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Der Felsen unserer Existenz
Uri Avnery, 3. Januar 2015
(Programmatische Rede
bei der Kinneret-Konferenz über „Den Felsen unserer Existenz – die
Verbindung zwischen Archäologie und Ideologie“).
ZUNÄCHST LASSEN Sie
mich meinen Dank aussprechen, dass Sie mich zu dieser bedeutenden
Konferenz eingeladen haben. Ich bin weder Professor noch habe ich
promoviert. Der höchste „akademische“ Titel, den ich jemals
erreichte war SEC (7. Elementarklasse).
Aber wie viele meiner
Generation hatte ich von früher Jugend an großes Interesse an
Archäologie.
Warum, das werde ich
versuchen zu erklären.
Wenn Sie sich fragen,
welche Verbindung ich zur Archäologie habe, werden einige von ihnen
an Moshe Dayan denken.
Nach dem Juni-Krieg
1967 war Dayan ein nationales – oder gar ein internationales – Idol.
Er war auch für seine Archäologie-Besessenheit bekannt. Meine
Wochenzeitschrift „Haolam Hazeh untersuchte seine Aktivitäten und
fand heraus, dass sie höchst zerstörerisch waren. Er begann, allein
zu graben und sammelte einfach archäologische Gegenstände aus dem
ganzen Land. Da das primäre Ziel der Archäologie nicht nur das
Entdecken derselben war, sondern auch das Datieren, um so ein Bild
der auf einander folgenden Geschichte der Gegend zu erhalten, hat
Dayans unsachgemäßes, unkontrolliertes Graben nur Chaos angerichtet.
Die Tatsache, dass er Armeebestände benützte, machte die Sache nur
noch schlimmer.
Dann entdeckten wir
nicht nur dies: Dayan eignete sich die Artefakte, die er fand (und
die dem Staat gehören), an und bewahrte sie bei sich zu Hause auf.
Er wurde aber auch ein internationaler Händler, indem er die Artikel
verkaufte und wurde durch dieselben reich: „Aus der persönlichen
Sammlung von Moshe Dayan“.
Dass ich diese
Tatsachen veröffentlichte und darüber in der Knesset sprach,
bescherte mir eine einzigartige Auszeichnung. In jener Zeit
identifizierten Meinungsumfragen jedes Jahr „die am meisten gehasste
Person“ in Israel. In jenem Jahr wurde mir diese „Ehre“ zu teil.
DOCH DIE wichtige
Frage betrifft nicht Dayans Moral, sondern eine viel tiefere
Angelegenheit: Warum waren Dayan und so viele von uns so sehr an der
Archäologie interessiert, einer Wissenschaft, die von vielen Leuten
als ziemlich langweiliges Geschäft angesehen wird.
Für uns war es von
profunder Faszination.
Jene zionistische
Generation war die erste, die im Land geboren wurde (Ich selbst
wurde in Deutschland geboren). Für ihre Eltern war Palästina eine
abstrakte Heimstätte, ein Land, über das sie in den Synagogen Polens
und der Ukraine träumten. Für ihre im Lande geborenen Söhne und
Töchter wurde sie eine natürliche Heimat.
Sie sehnten sich nach
den Wurzeln. Sie zogen in jede Ecke, verbrachten Nächte am
Lagerfeuer, lernten jeden Hügel und jedes Tal kennen.
Für sie waren der
Talmud und alle religiösen Texte langweilig. Der Talmud und andere
Schriften hatten die Juden in der Diaspora jahrhundertelang
aufrecht erhalten, weckte hier aber kein Interesse. Die neue
Generation behandelte die hebräische Bibel mit großer Begeisterung,
nicht als religiöses Buch (fast alle von uns waren Atheisten),
sondern als ein beispielloses Meisterwerk der hebräischen Literatur.
Da sie auch die erste Generation waren, für die das zu neuem Leben
erweckte Hebräisch zu ihrer Muttersprache wurde. Sie verliebten sich
in die konkrete biblisch hebräische Sprache. Die differenziertere,
abstrakte Sprache des Talmud und anderer späterer Bücher hat sie
abgestoßen.
Sie wussten, wo die
biblischen Ereignisse im Land stattfanden. Die biblischen Schlachten
wurden in den Tälern ausgefochten, die sie besuchten; die Könige
sind an Orten gekrönt und beerdigt worden, die sie genauestens
kannten.
