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Blind in Gaza
Uri Avnery, 8.Juli 2017
ICH MUSS
ein ungewöhnliches Geständnis machen: Ich liebe Gaza.
Ja, ich liebe den
schmalen Streifen auf dem Weg nach Ägypten, diese entfernte Ecke
Palästinas, in dem zwei Millionen Menschen zusammen gedrängt leben,
und das der Hölle näher ist als dem Himmel.
Mein Herz wendet
sich ihnen zu. Ich denke viel daran.
ICH HABE
viel Zeit im Gazastreifen verbracht. Ein- oder zweimal verbrachte
ich mit Rachel einige Tage dort. Wir freundeten uns mit einigen
Leuten an, die ich bewunderte, Menschen wie Dr.Haidar Abd-Al-Shafi,
der linke Arzt, der das Gaza-Gesundheitssystem aufbaute und Rashad
al Shawa, den früheren Bürgermeister, ein wirklicher Aristokrat.
Als Yasser Arafat
nach dem Oslo-Abkommen wieder ins Land zurückkam und sein Büro in
Gaza eröffnete, traf ich ihn viele Male. Ich brachte Gruppen von
Israelis zu ihm. An seinem ersten Tag setzte er mich auf das Podium
neben sich. Ein Foto von dieser Gelegenheit sieht jetzt wie
Science fiction aus.
Ich habe sogar die
Hamas-Leute kennen gelernt. Als Yitzhak Rabin vor Oslo 415
islamische Aktivisten aus dem Land vertrieb, nahm ich mit Zelten am
Protest gegenüber seinem Büro teil. Wir lebten zusammen: Juden,
Christen und Muslime – und dort wurde auch Gush Shalom geboren.
Nach einem Jahr, als die Deportierten zurück durften, wurde ich zu
einem öffentlichen Empfang für sie nach Gaza eingeladen und fand
mich vor Hunderten bärtigen Gesichtern eine Rede halten. Unter
ihnen waren einige der heutigen Hamas-Führer.
Deshalb kann ich
die Bewohner des Gazastreifens nicht wie eine gesichtslose graue
Masse von Menschen betrachten. Ich muss immer an sie zu denken,
besonders während der schrecklichen Hitzewelle, an die Menschen, die
unter schrecklichen Bedingungen schmachten, ohne Strom ohne
Air-Condition, ohne sauberes Wasser, ohne Medizin für die
Kranken. Ich dachte an jene, die jetzt in während der letzten Kriege
schwer beschädigten und nicht wieder reparierten Häusern leben. An
die Männer und Frauen, die Alten, die Kinder, die Kleinkinder und
die Babys.
Mein Herz blutete
und fragte, wer muss angeklagt werden. Wer ist schuld?
Ja, wer ist schuld
an dieser ständig weiter gehenden Brutalität?
NACH DEN
Israelis „ sind die Palästinenser selbst schuld“. Tatsache ist: die
palästinensische Führung in Ramallah hat entschieden, die Lieferung
von elektrischem Strom nach Gaza von drei auf zwei Stunden zu
beschränken. (der Strom wird von Israel geliefert und von der
Palästinensischen Behörde in Ramallah bezahlt)
Dies scheint wahr
zu sein. Der Konflikt zwischen der PA, geleitet von Fatah, und der
palästinensischen Führung in Gaza, von der Hamas geleitet, gerät an
einen hässlichen Höhepunkt.
Der nicht
beteiligte Zuschauer fragt sich selbst, wie kann das nur sein?
Schließlich ist das ganze palästinensische Volk in existentieller
Gefahr. Die israelische Regierung tyrannisiert alle Palästinenser,
in der Westbank und im Gazastreifen. Sie hält den Gazastreifen unter
einer strangulierenden Blockade: vom Land, vom Meer und von der Luft
und baut Siedlungen in der ganzen Westbank, um die Bevölkerung zu
vertreiben.
Wie können die
Palästinenser In dieser verzweifelten Situation gegen einander
kämpfen – zum offensichtlichen Entzücken der Besatzungsbehörden?
Das ist
schrecklich, aber trauriger Weise, nicht einmalig. Im Gegenteil,
fast in allen Befreiungskämpfen ist Ähnliches geschehen. Während des
irischen Kampfes um Unabhängigkeit kämpften die Freiheitskämpfer
gegen einander und erschossen sich sogar gegenseitig. Während
unseres eigenen Kampfes um Staatlichkeit lieferte die
Untergrund-Haganah die Irgun-Kämpfer an die britische Polizei aus,
die sie folterte Später hat die Haganah sogar ein Schiff beschossen,
das der Irgun Rekruten und Waffen brachte.
Aber diese und
viele andere Beispiele rechtfertigen nicht, was jetzt in Gaza
geschieht. Der Kampf zwischen Fatah und Hamas auf dem Rücken von
zwei Millionen Menschen verurteilt diese zu unmenschlichen
Bedingungen.
