Oslo – noch einmal besucht
Uri Avnery, 11.8.07
IN DIESEN heißen, stickigen Tages des israelischen
Sommers ist es angenehm, die Kühle Oslos zu spüren, auch
wenn es nur ein virtueller Besuch – ein Besuch in
Gedanken ist.
Vierzehn Jahre nach der Unterzeichnung des
Oslo-Abkommens ist dieses noch einmal das Thema der
Debatte: war es ein historischer Fehler?
In der Vergangenheit sagte dies nur die politische
Rechte. Sie sprach von den „Oslo-Verbrechern“ so, wie
die Nazis die „Novemberverbrecher“ zu beschimpfen
pflegten. (Diejenigen, die im November 1918 den
Waffenstillstand zwischen dem besiegten Deutschland und
den Siegermächten unterzeichneten).
Jetzt bewegt auch die politische Linke diese Debatte.
Nun mit der Weisheit des Nachhinein behaupten einige
Linke, dass das Oslo-Abkommen an der miserablen
politischen Situation der Palästinenser, dem
Beinahe-Kollaps der palästinensischen Behörde und der
Trennung des Gazastreifens von der Westbank schuld sei.
Den Slogan „Oslo ist tot“ hört man nun von allen Seiten.
Welche Wahrheit steckt dahinter?
AM TAG nach dem Abkommen hielt Gush Shalom in einer
großen Tel Aviver Halle eine öffentliche Debatte. Die
Meinungen waren geteilt. Einige sagten, es sei ein
schlechtes Abkommen, und es sollte in keiner Weise
unterstützt werden. Andere sagten, es sei ein
historischer Durchbruch.
Ich unterstützte das Abkommen. Ich sagte: Stimmt, es ist
ein schlechtes Abkommen. Jeder, der nur auf die
geschriebenen Paragraphen sieht, könnte für dieses
nicht eintreten. Aber für mich sind nicht die
geschriebenen Paragraphen wichtig. Was wichtig ist, ist
der Geist des Abkommens. Nach Jahrzehnten
gegenseitiger Nichtanerkennung haben sich Israel und
die Palästinenser gegenseitig anerkannt. Dies ist ein
historischer Schritt, von dem es kein Zurück gibt. Diese
Anerkennung vollzieht sich nun in Millionen Köpfen auf
beiden Seiten. Sie schafft eine Dynamik des Friedens,
die am Ende alle Hindernisse, die im Abkommen liegen,
überwinden wird.
Diese Ansicht wurde von den meisten Anwesenden
akzeptiert und hat seitdem das Friedenslager bestimmt.
Nun frage ich mich selbst: War es richtig?
YASSER ARAFAT sagte über Oslo: „Dies ist das beste
Abkommen, das in der schlechtesten Situation erreicht
werden konnte.“ Er meinte die riesige Übermacht
Israels gegenüber den Palästinensern.
Es ist fair, hier etwas einzugestehen: Ich mag zu dieser
Haltung etwas beigetragen haben. Bei meinen Treffen mit
Arafat in Tunis sprach ich immer wieder für eine
pragmatische Herangehensweise. „Lernen Sie von den
Zionisten!“ sagte ich zu ihm. „Sie sagen nie nein. In
jedem Stadium nahmen sie an, was ihnen angeboten wurde,
und unmittelbar danach kämpften sie um mehr. Die
Palästinenser dagegen sagten immer Nein und verloren“.
Kurze Zeit vor der Unterzeichnung des Abkommens hatte
ich ein besonders interessantes Treffen in Tunis. Ich
wusste noch nicht, was sich in Oslo abspielen würde,
aber Ideen über ein mögliches Abkommen lagen in der
Luft. Das Treffen fand in Arafats Büro statt mit
Arafat, Mahmoud Abbas, Yasser Abed-Rabbo und zwei oder
drei anderen.
Es war eine Art Brainstorming-Sitzung. Es wurden alle
Themen zur Sprache gebracht: ein palästinensischer
Staat, die Grenzen, Jerusalem, die Siedlungen, die
Sicherheit usw. Die Themen wurden nach allen Seiten hin
diskutiert. Ich wurde gefragt: „Was kann Rabin
anbieten?“ Ich fragte zurück: „Was können sie
akzeptieren?“ Am Ende erreichten wir eine Art Konsens,
der dem Oslo-Abkommen sehr nahe kam, das ein paar Wochen
später unterzeichnet wurde.
Ich erinnere mich z.B., was über Jerusalem gesagt wurde.
Einige der Anwesenden bestanden darauf, dass sie mit
einem Aufschub nicht einverstanden wären. Ich sagte:
„Wenn wir dieses Problem ans Ende der Verhandlungen
schieben, werden Sie sich dann in einer besseren oder
schlechteren Situation als jetzt befinden? Sicherlich
werden Sie dann in einer besseren Situation sein, um das
zu erreichen, was Sie wollen.“
DAS OSLO-ABKOMMEN (offiziell Prinzipien-Erklärung)
gründete sich vom palästinensischen Gesichtspunkt auf
diese Annahme. Den Palästinensern sollte eine minimale
staatsähnliche Basis gegeben werden, die sich nach und
nach entwickelt, bis ein souveräner Staat Palästina
errichtet sein würde.
