Schämt ihr euch nicht?
(Gedanken zum Holocaust-Gedenktag.)
Uri Avnery, 7.5.05
Der PKW hielt für einen
Augenblick. Eine ältere Dame steckte ihren Kopf aus dem Fenster
und schrie: „Schämt ihr euch nicht? Heute ist Holocaust-Tag. Und
ihr demonstriert für die Araber?!“
Die Ursache für ihren Zorn war
eine große Gruppe von Demonstranten gegenüber dem
Verteidigungsministerium in Tel Aviv am letzten Donnerstag, dem
offiziellen Holocaust-Gedenktag in Israel. Vieles geschah an
diesem Tag.
Tausende Israelis flogen nach
Polen, um am jährlichen „Marsch der Lebendigen“ zwischen den
beiden Todeslagern teilzunehmen, deren Namen allein schon Angst
und Schrecken hervorrufen: Auschwitz und Birkenau.
In Auschwitz wurde eine
offizielle Feier abgehalten. Ariel Sharon hielt eine politische
Rede, um seine politische Agenda zu fördern. Er erinnerte die
Israelis daran, die Welt habe während des Holocaust geschwiegen,
und behauptete, wir sollten der Welt auch jetzt nicht vertrauen.
Elie Wiesel, der zwanghafte Pfleger des Holocaustkultes, hielt
mit seinem zwanghaft gequälten Gesichtsausdruck seine
unabwendbare Rede. Für die Ehrengäste waren je nach Rang in der
ersten Reihe weiße Plastikstühle für Ehrenplätze reserviert.
Es war eine weitere offizielle
Zeremonie wie Hunderte andere offizielle Feiern, die für irgend
einen Zweck oder zu irgendeinem Anlass gehalten werden - eine
Gelegenheit, auf der Politiker ihre Plattitüden äußern können.
Der wirkliche Sinn, die weltumfassende menschliche Lektion des
Holocaust, war zwischen den Zeremonien und Worten verloren
gegangen.
Zur selben Zeit flog eine andere
Gruppe – 7000 Israelis – nach Moskau. Nicht um den Sieg über die
Nazis vor 60 Jahren zu feiern, einen Sieg, in dem die Rote
Armee solch eine wichtige Rolle spielte – auch nicht, um den
Veteranen zu danken, die die Todeslager befreiten, und so der
Vernichtung ein Ende bereiteten. Sie begleiteten ein
Basketballteam.
Israel ist eine
Welt-Basketballmacht. Die Siege seines Teams im Ausland erfüllen
den durchschnittlichen Israeli mit nationalem Stolz. Das Spiel
in Moskau war sehr wichtig, und während es lief, war das Leben
im Lande fast zum Stillstand gekommen. Beinahe jeder verfolgte
im staatlichen Fernsehen das Spiel.
Ist die Beschäftigung mit
Basketball am Holocaust-Gedenktag - ausgerechnet an diesem Tag
- angemessen? Auf den ersten Blick nicht. Der Holocaust war
das ausschlaggebende Ereignis der jüdischen Geschichte des
letzten Jahrhunderts, ja, vielleicht aller Zeiten. Er war eine
Warnung an die ganze Menschheit. Ist es angemessen, sich an
solch einem Tag mit einem Sportwettkampf zu beschäftigen ?
Meine Antwort ist: ja. Ich bin
kein besonders begeisterter Sportfan. Aber auch Sport
symbolisiert die Tatsache, dass die Juden den Holocaust überlebt
haben, dass jüdisches Leben an vielen Orten weltweit weitergeht.
Adolf Hitler schwor, „das Weltjudentum“ ein für alle Mal
auszurotten, zusammen mit den „asiatischen Horden“ Russlands.
Und jetzt wetteifern israelische Sportler in Moskau – 60 Jahre
nach seinem schäbigen Tod im Berliner Bunker. Darüber kann man
sich nur freuen.
Zur selben Zeit fand in Tel
Aviv aber auch eine spontane Demonstration vor dem
Verteidigungsministerium statt, um gegen das Töten von zwei
palästinensischen Jungen, 14 und 15 Jahre alt, in Beit Likiya
während einer Demo gegen die Mauer, zu protestieren.
Beit Likiya liegt einige
Kilometer südlich von Bilin, dem Ort der großen Demo, von der
ich das letzte Mal berichtete. Die Umstände sind ähnlich: das
Land von Beit Likiya wird auch vom Zaun gestohlen. Die
Bulldozer arbeiten von morgens bis abends, und ihr Geratter,
fast wie unaufhörliches Geknatter von Feuern aus schweren
Maschinengewehren, wird in allen benachbarten Dörfern gehört.
Die Dorfbewohner wissen, dass
jenseits des Zaunes auf ihrem Land - der Existenzgrundlage
vieler Generationen - ein neuer Ortsteil der nahen Siedlung
gebaut werden wird. Wie die Dorfbewohner von Bilin protestieren
sie jeden Tag. Männer, Frauen und Kinder marschieren mit
plärrenden Lautsprechern auf die bewaffneten Soldaten zu, legen
sich auf den Boden, ketten sich an Olivenbäume, und manchmal
wirft die Jugend Steine, die von Soldaten brutal weggetrieben
wird.