Als alter Freund
des palästinensischen Volkes in ihrem Befreiungskampf bin ich sehr
traurig.
DOCH GIBT
es noch mehr Partner bei dieser brutalen Blockade Gazas.
Israel kann den
Streifen nur von drei Seiten blockieren. Die vierte Seite ist die
ägyptische Grenze. Ägypten, das in der Vergangenheit vier größere
Kriege gegen Israel wegen der palästinensischen Brüder kämpfte (In
einem von ihnen wurde ich von einem ägyptischen Maschinengewehr
verletzt) nimmt jetzt an der grausamen Blockade des Streifens
teil.
Was ist geschehen?
Wie ist es geschehen?
Jeder, der das
ägyptische Volk kennt, weiß, dass es eines der attraktivsten Völker
auf Erden ist. Ein sehr stolzes Volk. Ein Volk voller Humor, sogar
unter den schwierigsten Umständen. Mehrere Male hörte ich in Ägypten
Phrasen wie „wir lieben die Palästinenser nicht sehr, aber sie sind
unsere armen Cousins und wir können sie unter keinen Umständen
allein lassen!“
Und das tun sie
jetzt. Sie haben sie nicht nur verlassen, sondern arbeiten mit der
grausamen Besatzung zusammen.
Warum dies? Weil
die lokalen Herrscherin Gaza religiöse Fanatiker sind, genau wie
die muslimischen Brüder in Ägypten, die die Todfeinde des heutigen
Pharaoh General Abd al-Fatah a Sissi sind. Wegen dieser Feindschaft
werden Millionen Menschen in Gaza bestraft.
Jetzt geht ein
Gerücht um, dass Ägypten nachgeben würde, wenn die Gazaner mit ihrem
ägyptischen Strohmann als Herrscher einverstanden wären.
Die israelische
Blockade von Gaza ist vollkommen von der ägyptischen Blockade
abhängig. Stolzes Ägypten, das behauptet, der Führer der ganzen
arabischen Welt zu sein, ist zur Dienerin der israelischen Besatzung
geworden.
Wer würde das je
geglaubt haben?
ABER DIE
Hauptverantwortung für die Brutalität in Gaza liegt natürlich bei
uns, bei Israel.
Wir sind die
Besatzer – eine neue Art von Besatzung durch Blockade.
Die Begründung ist
klar. Sie wollen uns zerstören. Dies ist die offizielle Doktrin der
Hamas. Die Maus schleudert schreckliche Bedrohungen gegen den
Elefanten.
Stimmt. Aber…
Aber wie alle
religiösen Leute finden sie hundert verschiedene Wege, um Gott zu
täuschen und seine Verbote zu hintergehen.
Hamas hat erklärt,
wenn Mahmoud Abbas mit Israel Frieden machen und wenn das
palästinensische Volk den Frieden durch eine Volksabstimmung
bestätigen würde, dann würde Hamas dies akzeptieren.
Der Islam erlaubt
auch für jede Zeitdauer einen Waffenstillstand mit Ungläubigen -
10, 50, 100 Jahre. Allah ist groß.
Auf viele
verborgene Art und Weise kooperiert Israel mit Hamas, besonders
gegen die noch extremeren Islamisten im Streifen. Wir könnten
leicht einen Modus vivendi finden.
WARUM MUSS
also das Volk in Gaza so schwer leiden? Keiner weiß das wirklich.
Wegen der mentalen Faulheit der Besatzung. Weil wir es so gewöhnt
sind.
Hier ist eine
politische Übung. Was, wenn wir genau das Gegenteil machen?
Was, wenn wir dem
Volk im Gaza-Streifen verkündigen: Die palästinensische Behörde in
Ramallah zahlt jetzt nur für zwei Stunden am Tag den Strom. Aber
weil Israel euer Leiden sieht, hat es sich entschieden euch 24
Stunden lang kostenlos den Strom zu liefern.
Wie würde sich das
auswirken? Wie würde Hamas reagieren? Wie würde das die Gewalt
reduzieren und die Sicherheitskosten?
Auf die Dauer gibt
es viele israelische und internationale Pläne. Eine künstliche Insel
im Mittelmeer vor Gaza. Ein Flugplatz auf der Insel. Ein
Tiefseehafen. Tatsächlich Frieden sogar ohne Erklärungen.
Ich glaube, dass
dies der weiseste Weg wäre, den man gehen sollte. Aber leider hat
die Weisheit wenige Chancen.
UNTERDESSEN GEHT
die Brutalität weiter. Zwei Millionen Menschen leiden unter
unmenschlicher Bedingungen.
Und die Welt? Sie
ist leider zu beschäftigt. Sie ist blind für Gaza. Es ist besser,
nicht an diesen fürchterlichen Ort zu denken.
(dt. Ellen Rohlfs,
vom Verfasser autorisiert)
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