Die Schwierigkeit war, dass dieses Endziel im Abkommen
nicht ausgesprochen worden war. Das war sein fataler
Fehler.
Das langfristige palästinensische Ziel war vollkommen
klar. Es war lange vorher von Arafat festgelegt worden:
der Staat Palästina in allen besetzten Gebieten; eine
Rückkehr zu den Grenzen, wie sie vor dem 6-Tage-Krieg
bestanden (mit der Möglichkeit von kleinem Landtausch
hier und dort), Ost-Jerusalem (einschließlich der
islamischen und christlichen Heiligen Stätten), das die
Hauptstadt Palästinas werden sollte, Abbau der
Siedlungen auf palästinensischem Boden, eine Lösung für
die Flüchtlingsfrage in Übereinstimmung mit Israel.
Dieses Ziel hat sich und wird sich nicht ändern. Jeder
palästinensische Führer, der sich mit weniger zufrieden
geben würde, würde von seinem Volk als Verräter
betrachtet werden..
Aber Israels Ziel war überhaupt nicht festgelegt worden
und ist bis zum heutigen Tage offen. Deshalb entstehen
praktisch bei jedem Teil der Umsetzung des Abkommens
Kontroversen, die dann von der ungeheuren israelischen
Übermacht bestimmt wurden. Langsam gab das Abkommen
seinen Geist auf und hinterließ nur noch tote
Buchstaben.
DIE GROSSE Hoffnung – dass die Dynamik des Friedens den
Prozess dominieren würde – wurde nicht realisiert.
Direkt nach der Unterzeichnung des Abkommens flehten wir
Yitzhak Rabin an, vorwärts zu rennen, Fakten zu
schaffen, um die explizite und implizite Bedeutung des
Abkommens zu realisieren. Zum Beispiel alle Gefangenen
auf einmal zu entlassen, alle Siedlungsbau-Aktivitäten
zu stoppen, die Passage zwischen dem Gazastreifen und
der Westbank weit zu öffnen, sofort ernsthafte
Verhandlungen zu beginnen, um möglichst noch vor dem
Abschlusstermin (1999) das Endabkommen zu erreichen.
Und mehr noch als alles andere: alle Kontakte zwischen
Israel und den Palästinensern mit einem neuen Geist zu
erfüllen, damit sie auf gleicher Augenhöhe und
gegenseitigem Respekt geführt werden könnten.
Doch Rabin folgte diesem Weg nicht. Er war von Natur
eine langsame, vorsichtige Person ohne dramatisches
Flair (anders als Menachem Begin z.B.)
Ich verglich ihn damals mit einem siegreichen
Feldherrn, dem es gelungen war, die feindliche Front zu
durchbrechen, und dann, statt all seine Kräfte in die
Bresche zu werfen, bleibt er auf der Stelle stehen und
erlaubt seinen Gegnern, sich neu zu gruppieren und eine
neue Front zu formieren. Nachdem er so einen Sieg über
das „Ganze-Land-Israel“-Lager und die Siedler errungen
hatte, ließ er eine Gegenoffensive starten, die ihren
Höhepunkt in seiner Ermordung fand.
Oslo hätte eine historische Wende sein sollen. Es hätte
dem israelisch-palästinensischen Konflikt ein Ende
setzen sollen, der ein Zusammenprall einer nicht
aufzuhaltenden Kraft (Zionismus) und einer nicht
beweglichen Masse (die Palästinenser) darstellt. Diese
historische Wende geschah nicht. Der zionistische
Angriff geht weiter, und der palästinensische Widerstand
wird extremer.
Man kann sich nicht vorstellen, was geschehen wäre, wenn
Yigal Amir nicht geschossen hätte. Zu Rabins Zeiten
wurden die Siedlungen zwar mit hektischer
Geschwindigkeit weiter gebaut, und es gab keinen
ernsthaften Versuch , mit seriösen Verhandlungen zu
beginnen. Aber die Beziehungen zwischen Rabin und Arafat
wurden enger, gegenseitiges Vertrauen wuchs, und der
Prozess hätte sich beschleunigen können. Deshalb wurde
er ermordet und ein Jahrzehnt später auch Arafat.
ABER DAS Problem des Oslo-Abkommens geht über das
persönliche Schicksal seiner Schöpfer hinaus.
Ohne ein klares und gemeinsames Ziel schuf das
Oslo-Abkommen eine Situation. die es kaum jemals gab.
Das war damals nicht verstanden worden und auch heute
wird es nicht richtig verstanden.
Wenn eine nationale Befreiungsbewegung ihr Ziel erreicht
hat, findet ein Wechsel gewöhnlich in einem Zuge statt.
An einem Tag regierten die Franzosen noch Algerien , am
nächsten Tag übernahmen es die Freiheitskämpfer. Die
Regierung von Südafrika wurde von der weißen Minderheit
mit einem Schlag der schwarzen Mehrheit übergeben.
