Das Riesenfräulein
Uri Avnery, 3.12.05
EINE DEUTSCHE
Ballade von Adalbert von Chamisso erzählt von der Tochter eines
Riesen. Sie fand einen pflügenden Bauern auf dem Feld und brachte
ihn entzückt in ihrem Taschentuch mit nach Hause, um ihn ihrem
Vater zu zeigen. Der aber antwortete ernst: „Der Bauer ist kein
Spielzeug“; er veranlasste sie, ihn vorsichtig dorthin
zurückzutragen, wo sie ihn gefunden hatte.
Die Vereinigten
Staaten erinnern mich an das Riesenfräulein. Leider haben sie keinen
Vater, der ihnen sagt, dass Nationen keine Spielzeuge sind.
ALS GEORGE W.BUSH
Präsident wurde, brachte er einen Haufen Neo-Konservativer ( die
sog. Neo-Cons) mit, die in ihrer unglaublichen Arroganz glaubten,
dass es möglich sei, Staaten zu zertrümmern, ihre Regierungen je
nach Laune auszuwechseln und sich ihre Ressourcen anzueignen.
Zunächst
beabsichtigten sie den Irak, dann den Iran und Syrien in ihr
Taschentuch zu packen. Den Irak und den Iran wegen ihres Öls, Syrien
wegen seiner strategischen Lage. Rein zufällig wurden diese drei
Länder auch als strategische Bedrohung von Israel betrachtet und die
Neo-Cons – die meisten von ihnen selbst Juden - waren froh, für
den „jüdischen Staat“ etwas Gutes zu tun.
Die Frage war nun,
welche der drei zuerst erobert werden sollte. Die Wahl fiel
natürlich auf den Irak, da die Neo-Cons sicher waren, ihre Armee
würde mit Blumen empfangen werden ( wie sonst?) und der Krieg im Nu
vorüber wäre. Die nächste Frage war: Wer sollte dann dran kommen,
der östliche oder der südwestliche Nachbar?
Im Rückblick kann
man sich heute nur fragen: was war größer: die Ignoranz der
Neo-Cons oder ihre Arroganz. Sie hatten keine Ahnung vom Irak, und
es scheint, dass sie das nicht im geringsten gestört hat. Immerhin
glaubten sie zu wissen, ein Schlag werde genügen, um den Job
schnell zu Ende zu bringen und dann das nächste Ziel in Angriff zu
nehmen.
Wenn sie doch nur
ihre britischen Verbündeten gefragt hätten, dann hätten sie etwas
über das Land erfahren, das sie angriffen, z.B. dass der Irak nie
ein richtiger Staat war. Er wurde vom britischen Empire aus drei
verschiedenen Regionen zusammengesetzt, um ihren Interessen zu
dienen. Es war immer eine Diktatur nötig, um diese Regionen zusammen
zu halten: erst die britischen Kolonialherren selbst, später
aussortierte lokale Diktatoren. Saddam Hussein war nur der letzte in
dieser Reihe.
Als die USA-Armee
die Macht des Diktators zerstörte, der die Regionen zusammenhielt,
fiel das Ganze auseinander. Heute zerreißen zwei parallele Kriege
das arme Land in Stücke: die sunnitische Rebellion gegen die
amerikanische Besatzung und ein dreiseitiger Bürgerkrieg. In
Washington plappern Politiker über die neue irakische Armee, die
jeden Augenblick die Verantwortung für die Sicherheit übernehmen
will und die dem größten Teil der amerikanischen Kräfte den Rückzug
erlauben wird. In Wirklichkeit gibt es gar keine richtige Armee –
nur von einander getrennte Milizen von Kurden, Schiiten und
Sunniten, und jede dient dem eigenen Führer.
Die Amerikaner
würden gern den größten Teil ihrer Kräfte aus dem Irak abziehen und
nur eine kleine Garnison zurücklassen, um die Hand weiter fest auf
den Ölreserven zu halten. Dieser Wunsch ist dabei, sich schnell in
einen Traum aufzulösen. Das Ende wird wahrscheinlich wie in Vietnam
sein. Die amerikanische Öffentlichkeit ist dabei, den hoffnungslosen
Krieg zu hassen, und die Armee wird sich mit eingezogenem Schwanz
zurückziehen und einen allgemeinen Zustand von Anarchie
zurücklassen.
