Ein
Ende, das vorauszusehen ist
Uri Avnery, 9.2.08
EIN
WEISER sagte einmal: „Ein dummer Mensch lernt aus seinen
Erfahrungen. Ein intelligenter Mensch lernt aus den
Erfahrungen anderer.“ Dem könnte noch hinzugefügt werden:
„Und ein Idiot lernt nicht mal aus seinen eigenen
Erfahrungen.“
Was
können wir also aus einem Buch lernen, das aufzeigt, dass
wir aus Erfahrungen nicht lernen?
All dies
soll zu einer Empfehlung für solch ein Buch führen. In der
Regel empfehle ich keine Bücher, nicht einmal meine eigenen.
Aber dieses Mal möchte ich eine Ausnahme machen.
Es ist
das Buch von William Polk „Violent Politics“ , das vor
kurzem in den USA erschienen ist.
Polk war
1946 in Palästina, auf der Höhe des Kampfes gegen die
britische Besatzung, und seitdem studierte er die Geschichte
von Befreiungskriegen. Auf weniger als 300 Seiten vergleicht
er Aufstände: von den amerikanischen Befreiungskriegen bis
zu den Kriegen in Afghanistan. Er hat jahrelang im
Planungsstab des amerikanischen Außenministeriums
gearbeitet und hatte auch seine Hand beim
israelisch-palästinensischen Konflikt im Spiel. Seine
Schlussfolgerungen sind höchst aufschlussreich.
ICH HABE
ein besonderes Interesse an diesem Thema. Als ich mich mit
15 Jahren dem Irgun anschloss, wurde mir gesagt, ich solle
Bücher über frühere Befreiungskriege, besonders den
polnischen und irischen, lesen. Ich las fleißig jedes Buch,
das mir zu diesem Thema in die Finger kam und habe seitdem
die Aufstände und Guerillakriege überall in der Welt
verfolgt, wie die in Malaya ( gehört seit 1963 zu Malaysia),
Kenia, Süd-Yemen, Südafrika, Afghanistan, Kurdistan, Vietnam
und andere mehr. In einen von diesen, den algerischen
Befreiungskrieg, war ich sogar persönlich etwas verwickelt.
Als ich
dem Irgun angehörte, arbeitete ich im Büro eines Anwaltes,
der in Oxford studiert hatte. Einer seiner Kunden war ein
hoher britischer Beamter der Mandatsregierung. Er war ein
intelligenter, freundlicher und humorvoller Mensch. Ich
erinnere mich noch an eine kurze Begegnung. Ein Gedanke ging
mir damals durch den Kopf: Wie kommt es, dass solch
intelligente Leute so eine törichte Politik machen?
Je mehr
ich mich seitdem mit anderen Aufständen befasste, um so
größer wurde dieses Erstaunen. Ist es möglich, dass allein
die Situation der Besatzung und des Widerstandes den
Besatzer zu einem törichten Verhalten verurteilt und sogar
die Intelligentesten zu Idioten werden lässt?
Vor ein
paar Jahren strahlte BBC eine lange Serie über den
Befreiungsprozess der früheren britischen Kolonien aus, von
Indien bis zu den Karibischen Inseln. Jeder Kolonie war eine
Episode der Serie gewidmet. Frühere Kolonialverwalter,
Offiziere der Besatzungsarmeen, Befreiungskämpfer und andere
Augenzeugen wurden ausführlich interviewt. Sehr interessant
und sehr deprimierend.
Deprimierend – weil die Kapitel sich fast genau
wiederholten. Die Regierenden jeder Kolonie wiederholten
die Fehler, die ihre Vorgänger in der vorausgegangenen
Episode gemacht hatten. Sie hatten dieselben Illusionen und
erlitten dieselben Niederlagen. Keiner lernte eine Lektion
von seinem Vorgänger, selbst dann nicht, wenn er selbst der
Vorgänger war – wie der Fall der britischen
Polizeioffiziere, die von Palästina nach Kenia versetzt
worden waren.
In
seinem kompakten Buch beschreibt Polk die Aufstände der
letzten 200 Jahre, vergleicht sie mit einander und zieht
eindeutige Schlussfolgerungen.
JEDER
AUFSTAND ist natürlich einzigartig und anders als die
anderen, weil die Hintergründe andere sind, wie auch die
Kulturen der besetzten Völker und der Besatzer. Der Brite
ist anders als der Niederländer und beide unterscheiden sich
vom Franzosen. George Washington war anders als Tito und Ho
Chi Minh anders als Yasser Arafat. Doch trotz dieser
Verschiedenheit gibt es erstaunliche Ähnlichkeiten zwischen
allen Befreiungskämpfen.
Die
Hauptlektion für mich war folgende: in dem Augenblick, in
dem Rebellen von der Bevölkerung angenommen wurden, war der
Sieg der Rebellen sicher.
