israel zu verändern, da nur solch eine
Änderung in der Lage ist, die Politik des Landes zu
verändern.
Schon seit der Gründung
des Staates Israel waren arabische Bürger vom
entscheidungstreffenden Prozess ausgeschlossen. Das ist
eine beschämende Situation, und wir müssen mit all
unserer Kraft dafür kämpfen, dass dies ein Ende hat.
Doch gibt es überhaupt keine Chance, dass dies während
der 17. Knessetperiode geschehen wird. Die
Hadash-Fraktion wird sich am Rande befinden. Die
Mehrheit der Öffentlichkeit wird versuchen, sie zu
ignorieren.
Wir müssen hier die
erste Entscheidung treffen: sollte man eine isolierte
Oppositionspartei, die nah an den eigenen Überzeugungen
liegt, wählen oder eine Partei, die diesen weniger nah
ist, aber die in der Regierung oder in der Opposition
die Mehrheit beeinflusst. Die erste Alternative führt zu
Hadash, die zweite zu Meretz oder Labor.
SOLLTEN WIR Meretz
wählen? Unter den „jüdischen“ Parteien ist sie sicher
unsern anfangs skizzierten Ansichten am nächsten. Ihr
Führer Yossi Beilin hatte vor Jahren die Genfer
Initiative gestartet, die als inoffizielles Programm
von Meretz gilt.
Meretz macht kein
Geheimnis aus ihrem sehnlichen Wunsch, ein Partner der
nächsten Regierung zu sein, wenn sie von Ehud Olmert
geführt wird. Das ist eine problematische Position.
Olmert beabsichtigt offen die Annexion von großen
Teilen der Westbank. Da er keine definitive Karte
zeichnet, kann diese Annexion minimal (sagen wir mal
15%) oder maximal (vielleicht 55% der Westbank) sein.
Sie kann das Jordantal und die „Siedlungsblöcke“
einschließen – ein Terminus – der (seltsam genug) von
Beilin geprägt wurde. Die Blöcke können größer oder
kleiner sein.
Wenn Meretz sich der
Regierung anschließen wird, dann wird es – außer den
„arabischen“ Parteien - keinerlei linke Opposition in
der Knesset geben. Andrerseits kann Meretz behaupten,
dass ihre Gegenwart im Kabinett mit dazu beitragen kann,
die Ausdehnung der Annexion zu begrenzen.
Eines der Probleme mit
Meretz betrifft Beilin persönlich. Vor kurzem hatte er
ein sehr öffentliches Frühstück mit Avigdor Liberman,
einem der schlimmsten Rassisten der Gegend. Nachdem er
mit ihm einen „saftigen Hering“ geteilt hatte, kündigte
er an, dass Liberman, der nicht bereit ist, irgendwelche
Araber in Israel zu tolerieren, ein wirklich guter und
netter Kerl sei, weise und fähig . War das der Beginn
einer wunderbaren Freundschaft?
Ich bin sicher, dass
die Heringe gut geschmeckt haben. Aber es ist schwierig
für mich, für einen Führer zu stimmen, der sich mit
einem fanatischen Rassisten einlässt, und was noch
schlimmer ist, ihm öffentliche Legitimität einräumt –
noch dazu am Vorabend der Wahlen.
MEINE GRÖSSTE Frage
betrifft die Laborpartei.
Die Wahl von Amir Peretz
zum Parteivorsitzenden machte mich glücklich. Es war
nicht nur ein Personalwechsel. Es ging um eine
qualitative Veränderung in der israelischen
Gesellschaft.
Seit vielen Jahren ist
uns schmerzlich bewusst, dass mehr als die Hälfte der
jüdischen Bevölkerung in Israel, die „orientalische“
Öffentlichkeit, dem Friedenslager weitgehend fremd und
von ihm abgeschnitten ist, das eigentlich ihr
natürliches Zuhause sein sollte. Ich war immer davon
überzeugt, dass die Lösung dieses Paradoxon unsere
wichtigste und schwierigste Aufgabe sei. Und nun ist ein
gebürtiger Marokkaner zum Führer der Labor gewählt
worden. Das durchbricht alle gewohnten Muster der
politischen Arena. Dies wird weit reichende Konsequenzen
haben - wenn nicht bei dieser, dann bei der nächsten
Wahl.
Ich kenne Peretz nicht
persönlich. Aber er beeindruckt mich als
interessierter, intelligenter und starker Führer mit
soliden Prinzipien, nicht nur was die sozialen
Angelegenheiten betreffen ( die an sich schon wichtig
genug sind), sondern auch den Frieden. Er hat eine Menge
Erfahrung als Vermittler, und er versteht die Bedeutung
des Verhandelns mit der palästinensischen Führung. Es
tut mir leid, dass dieser Teil seiner Botschaft
unterdrückt, ja, von seinen Marketingexperten, die jetzt
die Labor-Wahlkampagne anführten, fast verschwiegen
wurde.
Wenn man seine Stimme
einer Partei geben will, die die beste Chance hat, die
Entscheidungen der
nächsten Regierung zu
beeinflussen, dann kann man Peretz wählen. Je größer die
Laborfraktion im Vergleich zu Kadima ist, um so größer
wird auch ihr Anteil an der Regierung und in ihrem
Entscheidungsprozess sein. Um so stärker wird auch
Peretz’ eigener Stand innerhalb seiner Partei sein –
gegenüber den noch aus der Peres-Barak-Ära Verbliebenen.
Da gibt es noch etwas,
das für Peretz spricht. Auf dem Weg zu den Wahlurnen zur
17. Knesset müssen wir schon an die 18. denken.
Politisch-psychologische Prozesse bewegen sich in Israel
sehr langsam. (nach dem Yom Kippur-Krieg erhob sich z.B.
eine riesige Wut gegen die Führer von Labor, besonders
gegen Golda Meir und Mosche Dayan . Aber der große
Wechsel geschah nicht bei den Wahlen unmittelbar nach
dem Krieg, sondern erst vier Jahre später).
Ich kann mir vorstellen,
dass Peretz genügend Sitze gewinnen wird, dass er ein
wichtiger Minister im nächsten Kabinett wird,
Erfahrungen auf der Regierungsebene sammelt, seine
Partei vom alten Team befreit und einen neuen Geist
einführt. Dann wird er ein starker Kandidat für den
Ministerpräsidentenposten bei den übernächsten Wahlen
darstellen, die vielleicht schon in ein oder zwei
Jahren stattfinden werden. Das ist nicht sicher, aber
sicherlich möglich.
Auf der andern Seite
können wir nicht sicher sein, dass die Laborpartei
wirklich an ihrem Kurs festhält. Vielleicht wird eine
Stimme für Labor am Ende Olmerts sharonistisches
Programm bestärken, besonders da das Programm der Partei
nicht die jetzige Route der Mauer (in den
palästinensischen Gebieten) anzweifelt.
Es scheint, dass bei
Wahlen – im Gegensatz zu andern politischen Aktionen –
die Wahl besteht, zwischen sauber und korrekt zu bleiben
und die Möglichkeit, die man einmal in vier Jahren hat,
aufzugeben oder die Möglichkeit zu nutzen, das
politische Gleichgewicht in unserm Lande zu kippen und
den Frieden ein wenig näher zu bringen.
Es ist eine schwere
Entscheidung.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser
autorisiert) |