Zwei Seelen
Uri Avnery
23. Juni 2018
„SOLANGE noch im Herzen/ Eine jüdische Seele wohnt … “, beginnt die
offizielle Übersetzung der israelischen Nationalhymne.
Im hebräischen Original heißt es „die Seele eines Juden“, aber
wahrscheinlich hat der Übersetzer es richtig verstanden: Es geht um
die jüdische Seele. Aber gibt es eine jüdische Seele? Ist sie anders
als die Seelen anderer Menschen? Und wenn ja, worin besteht der
Unterschied?
EHRLICH GESAGT: Ich weiß nicht, was eine Seele ist. Aber nehmen wir
einmal an, es gäbe so etwas wie eine kollektive Psyche, den
allgemeinen Geist aller Männer und Frauen, die unser Kollektiv
ausmachen – jeder und jede von ihnen hat seine oder ihre eigene
Seele. Was unterscheidet diese nun von der anderer Völker?
Wenn ein Fremder sich heute israelische Leute ansieht, mag er wohl
staunen. Zuerst einmal: mehr als ein Fünftel der Israelis sind
überhaupt keine Juden, sondern sie gehören zum palästinensischen
Volk, dessen Angehörige vermutlich eine andere „Seele“ haben. Wenn
jemand von Israelis spricht, meint er im Allgemeinen in Wirklichkeit
„jüdische Israelis“.
Das hätte übrigens die Israelis schon vor langer Zeit davon
überzeugen sollen, dass sie die Nationalhymne und andere Symbole des
Staates ändern sollten, damit die Minderheit sich zugehörig fühlen
kann. Die Kanadier haben es gemacht. Als ihnen klarwurde, dass die
Bürger französischer Abstammung sich hätten abspalten und eine
eigene Nation gründen können, änderten sie Nationalhymne und Fahne,
um der französisch sprechenden Minderheit ein Zugehörigkeitsgefühl
zu ermöglichen. Soweit ich es aus der Ferne beurteilen kann, war das
Vorgehen erfolgreich. Aber es gibt kaum Chancen, dass sich dasselbe
hier ereignet.
SELBST WENN wir allein über israelische Juden sprechen, ist unsere
Nationalpsyche (unsere „Seele“) recht erstaunlich. Sie enthält
Elemente, die einander ausschließen, tief verwurzelte Widersprüche.
Einerseits sind die meisten (jüdischen) Israelis enorm stolz auf die
Macht des Staates, den sie „aus nichts aufgebaut haben“. Vor 150
Jahren gab es kaum Juden im Land Palästina und die, die es gab,
waren vollkommen machtlos. Heute ist Israel der mächtigste Staat in
der Region, eine Atommacht, die sich noch dazu auf vielen Gebieten
der menschlichen Bestrebungen auszeichnet: militärisch,
technologisch, wirtschaftlich, kulturell usw. Wenn man sich jedoch
die Ergüsse vieler Juden anhört, könnte man zu dem Schluss kommen,
wir könnten jeden Augenblick von der Landkarte getilgt werden. Die
Welt ist voller Leute, deren einziges Ziel im Leben ist, uns zu
vernichten. Deshalb müssen wir in jedem Augenblick bereit sein,
unsere bloße Existenz zu verteidigen.
Wie passen diese beiden einander entgegegengesetzten Haltungen
zueinander? Kein Problem. Sie passen sehr gut. ERST EINMAL ist da
der alte Glaube, dass Gott uns unter allen Völkern erwählt habe.
Warum hat Gott das getan? Gott allein weiß es. Er muss nichts
erklären.
Die Sache ist ein wenig kompliziert. Zuerst haben die Juden Gott
erfunden. Es gibt auch ägyptische und mesopotamische Ansprüche
darauf, aber Juden wissen es besser.