UND WAS die
Nachbarn betrifft:
Die Washingtoner
Neo-Cons haben sich schon in alle Richtungen zerstreut, und eine
Militäraktion gegen den Iran und gegen Syrien steht nicht mehr zur
Debatte. Der Irak frisst die amerikanische Armee, die aus Söldnern
besteht, und schon wird der Mangel an Soldaten akut. Also was tun?
Nun, man kann die beiden Staaten auch auf andere Weise kaputt
machen, indem man Clausewitz’ berühmten Spruch auf den Kopf stellt :
„Politik ist nichts anderes als die Fortsetzung des Krieges mit
anderen Mitteln.“
Im Augenblick
läuft weltweit eine amerikanische Kampagne, die dahin zielt, das
syrische Regime durch nicht-militärische Mittel zu stürzen. Der
Generalsekretär der UN, der zur Stimme seines (amerikanischen)
Meisters geworden ist, spielt seine Rolle zusammen mit vielen
Regierungen, die von den Wohltaten der USA abhängig sind.
Der Mord an Rafik
al-Hariri, dem früheren Ministerpräsidenten des Libanon, wird für
diesen Zweck ausgenützt. Ich kann mich nicht erinnern, Washington
bei einem politischen Mord in einem anderen Land jemals so aufgeregt
gesehen zu haben, ob das ein fortschrittlicher Bischof in
Zentralamerika oder ein muslimischer Scheich in Gaza war. Dieses
plötzliche Drängen, die Mörder vor Gericht zu bringen, ist wirklich
ziemlich neuartig und aufregend.
Unsere Regierung
ist eine der aktivsten Partner bei dieser Zerstörungskampagne
Syriens. Auf hunderterlei Weisen trägt sie dazu bei. Syrien wird die
Schuld an den Aktionen der Hisbollah angelastet, Syrien hilft den
palästinensischen „Terroristen“ und anderes mehr. Der Chef unserer
militärischen Geheimdienstabteilung, der häufig infantile Meinungen
über unsere Medien von sich gibt, verbreitet alle Arten von
Verschwörungstheorien.
Oberflächlich
betrachtet, ist das logisch. Als Gegenleistung hat Washington die
Besetzung der Golanhöhen von der internationalen Agenda gelöscht.
Condoleezza Rice ist aktiv im Gazastreifen und in der Westbank,
äußerte aber nie ein Wort über die Besetzung des Golan, ein
souveränes syrisches Gebiet. Der Landerwerb durch Krieg ist
natürlich eine ernste Verletzung des Völkerrechts und der UN-Charta
– aber George und Condi scheren sich da nicht drum.
Trotzdem würde ich
vorschlagen, unsere Regierung möge doch zweimal darüber nachdenken,
ob wir wirklich daran interessiert sind, den syrischen Staat zu
zerstören. Wenn dies geschieht, wie wird sich dies auf unsere
nördliche Grenze auswirken?
ICH ERINNERE mich
an ein Gespräch mit Rabin, 1976, als die Syrer in den Libanon
einfielen. Heute hat man allgemein vergessen, dass es die Christen
waren, die sie einluden und darum baten, ihnen gegen die PLO und
die muslimischen Kräfte zu helfen.
Als die Syrer sich
der israelisch-libanesischen Grenze näherten, brach in Israel die
Hölle los. Der Verteidigungsminister Shimon Peres und seine Anhänger
verlangten, im Libanon eine „rote Linie“ zu ziehen , um den
syrischen Vormarsch weit entfernt von der Grenze aufzuhalten.
