Ya’alons 70 Jungfrauen
Was ist mit dem Generalstabschef, Generalleutnant
Moshe („Bogie“) Ya’alon, los?
Uri Avnery, 15.11.03
Bis vor kurzem war er der
aggressivste Falke in der Armee, ja, vielleicht im ganzen Land.
Plötzlich verwandelt er sich fast in eine Taube.
Hat er eine göttliche
Offenbarung wie der Rabbi Saul von Tarsus gehabt, als er nach Damaskus
ging, um dort die Christen zu verfolgen - und kam dort als Apostel Jesu
an?
Bis heute war Ya’alons
„Evangelium“ weit entfernt von den Lehren des sanften jüdischen
Predigers von Nazareth. Seine Lehre war: schlagt die Araber auf den
Kopf, dann werden sie nachgeben. Falls es nicht genügt, schlagt noch
härter zu! Macht das Leben jedes einzelnen Palästinensers unerträglich,
hindert ihn daran, sein Dorf oder seine Stadt zu verlassen, zerstört den
Lebensunterhalt seiner Familie, nehmt ihm das Land weg!
Dies war eine fast
mathematische Formel. Wenn ein Schlag nach dem andern folgt, wird das
Leben der Palästinenser an einen Punkt gelangen, an dem sie aufgeben.
Sie werden nicht mehr in der Lage sein, Widerstand zu leisten. Sie
werden ihre Hände heben, ihren Kopf senken und alles akzeptieren, was
die Regierung Israels ihnen als gut genug anzubieten, bereit ist. Sie
werden ihre Kämpfer ( in der Sprache der Besatzer „Terroristen“ – in der
Sprache der Besetzten „Nationalhelden“) übergeben. Sie werden in den
Enklaven leben, die ihnen Israel zugesteht – oder sie werden sich in
einem anderen Land nach einem besseren Leben umsehen.
Plötzlich distanziert sich
der Generalstabschef nun selbst von dieser Strategie. Er sagt der
Öffentlichkeit, dass die Politik der Regierung – deren treuester
Unterstützer er gewesen ist – „destruktiv“ sei. Statt den Terrorismus zu
liquidieren, so sagt er, produziere sie Terrorismus. Das Leben der
Palästinenser muss erleichtert werden, ihnen muss Hoffnung gegeben
werden.
Was ist also geschehen?
Der erste Teil des Planes
lief besser als erwartet. Das Leben der Palästinenser ist zur Hölle
geworden. Die meisten von ihnen leben unterhalb des Existenzminimums,
viele von ihnen an der Schwelle zur Hungersnot, einige tatsächlich in
Hungersnot. Hunderttausende von palästinensischen Kindern leiden an
Unterernährung. Jedes Dorf ist – da völlig von Straßensperren umgeben -
zu einem Gefängnislager geworden. Verkehr ist beinahe unmöglich. Viele
Palästinenser können ihren Arbeitsplatz, das Krankenhaus, die
Universität und Schule nicht erreichen und ihre Produkte nicht auf den
Markt bringen. Israelische Truppen durchstreifen Städte und Dörfer,
demolieren Häuser, verhaften oder töten Aktivisten und gleichzeitig auch
Frauen und Kinder. Das ferne Motorengeräusch eines Flugzeugs genügt,
dass die gesamte Bevölkerung den Atem anhält.
In dieser Hinsicht sind alle
Ziele Ya’alons erreicht worden. Es würde schwierig sein, sich eine
schrecklichere Situation vorzustellen – abgesehen von einem wirklichen
Massaker. Nach dem Plan hätten die Palästinenser schon längst aufgeben
müssen.
Aber - Wunder über Wunder -
dies ist nicht geschehen. Die Palästinenser haben nicht aufgegeben. Sie
haben es irgendwie fertig gebracht, selbst unter diesen entsetzlichen
Umständen zu existieren. Die gegenseitige Unterstützung aller Mitglieder
der arabischen Großfamilie hat geholfen. Außerdem unterstützt die große
Mehrheit der Palästinenser weiterhin die gewalttätigen Angriffe (
„Terrorismus“ in der Sprache der Besatzung, „bewaffneter Widerstand“ in
der Sprache der Besetzten) Die Selbstmordattentäter werden mit Stolz und
voller Bewunderung angesehen. Für jeden „Märtyrer“, der sich selbst in
die Luft sprengt, drängen hundert nach.