In Palästina wurde eine völlig andere Situation
geschaffen: eine palästinensische Behörde in
staatsähnlicher Aufmachung wurde tatsächlich
errichtet, doch die Besatzung endete nicht. Diese
Situation war viel gefährlicher, als man ursprünglich
angenommen hatte.
Da gab es einen scharfen Widerspruch zwischen dem
„werdenden Staat“ und der Fortsetzung des
Befreiungskampfes. Das drückte sich einerseits in der
Schaffung einer neuen Klasse von Quasi-Regierungsleuten
aus, die sich an den Früchten der Regierung erfreuten
und sich zu korrumpieren begannen, und andrerseits in
der Masse der normalen Leute, deren Leiden unter dem
Elend der Besatzung weiter ging. Die Notwendigkeit, den
Kampf fortzusetzen, stieß mit der Notwendigkeit
zusammen, die Autonomiebehörde als einen Quasi-Staat zu
stärken.
Arafat gelang es mit großen Schwierigkeiten, zwischen
diesen beiden widersprüchlichen Notwendigkeiten zu
balancieren. Zum Beispiel: es wurde verlangt, dass die
finanziellen Transaktionen der Behörde transparent sein
sollten, während die Finanzierung des andauernden
Widerstandes unklar bleiben musste. Es war notwendig die
„Alte Garde“ , die die Autonomiebehörde beherrschte, mit
den „Jungtürken“ zu versöhnen, die den bewaffneten Kampf
der Organisationen führten. Mit dem Tod Arafats
verschwand die einigende Autorität, und alle internen
Widersprüche brachen auf.
DIE PALÄSTINENSER könnten daraus schließen, dass die
Schaffung der palästinensischen Autonomiebehörde ein
Fehler war; dass es falsch war, den bewaffneten Kampf
gegen die Besatzung zu stoppen oder zu begrenzen. Da
gibt es auch jene, die sagen, dass die Palästinenser
überhaupt kein Abkommen mit den Israelis hätten
unterzeichnen sollen, (noch weniger die 78% des
Mandats-Palästina im voraus aufgeben) oder dass sie
sich wenigstens auf ein Interim-Abkommen hätten
beschränken sollen, das von rangniedrigen Personen
unterzeichnet worden wäre, statt die Illusion zu
schaffen, ein historisches Friedensabkommen sei
erreicht worden.
Auf beiden Seiten gibt es Stimmen, die behaupten, nicht
nur das Oslo-Abkommen, sondern das ganze Konzept der
„Zwei-Staaten-Lösung“ sei tot. Hamas behauptet, die
palästinensische Behörde sei dabei, sich in eine Agentur
von Kollaborateuren zu verwandeln, so eine Art
Subunternehmer, um die Sicherheit Israels zu garantieren
und um die palästinensischen Widerstandorganisationen zu
bekämpfen. Nach einem populären Witz ist mit der
Zwei-Staaten-Lösung der Hamasstaat im Gazastreifen und
der Fatahstaat auf der Westbank gemeint.
Da gibt es natürlich gewichtige Gegenargumente.
„Palästina“ wird jetzt von den UN und den meisten
internationalen Organisationen anerkannt. Es gibt einen
offiziellen weltweiten Konsens zugunsten der Errichtung
des palästinensischen Staates. Und selbst jene, die in
Wirklichkeit dagegen sind, sind gezwungen, in der
Öffentlichkeit ein Lippenbekenntnis für ihn abzugeben.
Was noch wichtiger ist: die israelische öffentliche
Meinung bewegt sich langsam, aber beständig auf diese
Lösung zu. Das Konzept „das ganze Erez Israel“ ist
endgültig tot. Da gibt es einen nationalen Konsens über
einen Austausch von Land, der die Annexion der
Siedlungsblöcke an Israel und die Auflösung aller
anderen Siedlungen ermöglicht. Die Debatte ist jetzt
nicht mehr zwischen der Annexion der ganzen Westbank
oder eine teilweise Annexion, sondern zwischen einer
teilweisen Annexion (die Gebiete westlich der Mauer und
auch des Jordantales) oder die Rückgabe fast aller
besetzten Gebiete.
Das ist weit entfernt vom israelischen nationalen
Einverständnis, das nötig wäre, um Frieden zu machen –
aber es ist so noch viel weiter entfernt vom nationalen
Konsens, wie er vor dem Oslo-Abkommen bestand, als ein
großer Teil der Öffentlichkeit die bloße Existenz des
palästinensischen Volkes leugnete, geschweige denn die
Notwendigkeit eines palästinensischen Staates einsah.
Diese öffentliche Meinung zusammen mit dem
internationalen Druck zwingt jetzt Ehud Olmert
wenigstens so zu tun, als ob er vorhabe, über die
Errichtung eines palästinensischen Staates zu
verhandeln.
Es ist noch immer zu früh, Oslo richtig zu beurteilen.
Oslo gehört nicht zur Vergangenheit. Es gehört zur
Gegenwart. Ob es eine Zukunft hat, mag von uns abhängen.
(Aus dem Englischen:
Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)