Ministerpräsident Rabin sah dies ganz anders. „Das ist idiotisch,“
sagte er zu mir. „An unserer Grenze mit Syrien auf den Golanhöhen
gibt es keine Probleme. Wenn die Syrer die nordisraelische Grenze
halten, wird dort auch Ruhe herrschen.“
Rabin hatte
natürlich vollkommen recht. Leider gab er Peres und der allgemeinen
Hysterie nach. Die syrische Armee wurde durch unsere Drohungen in
einiger Entfernung von der Grenze gehalten. Das Vakuum, das
dazwischen geschaffen wurde, wurde zunächst von der PLO gefüllt und
später von der Hisbollah.
Ziemlich dasselbe
könnte jetzt an der syrischen Grenze noch einmal passieren, wenn
das syrische Regime zusammenbricht und Anarchie ausbricht.
Syrien ist ein sehr
zerbrechlicher Staat. Es sind zwar keine drei verschiedenen Völker
wie im Irak. Aber es gibt tiefe, alte Rivalitäten zwischen Damaskus
und Aleppo, zwischen Arabern und Kurden und vielen verschiedenen,
religiösen Denominationen. Die Syrer haben sich selbst mit der
Diktatur der Assadfamilie abgefunden, weil sie sich vor einer
Anarchie fürchten.
(Die Assads gehören
zu einer der kleinsten muslimischen Sekten, den Alawiten, die die
Nachfolger des Ali sind, des Schwiegersohnes des Propheten
Mohammeds. Dies erinnert an die biblische Geschichte über die Wahl
des ersten israelitischen Königs. Als Saul vom Propheten Samuel
eingeladen wurde, fragte er erstaunt: „Bin ich nicht ein Benjamite
und gehöre zum kleinsten Stamme Israels, und ist meine Familie nicht
die geringste aller Familien im Stamme Benjamin?“ (1. Sam.9). Wenn
die größten und stärksten Stämme sich nicht auf einen Kandidaten
einigen können, bevorzugen sie oft einen aus den kleinsten und
schwächsten, der für sie keine Gefahr darstellt.)
Seit 33 Jahren hat
es an unserer Grenze mit Syrien keine Probleme gegeben, trotz des
ungelösten Konflikts um die Golanhöhen. Wer weiß, was geschehen
wird, wenn Syrien auf einmal zur Beute der Anarchie wird ? OK – das
ist für Amerika kein Problem. Aber sicher für uns.
MIT DEM IRAN ist es
eine völlig andere Sache.
Die iranische
Nation ist eine vereinigte und starke Nation. Sie mögen eine
Atombombe fabrizieren. Viele sind davon überzeugt, dass dies für
uns ein Alptraum ist: ein fanatisch islamischer Staat, der Israel
hasst, im Besitz der letzten Massenvernichtungswaffen und auch der
Mittel, sie anzuwenden.
Ich mache mir
darüber weniger Sorgen. Der extrem anti-israelische Slogan aus dem
Iran hat ihn nicht daran gehindert, mit Israel still und geheim
Geschäfte abzuschließen – und nicht nur bei der berüchtigten
Irangate-Affäre. In der Praxis benehmen sich die schrecklichen
Ayatollahs sehr nüchtern und sachlich.
Aber wenn wir eine
nukleare Terrorbalance verhindern wollen, dann gibt es nur einen
Weg.
Wir sollten die
verbliebene Zeit nützen, in der wir noch ein Monopol auf diesem
Gebiet haben – und FRIEDEN machen; zunächst mit dem
palästinensischen Volk und dann mit allen Nationen in der Region. Im
Zusammenhang mit der Schaffung von Frieden könnte eine atomfreie
Zone mit gegenseitiger Überwachung aufgebaut werden.
Der Haken ist, dass
es bei uns unmöglich ist, über dieses Problem zu diskutieren,
solange es unter „streng geheim“ läuft. Deshalb schlage ich vor, es
zur Diskussion zu stellen, damit wir dieses Problem endlich in den
Griff bekommen. Die Zeit dazu wäre wirklich reif.
Und was das
Riesenfräulein betrifft, so ist es auch an der Zeit, ihm zu sagen:
„Lasst die Nationen dieser Region in Ruhe! Sie sind keine
Spielzeuge!“
(Aus dem
Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
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