Es ist
eine eiserne Regel: ein Aufstand, der von der Bevölkerung
unterstützt wird, wird siegen, egal welche Taktiken das
Besatzungsregime anwendet. Der Besatzer kann willkürlich
töten oder humanere Methoden anwenden, den gefangen
genommenen Freiheitskämpfer zu Tode foltern oder ihn wie
einen Kriegsgefangenen behandeln – das macht auf Dauer
gesehen keinen Unterschied. Der letzte der Besatzer kann mit
einer feierlichen Zeremonie an Bord eines Schiffes gehen wie
der britische Hochkommissar in Haifa oder um einen Platz im
letzten Helikopter kämpfen wie die letzten amerikanischen
Soldaten vom Dach der amerikanischen Botschaft in Saigon –
seine Niederlage war ihm ab einem bestimmten Moment des
Aufstandes sicher.
Der
wirkliche Krieg gegen die Besatzung findet in den Köpfen der
besetzten Bevölkerung statt. Deshalb ist es die Hauptaufgabe
für die Freiheitskämpfer, nicht gegen die Besatzer zu
kämpfen – wie man meinen könnte – sondern die Herzen des
Volkes zu gewinnen. Und andrerseits ist die Hauptaufgabe
des Besatzers nicht, die Freiheitskämpfer zu töten, sondern
zu verhindern, dass die Bevölkerung sich ihrer annimmt. In
diesem Kampf geht es um die Köpfe und Herzen, um die
Gedanken und die Gesinnung der Bevölkerung.
Das ist
einer der Gründe, warum Generäle fast immer im Kampf gegen
Freiheitskämpfer unterliegen. Ein Militäroffizier ist die am
wenigsten geeignete Person für diese Aufgabe. Seine ganze
Erziehung, seine Art zu denken, alles, was er gelernt hat,
ist dieser zentralen Aufgabe genau entgegengesetzt.
Napoleon, das Militärgenie, versagte bei seinen Bemühungen,
die Freiheitskämpfer in Spanien zu besiegen ( übrigens
entstand hier das Wort Guerilla = kleiner Krieg), und genau
so der dümmste amerikanische General in Vietnam.
Ein
Armeeoffizier ist ein Techniker, der dafür trainiert ist,
eine spezielle Arbeit zu tun. Dieser Job ist irrelevant in
einem Kampf gegen eine Befreiungsbewegung, trotz einer
oberflächlichen Ähnlichkeit. Die Tatsache, dass ein
Anstreicher sich mit Farben beschäftigt, macht aus ihm noch
keinen Portraitmaler. Ein ausgezeichneter
Hydraulikingenieur wird nicht zu einem fachmännischen
Klempner. Ein General versteht das Wesen eines
Nationalaufstandes nicht und deshalb auch seine Regeln
nicht.
Zum
Beispiel misst ein General seinen Erfolg an der Anzahl der
getöteten Feinde. Aber die kämpfende Untergrundorganisation
wird stärker, je mehr tote Kämpfer sie dem Volk
präsentieren kann, das sich selbst mit den Märtyrern
identifiziert. Ein General lernt, wie man eine Schlacht
vorbereitet, und wie man sie gewinnt. Aber seine Gegner, die
Guerillakämpfer, vermeiden überhaupt jede Schlacht.
CHE
GUEVARA, schon fast eine Ikone, definierte die verschiedenen
Stadien, die ein klassischer Befreiungskrieg durchmacht:
„Zunächst gibt es eine nur teilweise bewaffnete Bande, die
an einem entlegenen, schwer erreichbaren Ort Zuflucht sucht
(oder mitten in einer Stadtbevölkerung, möchte ich
hinzufügen). Sie führt einen gelungenen Schlag gegen die
Behörden durch. Ihr schließen sich ein paar weitere
unzufriedene Bauern, junge Idealisten, an etc… Sie nimmt
Verbindung zu den Bewohnern auf und führt leichte
Blitzangriffe durch…. Da sich den Reihen neue Rekruten
anschließen, nimmt sie sich eine feindliche Kolonne vor und
zerstört ihre führenden Elemente … als nächstes baut sich
die Truppe ein provisorisches Lager auf … und nimmt die
Eigenschaften einer Regierung en minature an“ und so
weiter.
Um auf
der ganzen Linie Erfolg zu haben, müssen die Aufständischen
eine Idee haben, die die Begeisterung der Bevölkerung weckt.
Das Volk vereinigt sich um sie und leistet Hilfe, beherbergt
sie und liefert Nachrichten. Von diesem Stadium an hilft den
Aufständischen alles, was die Besatzungsbehörden tun. Wenn
die Freiheitskämpfer getötet werden, kommen viele andere
nach und ordnen sich in die Reihen ein (so wie ich es in
meiner Jugend tat). Wenn die Besatzer Kollektivstrafen über
die Bevölkerung verhängen, verstärken diese nur den Hass auf
die Besatzer und stärken ihre gegenseitige Hilfe. Wenn es
den Besatzern gelingt, die Führer des Befreiungskampfes zu
töten oder gefangen zu nehmen, nehmen andere Führer ihren
Platz ein – wie die Hydra der griechischen Sage, der neue
Köpfe nachwachsen, sobald Herkules einen Kopf abgeschlagen
hatte.