Sie hatten nachts zu
den Sternen von Megiddo geschaut, wo die Ägypter die erste in der
Geschichte berichtete Schlacht geschlagen hatten (und wo nach dem
christlichen Neuen Testament auch die letzte Schlacht – die Schlacht
von Armageddon - stattfinden wird). Sie standen auf dem Berg Karmel,
wo der Prophet Elias die Baalspriester mordete. Sie hatten Hebron
besucht, wo Abraham von seinen beiden Söhnen Ismael und Isaak, den
Urvätern der Araber und Juden, beerdigt worden war.
DIESE
LEIDENSCHAFTLICHE Verbindung zu dem Land war keineswegs
vorherbestimmt. Tatsächlich spielte bei der Geburt des modernen
politischen Zionismus Palästina keine Rolle.
Wie ich schon früher
erwähnte, dachte der Gründungsvater Theodor Herzl nicht an
Palästina, als er das erfand, was als Zionismus bekannt wurde. Er
hasste Palästina und sein Klima. Besonders hasste er Jerusalem, das
für ihn eine übelriechende und schmutzige Stadt war.
Im ersten Entwurf
seiner Idee, die er an die Rothshild-Familie adressierte, war sein
Traumland Patagonien in Argentinien. Dort hatte vor kurzem ein
Völkermord stattgefunden, und das Land war fast leer.
Es waren nur die
Gefühle der jüdischen Massen in Osteuropa, die Herzl zwangen, seine
Bemühungen auf Palästina zu richten. In seinem Gründungsbuch „Der
Judenstaat“ ist das entsprechende Kapitel kürzer als eine Seite und
steht unter dem Titel „Palästina oder Argentinien“. Die arabische
Bevölkerung wird überhaupt nicht erwähnt.
SOBALD DIE
zionistische Bewegung ihre Gedanken nach Palästina lenkte, wurde die
alte Geschichte dieses Landes ein aktuelles Thema.
Der zionistische
Anspruch auf Palästina wurde bald auf die biblische Geschichte des
Exodus gegründet, auf die Eroberung von Kanaan, die Königreiche von
Saul, David und Salomo und das Geschehen der damaligen Zeiten. Da
fast alle zionistischen Gründungsväter bekennende Atheisten waren,
konnten sie sich kaum auf die Tatsache gründen, Gott hätte Abrahams
Nachfahren persönlich das Land versprochen.
Mit der Ankunft der
Zionisten in Palästina begann ein wildes archäologisches Suchen. Das
Land wurde nach wirklichen, wissenschaftlichen Beweisen durchkämmt,
dass die biblische Geschichte nicht nur ein Haufen von Mythen ist,
sondern eine reale Geschichte über Gott. Christliche Zionisten waren
noch früher davon überzeugt.
Es begann ein
wirklicher Angriff auf archäologische Orte. Die oberen Schichten der
Ottomanen und Mamelucken, der Araber und Kreuzfahrer, Römer und
Griechen und Perser wurden aufgedeckt und beseitigt, um die Schicht
der alten Israeliten, der Kinder Israels, offen zu legen und zu
beweisen, dass die Bibel recht hat.
Man hat sich sehr
angestrengt. David Ben-Gurion, ein selbst ernannter
Bibelwissenschaftler führte die Bemühungen an. Der Stabschef der
Armee Yigael Yadin, Sohn eines Archäologen und selbst ein
professioneller Archäologe suchten an alten Gegenden, um zu
beweisen, dass die Eroberung von Kanaan wirklich geschah. Leider
ohne Erfolg.
Die Knochenreste von
Bar Kochbas Kämpfern wurden in den Höhlen der Wüste Juda entdeckt.
Sie wurden auf Ben-Gurions Befehl mit einer großen militärischen
Feier beerdigt. Die unangefochtene Tatsache, dass Bar Kochba
vielleicht die größte Katastrophe in der jüdischen Geschichte bis
zum Holocaust verursacht hatte, wurde vertuscht.
UND DAS Ergebnis?
So unglaublich es
klingt. vier Generationen hingebungsvoller Archäologen haben mit
glühender Überzeugung und großer finanzieller Unterstützung sehr
genau gesucht.
Nichts.
Seit Beginn der
Ausgrabungen bis heute wurde kein einziger Beweis der alten
Geschichte gefunden. Kein einziger Hinweis, dass der Exodus aus
Ägypten, die Grundlage der jüdischen Geschichte, je geschehen ist.
Nichts von den 40 Jahren Wanderung durch die Wüste. Kein einziger
Beweis für die Eroberung von Kanaan, wie sie ausführlich im Buch
Josua beschrieben wird. Der mächtige König David, dessen Königreich
nach der Bibel sich von der Sinai-Halbinsel bis Nordsyrien
erstreckte, hinterließ keine Spur. (Vor kurzer Zeit wurde eine
Inschrift mit dem Namen David entdeckt, aber mit keinem Hinweis
darauf, dass dieser David König war.)
