Eine günstige Gelegenheit
Uri
Avnery, 4.12.04
Meine erste,
spontane Reaktion auf Marwan Barghoutis Aufstellung als Kandidat
für die Präsidentschaft der Palästinensischen Behörde war positiv.
Zunächst einmal
begünstige ich gerne Benachteiligte. Und wer ist mehr benachteiligt
als ein Gefangener.
Zum anderen
respektiere ich den Mann. Ich bin ihm bei Vorbereitungstreffen für
gemeinsame Friedensaktionen begegnet. Ich habe für ihn in Tel Aviv
demonstriert und wurde mit Gewalt aus dem Gerichtsgebäude gedrängt,
wo ein rechter Lynchmob im Hintergrund herumbrüllte.
Drittens würde die
Kandidatur Marwan Barghoutis das Schicksal der Gefangenen auf die
Agenda setzen – und zwar der Kriegsgefangenen, die in Israel wie
gemeine Kriminelle behandelt werden.
Viertens seine
Kandidatur – falls er sie ausübt – würde in der arabischen Welt
einen Vorgang ohne Präzedenz darstellen: eine Wahl, deren Ausgang
nicht im voraus feststeht. Der Wahlkampf Abu-Mazen/Marwan Barghouti
wäre ein tatsächlicher Kampf.
Nach weiterer
Überlegung gingen meine Gedanken in die entgegengesetzte Richtung.
Die ganze Welt
verfolgt diese Wahlen, um zu sehen, ob das palästinensische Volk in
einer kritischen Phase – nach dem Tod des Vaters der Nation – in
der Lage ist, einig zu sein. 45 Jahre lang gelang es dem Führer des
Befreiungskampfes, Yasser Arafat, die Einheit seines Volkes
aufrecht zu erhalten, eine nahezu unmögliche Aufgabe. Viele sagten
voraus, dass nach seinem Tod das Volk in hundert Teile zerfallen
wird. Die Einheit rund um Abu Mazen hat – wenigstens bis jetzt -
diese Hoffnungen (oder Befürchtungen) vereitelt.
Ich glaube nicht
an „Einheit“ im religiösen Sinne. Debatten und Streitgespräche sind
das Herzblut der Demokratie, und wenn die Zeit reif ist, werden die
Palästinenser eine gründliche Debatte über den zukünftigen Kurs des
Befreiungskampfes führen müssen. Doch: ist jetzt die richtige Zeit
dazu?
Ich denke, nein. Zu
diesem Zeitpunkt würde Uneinigkeit unter den Palästinensern den
Feinden des Friedens innerhalb der israelischen und amerikanischen
Führung nur einen Vorwand geben. Sie würden jubeln: „Seht doch! Da
gibt es niemanden, mit dem man verhandeln kann !“ Für das
palästinensische Volk ist es jetzt sehr wichtig, der Welt zu zeigen,
dass es tatsächlich jemanden gibt, mit dem man verhandeln kann. Und
da sowohl Präsident Bush als auch sein Lehrer und Mentor Sharon
schon erklärt haben, dass Abu Mazen „moderat“ und „pragmatisch“ sei,
würden sie sich damit schwer tun, den verlogenen Slogan zu
wiederholen : „Wir haben keinen Partner“ (Copyright: Ehud Barak).
Deshalb ist es
wichtig, dass Abu Mazen gewählt wird und zwar von einer großen
Mehrheit.
Ihm sollte eine
Chance gegeben werden. Nicht nur ihm persönlich, sondern der ganzen
Auffassung, die er vertritt: der Überzeugung, dass die Palästinenser
ohne Selbstmordattentate und die bewaffnete Intifada nun ihre
minimalen nationalen Ziele erreichen können: einen palästinensischen
Staat auf der Westbank und im Gazastreifen mit der Grünen Linie als
Grenze ( mit möglichem kleinem Landaustausch), Jerusalem als
Hauptstadt beider Staaten, Evakuierung der Siedlungen und ein
Abkommen über eine praktische Lösung des Flüchtlingsproblems.
Vielleicht ist das
ein naiver Glaube. Vielleicht hat er überhaupt keine Chancen,
vielleicht sind es tatsächlich die Palästinenser, die „keinen
Partner haben“ . Aber es ist für die Palästinenser - und die ganze
Welt – wichtig, diesen Glauben zu testen. Nach einem Jahr, also
etwa Ende 2005 wird es möglich sein, Schlüsse zu ziehen. Und dann
wird die Zeit für die große Debatte unter den Palästinensern reif
sein. Wenn Abu Mazen in der Lage ist, imponierende Erfolge
vorzuweisen – dann wird er gewinnen. Wenn nicht, dann wird
wahrscheinlich die dritte Intifada beginnen.
Diese
palästinensische Debatte wird für Barghouti die große Gelegenheit
sein, daran teil zu nehmen und seine eigenen Vorstellungen
darzulegen. Schließlich dachte er bis letzte Woche in dieser Weise.
Bis dahin – so glaube ich – wäre es ratsam für ihn, Abu Mazen zu
unterstützen.
Haben die
Hoffnungen Abu Mazens eine reale Grundlage?
