Daphni ist wieder da
Uri Avnery, 30.Juni 2012
SAG ES keinem, dass ich bei vielen Demonstrationen
insgeheim wünschte, dass die Polizei kommen und uns zusammenschlagen
würde – denn wir standen und proklamierten unsere Botschaft des
Friedens und der Gerechtigkeit und wussten, und dass keines der
Worte in den Medien erscheinen würde.
Die Brutalität der Polizei würde die Medien anziehen,
die unsere Botschaft an die allgemeine Öffentlichkeit vermitteln
würde – was ja schließlich der ganze Zweck der Übung war.
Das geschah letzte Woche.
ERINNERT MAN sich noch an Daphni Leef? Sie war die
junge Frau, die ihre Miete nicht zahlen konnte, ein Zelt auf Tel
Avivs zentralen Rothschild-Boulevard aufstellte und damit eine
Protestbewegung begann, die letzten Endes fast eine halbe Million
Menschen zu einer Massensozialprotestdemonstration brachte.
Ihr Slogan war – den Tahrir Platz nachahmend – „ Das
Volk fordert soziale Gerechtigkeit!“
Wie wir alle waren auch die Behörden völlig
unvorbereitet. Die Politiker taten, was sie immer in solch einer
Situation tun, wenn sie einem neuen und drohenden Phänomen
gegenüberstehen: die Regierung trat einen Rückzug an, ernannte ein
Komitee , nahm feierlich seine Vorschläge an - und tat nichts.
Seit Ende des „sozialen Sommers“ hat sich so gut wie
nichts verändert. Wenn es überhaupt irgendeine Bewegung gab, war es
nur schlimmer geworden. Die Generaldirektoren verdoppelten ihre
Gehälter , und die Armen waren noch weniger in der Lage, ihre
Mieten zu zahlen.
Ende des Sommers schickte Tel Avivs Bürgermeister,
Ron Huldai, dem Namen nach ein Mitglied der Labourpartei, seine
„Inspektoren“, um die hundert Zelte auf dem Boulevard abzureißen.
Der Protest ging in einen verlängerten Winterschlaf, und die gute
alte „Sicherheit“ strich die „soziale Gerechtigkeit“ aus der
Agenda.
Jeder erwartete den Protest, dass er wie
Dornröschen in diesem Sommer wieder zum Leben erwachte. Die Frage
war nur: wie?
NUN IST es geschehen. Mit dem offiziellen Beginn des
Sommers, am 21. Juni, begann der Protest wieder.
Es gab keine neue Ideen. Daphni und ihre Freunde
glaubten offensichtlich, dass es die beste Art und Weise wäre, den
Erfolg des letzten Jahres zu wiederholen - genau wie er war.
Sie gingen wieder zum Rotschild-Boulevard,
versuchten, ihre kleinen Zelte aufzustellen und riefen die Massen
auf, sich ihnen anzuschließen.
Aber es gab es einen großen Unterschied zwischen
diesem und dem letzten Jahr.
Jeder Stratege weiß, dass im Krieg Überraschung schon
den halben Sieg bedeutet. Dasselbe gilt auch bei politischen
Aktionen.
Im letzten Jahr war die Überraschung vollständig. Wie
1973 die ägyptische Überquerung des Suezkanals an Yom Kippur
überraschten Daphni und ihre Freunde jeden, einschließlich sich
selbst. Überraschungen kann man aber nicht wie Kaffee aufwärmen.
Dieses Mal waren die Behörden vorbereitet.
Langwierige – wohl auch geheime - Beratungen hatten offensichtlich
stattgefunden. Der Ministerpräsident war entschieden, sich nicht
noch einmal demütigen zu lassen – nicht nachdem ihn das TIME-Magazin
als „König Bibi“ gekrönt hatte und dem das vulgäre deutsche
Massenblatt BILD folgte und auch seine Frau Sara inthronisierte. (Sara’le,
wie sie allgemein genannt wird, ist so populär wie Marie Antoinette
zu ihrer Zeit.)