(Man sagt, viele Juden glaubten zwar nicht an die Existenz Gottes,
aber sie glaubten, dass Gott die Juden erwählt habe.) Juden lernen
in sehr zartem Alter, dass sie das von Gott erwählte Volk seien.
Unterbewusst bleibt dieses Wissen ihr Leben lang in ihrer „Seele“
verankert, auch wenn viele zu vollkommenen Atheisten werden. Es
stimmt, viele Menschen auf der Erde glauben, dass ihr Volk besser
sei als andere Völker. Aber sie haben keine Bibel, um das zu
beweisen.
Ich bin sicher, dass viele Juden sich nicht einmal bewusst sind,
dass sie das glauben oder warum sie das glauben. Die jüdische Seele
weiß es einfach: Wir sind besonders.
Die Sprache spiegelt es wider. Es gibt Juden und es gibt andere. Das
hebräische Wort für alle anderen ist gojim. Althebräisch bedeutet
das Wort gojim einfach nur Völker im Allgemeinen und schließt also
das israelitische Volk ein. Im Laufe der Jahrhunderte entstand dann
eine neue Definition: es gibt Juden und es gibt alle anderen, die
gentiles (Heiden), die gojim.
Der Sage nach waren die Juden ein normales Volk, das in seinem Land,
dem Land Israel, lebte. Aber dann eroberten die bösen Römer das Land
und zerstreuten das Volk in alle Welt. In Wahrheit war die jüdische
Religion eine missionierende Religion, die sich schnell im ganzen
römischen Reich ausbreitete. Die Juden in Palästina waren schon eine
Minderheit unter den Anhängern Jehovas, als die Römer viele von
ihnen (aber bei Weitem nicht alle) aus dem Land vertrieben.
Schon bald konkurrierte das Judentum mit dem Christentum, einem
Ableger des Judentums, das ebenfalls unternahm, wie wild Anhänger zu
gewinnen. Das Christentum wurde um eine großartige menschliche
Geschichte herum gebaut, die Geschichte Jesu, und darum war es
geeigneter, Sklaven- und Proletarier-Massen im ganzen Imperium an
sich zu ziehen.
Im Neuen Testament steht auch die Geschichte von der Kreuzigung: ein
unvergessliches Bild von „den Juden“, wie sie die Hinrichtung des
lieben Herrn Jesus verlangen.
Ich zweifele daran, dass jemand, der diese Geschichte in seiner
frühen Kindheit gehört hat, die Szene jemals aus seinem
Unterbewusstsein wird tilgen können. Daraus ergibt sich eine Art
bewussten oder unbewussten Antisemitismus.
Das war allerdings nicht der einzige Grund für den Judenhass. Die
bloße Tatsache, dass sie in alle Welt zerstreut waren, war ein
riesiger Vorteil, aber auch ein riesiger Fluch.
Der jüdische Kaufmann in Hamburg konnte Beziehungen zu einem
jüdischen Kaufmann in Thessaloniki anknüpfen, der seinerseits mit
einem jüdischen Kaufmann in Kairo korrespondierte. Wenige Christen
hatten im Mittelalter derartige Möglichkeiten. Die Konkurrenz führte
dann dazu, dass Juden unzählige Pogrome erlitten. In einem
europäischen Land nach dem anderen wurden Juden angegriffen,
getötet, vergewaltigt und schließlich vertrieben.
In der jüdischen Seele schuf all das zwei miteinander im Streit
liegende Trends: die Überzeugung, dass Juden besonders und überlegen
seien, und die Überzeugung, dass Juden in ewiger Gefahr seien,
verfolgt und vernichtet zu werden.
UNTERDESSEN entstand ein weiterer Ableger des Judentums, der Islam,
und eroberte einen großen Teil der Welt. Ihm fehlte eine
Jesus-Geschichte und daher war er nicht antijüdisch. Muhammad hatte
seine Streitigkeiten mit jüdischen Stämmen in der Arabischen Wüste,
aber lange Zeitspannen über arbeiteten Muslime und Juden eng
zusammen. Einer der größten jüdischen Denker, Moses Maimonides, war
der Leibarzt eines der größten muslimischen Helden, Salah ad-Dins (Saladins).