Vergangene Woche
riet der ägyptische Präsident Husni Mubarak den Palästinensern,
Sharon zu vertrauen. „Er kann Frieden machen,“ sagte er ( und
diskret fügte er hinzu: „Falls er es wünscht.“)
Mubaraks Interessen
sind klar. Er erhält pro Jahr aus den USA gewaltige Subventionen,
eine Geldspende, die für die Stabilität seines Regimes
lebenswichtig sind. Diese Subventionen sind vom Kongress der USA
abhängig – den böse Zungen „Israels besetzte Gebiete“ nennen. Es ist
deshalb in seinem Interesse, mit Sharon freundlich umzugehen und ihm
aus seiner gegenwärtigen misslichen Lage herauszuhelfen.
Sharon befindet
sich mitten in einem heiklen, politischen Manöver. Er hat die
Shinui-Partei, seinen einzig verbliebenen Koalitionspartner, aus der
Regierung geworfen.
Das große und
mächtige Zentralkomitee seiner Partei wird ihm nicht erlauben, eine
rein „säkulare“ Koalition mit Shinui und der Labourpartei
aufzustellen, also muss er die Ultra-Orthodoxen anstelle von Shinui
nehmen. Jetzt ähnelt er einem Zirkus-Trapez-Akrobaten, der eine
Stange losgelassen hat, durch die Luft fliegt und bei einer anderen
Stange Halt suchen muss. Viele in seiner eigenen Partei versuchen,
die andere Stange wegzustoßen, damit er zu Boden fällt und sich das
Genick bricht.
Wenn Sharon dieses
Kunststück nicht gelingt, werden Neuwahlen stattfinden. Dies
bedeutet, dass viele Monate lang das politische System gelähmt sein,
der „Abzug“ aus dem Gaza nicht stattfinden und der Frieden von der
Tagesordnung verschwinden wird. Das könnte das Ende von Abu Mazens
politischer Karriere sein.
Sollte andrerseits
Sharon mit der Laborpartei und den Ultra-Orthodoxen eine neue
Koalition aufbauen und den Konsens der Ultra-Orthodoxen für seinen
„Abzugsplan“ erkaufen, wird es der Anfang für ein Hindernisrennen
sein.
Wird es der
Regierung gelingen, die Öffentlichkeit für einen Rückzug aus dem
ganzen Gazastreifen zu gewinnen? Wird sie in der Lage sein, die
Siedler ohne Blutvergießen umzusiedeln? Wird sie die „Philadelphi
–Achse“, die den Gazastreifen von der Welt abschneidet, aufgeben?
Wird sie damit einverstanden sein, einen Hafen und Flughafen zu
öffnen? Wird sie eine sichere Passage zwischen dem Gazastreifen und
der Westbank liefern? (Das war ein Hauptpunkt im Oslo-Abkommen, der
seitdem ständig von allen israelischen Regierungen verletzt wurde)
All dies sind nur
Kurzstreckenläufe, verglichen mit dem Marathonlauf „Westbank“. Es
ist ein offenes Geheimnis, dass Sharon den „Abzugsplan“ sich nicht
nur deshalb ausgedacht hat, um die Verantwortung für die 1,25
Million Palästinenser im Gazastreifen loszuwerden, sondern
hauptsächlich darum, um - kaum bemerkt - 58% der Westbank zu
annektieren. Ob er diesen Traum aufgeben wird?
Optimisten glauben,
dass der Rückzug aus Gaza – wenn er (so Gott will) denn tatsächlich
stattfindet – eine eigene Dynamik entwickeln wird. Dies wäre das
„Fenster einer günstigen Gelegenheit“.
Nachdem Sharon und
Bush Yasser Arafat jahrelang dämonisierten und gemeinsam ihren Hass
gegen ihn ausgeschlachtet haben, um jeden Schritt in Richtung
Frieden zu sabotieren, ist nun das Alibi zusammen mit dem
palästinensischen Führer verschwunden. Bush wird seine letzte
Amtszeit auch dazu nützen wollen, um etwas Besonderes zu erreichen.
Dasselbe gilt für Shimon Peres. Die öffentliche Meinung verlangt
dies weltweit. Europa wird hineingezogen werden. Sharon könnte von
der von ihm selbst geschaffenen Strömung mitgerissen werden. Ein
altes jüdisches Sprichwort lautet: „So Gott will, kann sogar ein
Besenstiel schießen!“
Andere sind viel
pessimistischer. Sie weisen auf Sharons legendäre Hartnäckigkeit
hin. Er wird das Problem der Westbank hinausschieben, bis der
Gazaplan erfüllt ist. Das wird nicht vor Ende 2005 sein. Im Jahr
danach, 2006, stehen israelische Wahlen an. Und so fort. Und in der
Zwischenzeit wird er weitere vollendete Tatsachen schaffen.
Wer hat recht? Die
Optimisten oder die Pessimisten? In Wahrheit kann heute keiner
vorhersehen, was geschehen wird. Es hängt von vielen Faktoren ab,
einschließlich dem israelischen Friedenslager.
Natürlich werden
wir mit jeder vom Volk gewählten palästinensischen Führung
zusammenarbeiten. Es ist nicht unsere Sache, uns da einzumischen.
Ein Jahr wird
vorbeigehen, bevor wir wissen, ob es tatsächlich „ein Fenster für
eine günstige Gelegenheit“ ist .
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs,
vom Verfasser autorisiert)
|