Der Befehl Netanjahus und seiner Trabanten für die
Polizei war, jeden Protest von Anfang an energisch zu unterbinden.
Der Bürgermeister entschied, den Boulevard in eine Festung gegen die
Zeltbewohner zu verwandeln. (Das französische Wort „Boulevard“ kommt
vom deutschen Wort „Bollwerk“, das Festung bedeutet, weil die Bürger
gerne auf den Stadtwällen spazieren gingen. Sie tun es in der
wunderschönen toskanischen Stadt Lucca noch heute.
Es schien, als habe Netanjahu eine Menge von Vladimir
Putin gelernt, der ihm in dieser Woche einen Höflichkeitsbesuch
abstattete. Vor Wochen wurden die Protestführer des letzten Jahres
von der Polizei herbeizitiert und über ihre Pläne ausgefragt – in
Israel etwas Unerhörtes (jedenfalls für Juden innerhalb der Grünen
Linie). Die Rechtmäßigkeit dieser Prozedur ist zweifelhaft – um es
milde auszudrücken.
ALS DAPHNI also auf der Szene erschien, war alles
vorbereitet.
Bürgermeister Huldais „Inspektoren“, die vorher nie
in einer kämpfenden Rolle gesehen waren, griffen die paar Dutzend
Demonstranten an, schubsten sie grob herum und trampelten auf ihren
Zelten herum.
Als die Demonstranten nicht wichen, wurde die Polizei
eingesetzt. Nicht nur die üblichen Polizisten, sondern speziell
trainierte Krawallpolizisten und Polizeikommandos. Die Fotos und
Videos zeigen, wie Polizisten die Demonstranten attackieren,
verprügeln und treten. Sie zeigten einen Polizeioffizier, der eine
junge Frau mit beiden Händen würgte. Selbst Daphni wurde auf den
Boden geworfen, getreten und geschlagen.
Am nächsten Tag erschienen Bilder in den Zeitungen
und im Fernsehen. Die Öffentlichkeit war schockiert.
Als 12 Demonstranten vor das Gericht gebracht wurden,
nachdem sie die Nacht unter Arrest gestanden hatten, sandte sie der
Richter nach Hause, nachdem er die Polizei scharf kritisiert hatte.
Am nächsten Tag fand eine zweite Demonstration statt,
um gegen die Behandlung von Daphni zu protestieren. Wieder griff die
Polizei die Demonstranten an, die mit dem Blockieren der
Hauptzufahrtstraßen und dem Einschlagen von Glastüren zweier
Banken reagierten.
Die Regierung, die Polizeichefs und der Bürgermeister
waren höchst schockiert. „Ein gut vorbereiteter Krawall von
gewalttätigen Schlägertypen,“ nannte der Kommandeur der
Polizeikräfte des Landes bei einer zusammengerufenen Pressekonferenz
den Vorfall. „Vandalismus!“ schaltete sich der Bürgermeister ein.
ZU dem ZEITPUNKT, als dies geschah, führte eine
Gruppe Palästinenser, Israelis und internationaler Aktivisten eine
Protestdemonstration in Sussya, einem kleinen arabischen Ort am
Rande der Wüste südlich von Hebron, durch.
Seit langer Zeit versuchen die Besatzungsbehörden,
die Palästinenser aus diesem Gebiet zu vertreiben, um die
benachbarte Siedlung (die denselben Namen trägt) zu vergrößern und
in der Zukunft zu annektieren. Nachdem die arabischen Häuser
zerstört wurden, fanden die Bewohner Zuflucht in alten Höhlen. Von
Zeit zu Zeit versucht die Armee sie zu vertreiben, sperren die
Quellen ab und verhaften Leute. Jeder von uns in der
Friedensbewegung hat von Zeit zu Zeit an den Protestdemonstrationen
teilgenommen.
Verglichen mit dem, was dort geschah, waren die
Rotschildvotfälle wie ein Kinderspiel. Die Polizei benützte
Tränengas, gummi-ummantelte Stahlkugeln, Wasserkanonen und
„Stinkwasser“ – eine stinkende Brühe, die noch Tage, ja wochenlang
in den Kleidern hängt und am Körper klebt.