So war die Beziehung, bis der Zionismus entstand.
Die Juden änderten sich nicht. Während andere europäische Nationen
ihre Sozialstrukturen änderten – Stämme, Viel-Stämme-Königreiche,
Imperien, moderne Nationen usw. – blieben die Juden in ihrer
ethnisch-religiösen Diaspora. Das bewirkte, dass sie anders waren
und führte zu Pogromen und schließlich zum Holocaust.
Der Zionismus war ein Versuch, Juden in eine moderne europäische
Nation zu verwandeln. Die frühen Zionisten wurden von orthodoxen
Rabbinern in den wildesten Ausdrücken verflucht, aber sie weigerten
sich, sich in einen Kulturkampf ziehen zu lassen. Sie schufen die
Fiktion, dass im Judentum, Religion und Nation dasselbe wären.
Der Gründer des modernen Zionismus Theodor Herzl war durch und durch
ein europäischer Kolonialist. Er versuchte eine europäische
Kolonialmacht für sein Unternehmen zu gewinnen: zuerst den deutschen
Kaiser und dann die britischen Imperialisten. Der Kaiser sagte zu
seinen Beratern: „Es ist eine großartige Idee, aber man kann sie
nicht mit Juden verwirklichen“. Den Briten war klar, welches
Potenzial es dort gab, und sie erließen die Balfour-Deklaration.
Der arabischen Bevölkerung Palästinas und dem „Nahen Osten“ wurde zu
spät klar, dass ihre bloße Existenz in Gefahr war. Als sie begannen,
Widerstand zu leisten, baute der Zionismus moderne Streitkräfte auf.
Schon bald wurden diese zur effizientesten Militärmaschine in der
Region und zur einzigen Atommacht dort.
AN DIESEM Punkt sind wir jetzt. Wir sind eine dominierende
Regionalmacht und ein globales Schreibaby; wir regieren eine
kolonialisierte Bevölkerung, die aller Rechte beraubt ist, und
gleichzeitig sind wir davon überzeugt, dass es finstere Mächte gibt,
die jeden Augenblick darauf aus sind, uns zu vernichten. Wir sehen
uns als ein sehr besonderes Volk und als ewiges Opfer. Alles das in
vollkommener Aufrichtigkeit. Und alles das gleichzeitig.
Wenn jemand behauptet, der Antisemitismus im Westen sterbe aus und
an seine Stelle sei der Antiislamismus getreten, reagieren Juden
ärgerlich. Wir brauchen den Antisemitismus für unser seelisches
Gleichgewicht. Niemand darf ihn uns nehmen!
Vor fast 80 Jahren hatten junge Juden in Palästina den Einfall, die
Gemeinschaften zu trennen: Wir Juden in Palästina seien eine neue
Nation und alle anderen Juden seien einfach nur Juden. Etwa so wie
Amerikaner und Australier, die zwar in der Mehrzahl britischer
Herkunft, aber keine Briten sind.
Wir wurden alle zu „Eingeborenen“. Wenn wir 18 geworden waren,
tauschten wir unsere jüdischen Namen gegen hebräische Namen. (So
trat Uri Avnery ins Leben.)
Als aber das ganze Ausmaß des Holocaust bekannt wurde, wurden alle
diese Ideen begraben. Die jüdische Vergangenheit wurde glorifiziert.
Jetzt nennt Israel sich der „jüdische Staat“. Dazu gehören alle
Eigenschaften des Jüdischseins, einschließlich der zweifachen Seele.
Deshalb werden wir bei internationalen Fußballspielen weiterhin
„Solange noch im Herzen/ Eine jüdische Seele wohnt … “ singen.
Übersetzt von Ingrid von Heiseler
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