Die einzige Diskussion unter
den Palästinensern geht darüber, ob sie mit den Selbstmordattentaten
innerhalb Israels weiter machen oder ob sie sich darauf beschränken
sollten, Siedler und Soldaten innerhalb der besetzten Gebiete
anzugreifen.
Es scheint, Ya’alon und seine
Generäle seien zu der Folgerung gekommen, ihr Feldzug sei fehl
geschlagen ist. Jeder weitere Druck auf die Palästinenser wird
kontraproduktiv sein und mehr Hass, mehr Feindschaft erzeugen. Also wird
es mehr Angriffe geben und die Armee zwingen, noch mehr Truppen zu
mobilisieren, noch mehr Ressourcen zu investieren – ohne irgendetwas zu
erreichen.
Ya’alon, der Falke, wandelte
sich in eine Pseudo-Taube. Aber auch sein neues Rezept gründet sich auf
falsche Voraussetzungen. Statt „sie auf den Kopf zu schlagen“, heißt es
nun „erleichtert ihre Situation !“. Wie denn? Erlaubt ein paar Tausend
in Israel zu arbeiten? Lasst einige hundert Kaufleute nach Israel, um
Waren einzukaufen? (Gewiss, die israelische Wirtschaft könnte dies
gebrauchen). Entfernt hier und dort ein paar Straßensperren? Gebraucht
die Peitsche etwas weniger und das Zuckerbrot etwas mehr?
Auch dies ist ein Rezept für
vorhergesagtes Misslingen. Weil genau wie die alten Rezepte und alle
falschen Voraussagen in all den Jahren( denken wir nur an Yom Kippur!)
diese auf einer bodenlosen Verachtung der Araber im allgemeinen und der
Palästinenser im besonderen beruhen. Doch der extrem rechte zionistische
Führer Vladimir Jabotinsky begriff schon vor etwa 80 Jahren: man kann
die Araber nicht kaufen. Die totale Hölle in eine weniger totale Hölle
zu ändern, wird sie nicht dahin bringen, ihre nationalen Ziele
aufzugeben.
Selbst wenn die besetzten
Gebiete in ein Paradies auf Erden verwandelt würden, und die
Militärregierung jeden männlichen Bewohner mit 70 Jungfrauen ( wie im
islamischen Paradies versprochen) versehen würde, würden die
Palästinenser nur eines wünschen: ein Ende der Besatzung . Sie wünschen
sich einen eigenen Staat auf der ganzen Westbank und im Gazastreifen mit
Ost-Jerusalem als seiner Hauptstadt.
Die von Ya’alon jedoch
versprochene Erleichterung wird weit davon entfernt sein, ein Paradies
zu schaffen. Sie wird wie ein Tropfen Wasser auf einem heißen Stein
sein. In der Zwischenzeit zerstört die monströse „Sicherheitsmauer“
täglich den Lebensunterhalt von Tausenden mehr Menschen, indem sie ihnen
ihr Land raubt und sie von der Welt abschneidet.
Ya’alon leidet also nicht an
einem plötzlichen Anfall von Menschlichkeit. Er spürt, dass die
israelische Öffentlichkeit sich langsam von seiner Strategie abwendet.
Selbst Laien fangen zu begreifen an, dass er versagt hat. Ya’alon ändert
seinen Kurs, weil die Öffentlichkeit beginnt, ihren Kurs zu ändern.
Ein Mann von Prinzipien würde
zum Ministerpräsidenten gehen, seine Generalsinsignien auf den Tisch
legen und erklären: „Herr Ministerpräsident, ich habe versagt, ich lege
mein Amt nieder. Übrigens würde ich Ihnen raten, dasselbe zu tun.“
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs und
vom Verfasser autorisiert)
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