Häufig
gelingt es den Besatzungsbehörden, die Freiheitskämpfer zu
spalten, und sie sehen das als großen Sieg an. Aber alle
Fraktionen machen in ihrem Kampf gegen den Besatzer weiter
und versuchen, sich darin zu übertreffen, so wie es die
Fatah und die Hamas jetzt tun.
ES IST
schade, dass Polk dem israelisch-palästinensischen Konflikt
kein besonderes Kapitel gewidmet hat, aber es ist nicht
wirklich nötig. Wir können es selbst nach unserm Verständnis
schreiben.
Während
der 40 Jahre Besatzung haben unsere politischen und
militärischen Führer im Kampf gegen den palästinensischen
Guerillakrieg versagt. Sie waren weder dümmer noch grausamer
als ihre Vorgänger – die Holländer in Indonesien, die Briten
in Palästina, die Franzosen in Algerien, die Amerikaner in
Vietnam, die Sowjets in Afghanistan. Unsere Generäle mögen
sie alle nur mit ihrer Arroganz übertreffen – ihrer
Überzeugung, sie seien die supergescheiten und dass der
„jüdische Kopf“ neue Patente erfinden wird, an die all die
Nicht-Juden gar nicht denken würden.
Von dem
Zeitpunkt an, an dem Yasser Arafat es gelang, die Herzen des
palästinensischen Volkes zu gewinnen und sie um den
brennenden Wunsch zu vereinen, die Besatzung los zu werden,
war der Kampf schon entschieden. Wenn wir klug gewesen
wären, hätten wir damals schon mit ihm ein politisches
Abkommen geschlossen. Aber unsere Politiker und Generäle
waren nicht klüger als alle anderen. Und so werden wir mit
dem Töten, Bombardieren, Zerstören und dem Vertreiben
fortfahren – in der törichten Überzeugung, dass, wenn wir
nur noch mal zuschlagen, der lang ersehnte Sieg am Ende des
Tunnels erscheinen werde – um dann nur zu entdecken, dass
der dunkle Tunnel uns in einen noch dunkleren Tunnel führt.
Wie
immer, wenn eine Befreiungsorganisation nicht ihre Ziele
erreicht, taucht neben ihr oder anstelle von ihr eine
extremere auf und gewinnt die Herzen des Volkes.
Hamas-ähnliche Organisationen übernehmen Fatah-ähnliche. Das
Kolonialregime, das nicht rechtzeitig ein Abkommen mit der
moderateren Organisation erreicht hat, wird am Ende
gezwungen, mit der extremeren zurecht zu kommen.
General
Charles de Gaulle gelang es, mit den algerischen Rebellen
Frieden zu machen, bevor sie dieses Stadium erreicht hatten.
1.25 Millionen Siedler hörten eines Morgens, dass die
französische Armee dabei sei, zusammen zu packen, zu einem
bestimmten Termin das Land zu verlassen und nach Hause zu
gehen. Die Siedler – viele von ihnen in der vierten
Generation - rannten um ihr Leben, ohne Entschädigungen zu
bekommen (wie die israelischen Siedler, als sie den
Gazastreifen 2005 verließen). Aber wir haben keinen de
Gaulle. Wir sind dazu verurteilt, den Weg unendlich weiter
zu gehen.
Wenn wir
nicht täglich Zeugen der schrecklichen Tragödie wären,
könnten wir angesichts der mitleiderregenden Hilflosigkeit
unserer Politiker und Generäle lachen, die herumlaufen, ohne
zu wissen, woher ihnen Rettung kommen könnte. Was tun? Alle
aushungern? Das hat zu dem Mauerfall an der
Gaza/Ägypten-Grenze geführt. Alle ihre Führer töten? Wir
haben schon Sheich Ahmed Yassin und zahllose andere
getötet. Die „große Operation“ durchführen und den ganzen
Gazastreifen noch einmal besetzen? Wir hatten den Streifen
schon zweimal erobert. Dieses Mal werden wir es mit
geübteren Guerillakämpfern zu tun haben, die noch viel mehr
in der Bevölkerung verwurzelt sind. Jeder Panzer, jeder
Soldat wird ein Ziel werden. Der Jäger kann sehr wohl zum
Gejagten werden.
WAS ALSO
könnten wir noch tun, was wir nicht schon getan haben?
Zunächst
mal jeden Soldaten und Politiker dahin bringen, William
Polks Buch zusammen mit einem der guten Bücher über den
algerischen Kampf zu lesen.
Zweitens
das zu tun, was alle Besatzungsregime am Ende in allen
Ländern getan haben, in denen sich die Bevölkerung erhoben
hatte: ein politisches Abkommen erreichen, mit dem beide
Seiten leben und von dem sie profitieren können. Und
rausgehen.
Schließlich: das Ende ist klar. Die einzige Frage ist: wie
viele Tote, wie viele Zerstörungen, und wie viel mehr Leiden
muss noch folgen, bis die Besatzer an den Punkt kommen, an
dem sie die unausweichliche Schlussfolgerung ziehen und
Schluss machen?
Jeder
vergossene Tropfen Blut ist ein Tropfen Blut zu viel.
(Aus dem
Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert) |