Das ist eine Lektion .Von Polizisten, die
routinemäßig bei den Protesten in Bilin und andern Orten in der
Westbank beteiligt sind und dann nach Tel Aviv geschickt werden,
kann man nicht erwarten, dass sie übernacht zu Londoner Polizisten
werden. Brutalität kann nicht auf immer an der Grünen Linie gestoppt
werden. Früher oder später musste Bilin nach Tel Aviv kommen.
Nun ist es hier.
UND WAS NUN? Eine öffentliche, in dieser Woche
aufgenommene Meinungsumfrage zeigt, dass 69% der jüdischen Israelis
(Araber wurden nicht gefragt) den wieder aufgenommenen Protest
unterstützen, und sogar 23 % sagten, gewalttätige Proteste seien
nötig geworden.
Stunden nach der Veröffentlichung verkündigte
Netanjahu, dass die geplante Steuererhöhung für die Armen und die
Mittelklasse fallen gelassen würde. Stattdessen würde das
Budgetdefizit dramatisch erhöht werden. Dies ist offensichtlich
gegen Netanjahus grundsätzliche Überzeugungen und zeigt, wie er
sich vor dem Protest fürchtet.
Aber dies wird natürlich keine Auswirkungen auf die
Struktur unserer Wirtschaft haben, die durch den riesigen
militärisch-industriellen Komplex als auch durch die Siedler und die
Orthodoxen bis aufs Blut ausgesaugt ist. Daphni und ihre Freunde
weigerten sich, sich mit diesen Ursachen zu befassen. Aber dort
liegt das Geld, und ohne dies kann kein Wohlfahrtsstaat aufgebaut
werden.
Sie weigern sich auch, sich politisch zu engagieren,
weil sie (zu Recht) befürchten, eine Menge Unterstützung zu
verlieren, wenn sie das tun. Aber wie schon gesagt: wenn man vor der
Politik davonrennt, wird sie hinter einem her sein.
Es gibt überhaupt keine Chance, ohne eine große
Veränderung der politischen Umstände des Landes, Gerechtigkeit zu
erlangen. So wie die Dinge jetzt stehen, herrschen König Bibi und
seine rechten Kohorten absolut. Der rechte Flügelblock kontrolliert
eine riesige Mehrheit von 80% in der Knesset und lässt die Reste des
linken Flügelblocks völlig machtlos. In solch einer Situation ist
eine Veränderung unmöglich.
Früher oder später wird sich die soziale
Protestbewegung dafür entscheiden müssen, die politische Arena zu
betreten . Das Richtige wäre, sie in eine politische Partei zu
verwandeln – etwas wie eine „Bewegung für soziale Gerechtigkeit“
und dann sich für die Knesset aufstellen zu lassen.
Natürlich werden die 69% Unterstützer schrumpfen.
Aber ein ansehnlicher Teil wird bleiben und eine neue Kraft in der
Knesset bilden.
Leute, die bis jetzt gewohnt waren, den Likud oder
Shas zu wählen, würden dann in der Lage sein, das erste Mal für eine
Partei zu wählen, die mit ihren vitalen wirtschaftlichen Interessen
übereinstimmen. Die überholte israelische Teilung zwischen links und
rechts würde erschüttert werden, und eine völlig neue Kräfteteilung
wäre geschaffen.
Dieser erste Versuch mag noch nicht den
entscheidenden Wandel bringen, aber dem zweiten könnte es gelingen.
Auf jeden Fall würde sich vom ersten Tag an die Agende
israelischer Politik ändern.
Solch eine Partei wäre durch ihren eigenen Schwung
gezwungen, ein Programm des Friedens aufzunehmen, das sich auf die
Zweistaatenlösung und auf ein säkulares, liberales,
sozial-demokratisches System gründet.
Das könnte der Beginn einer Zweiten Israelischen
Republik sein.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs,
vom Verfasser autorisiert)