Wenn jüdische Israelis an den
Demonstrationen teilnehmen, verwenden die Soldaten im
Allgemeinen Tränengas, Lärmgranaten, gummi-ummantelte
Stahlkugeln und jetzt auch Salzkugeln. Wenn keine Israelis dabei
sind, verwenden sie auch scharfe Munition.
Dieses Mal stand eine Gruppe
Soldaten der Steine werfenden Dorfjugend gegenüber.
Keiner der Soldaten wurde
ernsthaft verletzt. Keiner war in Lebensgefahr. Aber der
Kommandeur, ein Leutnant, schoss mit scharfer Munition. Zwei
Jungen wurden getötet.
Einer der beiden Jungen wurde
nur am Oberschenkel verletzt. Die Wunde war wahrscheinlich
nicht tödlich, aber man ließ den Jungen verbluten. Die Armee hat
ihn nicht behandelt, wie sie es getan hätte, wenn es sich um
einen verwundeten israelischen Soldaten gehandelt hätte. Es
scheint, dass ein Ambulanzwagen aus dem Dorf nicht gleich näher
herankommen konnte.
Innerhalb weniger Stunden haben
israelische Friedensaktivisten einen Protest arrangieren können.
Der Aufruf wurde von Mund zu Mund, durch Telefonanrufe und
e-mails weitergegeben. Über 250 Männer und Frauen versammelten
sich vor dem Verteidigungsministerium, viele junge Leute und
nicht wenige Ältere, unter ihnen einige der Holocaustgeneration.
Einige Autofahrer, die diese Hauptverkehrsader durch Tel Aviv
benützen, erhoben ihren Daumen oder hupten Zustimmung. Andere
drückten ihre Missbilligung aus wie die schreiende Frau.
Wie kann man ausgerechnet am
Holocaust-Tag für die Araber demonstrieren?
Das ist eine gute Frage. Und es
gibt eine gute Antwort darauf.
Die Antwort drückt eine der
Lektionen aus, die man aus dem Holocaust lernen, eine Lektion,
die man wie ein Banner am Holocaust-Tag hochhalten sollte:
Dass anständige Leute einer
verfolgten Minderheit zu Hilfe kommen sollten.
Dass Loyalität gegenüber dem
eigenen Land nicht heißt, dass man mit der Besatzung eines
anderen Landes und der Unterdrückung eines anderen Volkes
einverstanden ist..
Dass man die Ideologie nicht
annehmen muss, die einem einflößt, man gehöre zu einem
Herrenvolk, einer überlegenen Rasse, einem auserwählten Volk –
und dass das andere Volk unterlegen und andere Untermenschen
sind.
Mit scharfer Munition auf
palästinensische Demonstranten zu schießen, wenn sie nur Steine
werfen, drückt abgrundtiefe Verachtung gegenüber dem Leben von
Nicht-Juden aus. Dieser Offizier hätte unter ähnlichen Umständen
nicht auf jüdische Demonstranten geschossen. Solch ein Gedanke
wäre ihm gar nicht gekommen. Aber Palästinenser - und Araber im
allgemeinen - werden nicht als vollwertige Menschen betrachtet.
Das Abfeuern auf unbewaffnete
Vierzehn- und Fünfzehnjährige zeigt eine tief verwurzelte
rassistische Gesinnung. Das Alter war für den schießenden
Offizier deutlich erkennbar. Sie konnten „sein Leben nicht
gefährden“, wie er behauptete, da sie nicht nah genug waren. Er
hätte sicherlich andere Möglichkeiten des Wegjagens gefunden,
wenn es sich um Kinder orthodoxer Juden oder von Siedlern
gehandelt hätte.
Der Schutz der Kinder ist ein
tief verwurzelter menschlicher Instinkt. Ein Mensch muss ein von
Hass getriebener Rassist sein oder psychisch krank, dass dieser
Instinkt nicht mehr funktioniert – egal woher die Jungen kommen.
Es gibt keinen passenderen Tag,
um gegen solch einen Akt und die dahinter lauernde geistige
Haltung zu protestieren als den Holocaust-Gedenktag.
An jenem Morgen bot die Zeitung
Haaretz ihren Lesern ein nettes Geschenk an: jedes Exemplar
der Zeitung kam mit einer große Nationalflagge. Eine der Frauen
nahm diese Fahne und malte einen blutroten Fleck darüber und
hielt sie während der Demonstration hoch.
Sollte sie sich schämen? Im
Gegenteil. Ich denke, sie drückte den Geist des Holocaust-Tages
besser aus als jede andere Person in Israel und bei der
Auschwitz-Zeremonie.
(Aus dem Englischen: Ellen
Rohlfs, vom Verfasser autorisiert) |