Israel erscheint zum
ersten Mal bei korrekten archäologischen Funden in assyrischen
Inschriften, die eine Koalition von lokalen Königreichen beschreibt,
die den assyrischen Vormarsch nach Syrien anzuhalten versucht. Unter
anderen wird König Ahab von Israel erwähnt, als Chef eines
ansehnlichen militärischen Kontingentes. Ahab, der von 871 BC bis
852 BC das heutige Samaria beherrschte (nördliche Westbank) war von
Gott nicht geliebt, obwohl die Bibel ihn als Kriegsheld beschreibt.
Er markiert den Beginn von Israels bewiesener Geschichte.
DIES SIND alles
negative Teile von Beweisen, die suggerieren, dass die frühe
biblische Geschichte erfunden ist. Da praktisch zu keiner Zeit
Spuren der frühen biblischen Geschichte gefunden worden ist, ist das
ein Beleg dafür, dass alles Fiktion ist?
Vielleicht auch
nicht. Aber es gibt einen realen Beweis.
Ägyptologie ist eine
wissenschaftliche Disziplin, getrennt von palästinensischer
Archäologie. Die Zwei treffen sich nicht. Die Ägyptologie beweist
unwiderlegbar, dass die biblische Geschichte bis König Ahab
tatsächlich eine Fiktion ist.
Bis jetzt sind viele
zig Tausende ägyptischer Dokumente entziffert worden und die Arbeit
geht noch weiter. Nachdem die Hyksos aus Asien 1730 BC Ägypten
überfallen haben, gaben sich die Pharaonen Ägyptens große Mühe, um
das Geschehen in Palästina und Syrien zu beobachten. Jahr um Jahr
berichteten Spione, Kaufleute und Soldaten ausführlich über die
Ereignisse in jeder Stadt Kanaans. Kein einziger Bericht erzählt
etwas, das vage biblischen Ereignissen nahe kommt. (Eine einzige
Erwähnung von „Israel“ findet man auf einer ägyptischen Stele,
womit ein kleines Gebiet im Süden Palästinas gemeint sein könnte.)
Selbst wenn man gern
glauben würde, dass die Bibel wirkliche Ereignisse nur übertreibt,
so ist tatsächlich nicht die geringste Erwähnung des Exodus, der
Eroberung Kanaans oder über König David gefunden worden.
Dies ist einfach
nicht geschehen.
IST DIES von
Bedeutung? Ja und nein.
Die Bibel ist kein
Geschichtsbuch. Sie ist ein monumentales religiöses und
literarisches Dokument, das unzählige Millionen durch die
Jahrhunderte inspiriert hat. Sie hat die Gesinnung vieler
Generationen geprägt, von Juden, Christen und Muslimen.
Aber Geschichte ist
etwas ganz anderes. Die Geschichte erzählt uns, was wirklich
geschehen ist. Archäologie ist ein Hilfsmittel der Geschichte, ein
außerordentliches Hilfsmittel für das Verständnis für das, was
stattfand.
Es sind zwei
verschiedene Disziplinen und die beiden werden sich nicht
überschneiden. Für die Religiösen wird die Bibel eine Sache des
Glaubens sein. Für die Nicht-Glaubenden ist die hebräische Bibel ein
großes Kunstwerk, vielleicht das Größte. Archäologie ist etwas
völlig anderes, eine Sache nüchterner, bewiesener Tatsachen.
In israelischen
Schulen wird die Bibel als wahre Geschichte gelehrt. Das bedeutet,
dass israelische Kinder nur ihre wahren oder fiktiven Kapitel
lernen. Als ich mich einmal in einer Knessetrede darüber beklagte
und verlangte, dass die vollständige Geschichte des Landes während
der Jahrhunderte gelehrt werden solle, einschließlich der Kapitel
der Kreuzfahrer und der Mameluken, begann der damalige
Bildungsminister mich „den Mameluken“ zu nennen.
Ich bin davon
überzeugt, dass jedes Kind dieses Landes, das israelische wie das
palästinensische, die ganze Geschichte des Landes lernen sollte, von
der frühesten Zeit bis heute mit all seinen Schichten. Es ist die
Grundlage für Frieden, der wirkliche Felsen unserer Existenz.
(Aus dem Englischen:
Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Vgl. auch das Buch
von Finkelstein und Silberman: „Keine Trompeten vor Jericho“
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