Agatha im Regen
Uri Avnery, 1.7.06
„ISRAEL HAT dem palästinensischen Volk den Krieg
erklärt! Das palästinensische Volk wird entsprechend
antworten! Die palästinensische Rebellion wird
weitergehen! Die palästinensischen Kämpfer bleiben
standhaft im Dienst der Nation! Nieder mit der
nazi-zionistischen Besatzung! Raus mit den schmutzigen
Ungläubigen aus dem Heiligen Land !
Zerstörtes Rafah – wir werden dich wieder aufbauen! Lang
lebe die palästinensische Revolution! Lang lebe der
Staat Palästina!“
Ein
Hamas- Flugblatt der letzten Woche? Nicht ganz so. Es
handelt sich um einen Text, der - hier leicht
abgewandelt - am 2. Juni 1942 nach dem „Schwarzen
Samstag“ von der Haganah veröffentlicht wurde – fast
auf den Tag genau vor 60 Jahren.
Im
Gefolge einer gewagten Kommandoaktion durch die Palmach
(„Schocktruppe“ der Hagana), die einige Brücken in die
Luft gesprengt hatte, entschied die britische Regierung
Palästinas, einen im voraus gut vorbereiteten Plan
auszuführen, dessen Codename „Agatha“ war. Am 29. Juni
1946 schwärmten 17 000 britische Soldaten über alle
jüdischen Städte und Kibbuzim, um Waffen und Dokumente
zu konfiszieren und Führer der jüdischen Gemeinschaft zu
verhaften. Die britische Regierung bekräftigte damit den
Entschluss, den Terror auszumerzen. In Jerusalem
besetzten die Soldaten das Büro der Jewish Agency, die
de facto Regierung des jüdischen „Staates innerhalb des
Staates“, und konfiszierten viele Dokumente, die klar
die engen Verbindungen der Jewish Agency mit dem
„terroristischen Hauptquartier“, dem vereinigten
Kommando der Hagana, des Irgun und der Stern-Gruppe, die
damals eng zusammen arbeiteten, nachwiesen.
Die
Soldaten brachen in die Wohnungen der politischen
Führer der jüdischen Gemeinschaft ein und verhafteten
die meisten „Minister“ der Jewish Agency. Die Führer
waren in Latrun in Haft. Aber die Kommandeure der
Untergrundorganisationen entschieden, den Kampf
weiterzuführen, um den Briten zu beweisen, dass die
Verhaftung der Führer sie nicht zum Schweigen bringen
konnte.
„Der Schwarze Samstag“ wurde zu einem Meilenstein im
Kampf gegen die Briten. Innerhalb eines Jahres verließen
sie das Land.
Die
Ähnlichkeit zwischen der britischen „Agatha“ und dem
israelischen „Sommerregen“ ist verblüffend. Es zeigt,
dass jedes Besatzungsregime dazu verurteilt ist, die
Aktionen seiner Vorgänger zu wiederholen, selbst wenn
sie sich als hoffnungslos erwiesen haben. Dies bedeutet
nicht, dass alle Besatzer Toren sind – sondern dass die
Logik der Besatzung als solche sie dazu verurteilt,
törichte Maßnamen zu treffen.
DAS
ZIEL der gegenwärtigen Operation ist vorgeblich die
Befreiung des Soldaten Gilad Shalit, der vom
palästinensischen Untergrund (aus verschiedenen
Organisationen bestehend) bei einem Angriff, den sogar
ein israelischer Militärexperte als „gewagte
Kommandoaktion“ bezeichnete, gefangen genommen wurde.
Wenn
unsere Armee ihren hohen militärischen Standard
gehalten hätte, dann würde sie sofort alle für das
Debakel Verantwortlichen absetzen. Vor 50 Jahren wäre
man so vorgegangen. Doch heute haben wir eine andere
Armee. Keiner wurde entlassen. Die gescheiterten
Kommandeure nannten den Angriff nur eben „einen
terroristischen Akt“, die gegnerischen Kämpfer
„Terroristen“ und den gefangen genommenen Soldaten
„gekidnappt“.
Die
Aktion beweist natürlich eine alte militärische Maxime:
für jedes Mittel der Verteidigung kann ein Mittel des
Angriffs gefunden werden und umgekehrt. Der
Sicherheitszaun, der den Gazastreifen von allen Seiten –
außer vom Meer – umgibt, der entsprechend nun auch im
Westjordanland gebaut wird, kann Diebe abhalten und
Leute, die in Israel Arbeit suchen, aber keine fest
entschlossenen Kämpfer, die immer Wege finden werden,
ihn zu überwinden - ob oben drüber oder unten durch.
Der
„entführte“ Soldat diente als Vorwand für eine
Operation, die schon seit langem vorbereitet gewesen
sein musste. Der israelischen und internationalen
Gemeinschaft war seine Befreiung als Ziel vorgegaukelt
worden, aber sein Leben ist jetzt tatsächlich in
größerer Gefahr. Wenn die Soldaten in die Nähe seines
Verstecks kommen, könnte er im Kreuzfeuer erschossen
werden – wie es vor einigen Jahre mit dem Soldaten
Nachshon Waksman geschah, der von der Hamas gefangen
genommen worden war. Er war beim Schusswechsel zwischen
Soldaten und Palästinensern erschossen worden. Waksman
würde wahrscheinlich heute noch leben, wenn es statt
dessen einen Gefangenenaustausch gegeben hätte.
Eine
Verbindung zwischen dem „entführten Soldaten“ und der
Operation besteht nur im Reich der Propaganda . Dasselbe
gilt auch für den 2. Vorwand: es sei das Ziel, dem
Beschuss von Sderot durch Qassam-Raketen ein Ende zu
setzen.
Stimmt, das ist eine ziemlich unerträgliche Situation.
Die Qassam, eine einfache und billige Waffe, verursacht
mehr Panik als wirklichen Schaden, wie die deutsche
V-Waffe, mit der London im 2. Weltkrieg bombardiert
wurde. Sie terrorisierte die Bevölkerung – und das ist
ihr Ziel. Ihr Zweck ist es auch, die verheerende
Blockade zu brechen, die die israelische Regierung über
den Gazastreifen seit dem „Abzug“ verhängt hat. Bis
jetzt hat die Armee kein Mittel gefunden, dem
Raketenbeschuss ein Ende zu setzen.
Aber
auch die Qassams sind nicht der wahre Grund für die
Operation „Sommerregen“. Wenn man sich diese genauer
ansieht, dann wird klar, dass sie ein viel weiter
gestecktes Ziel hat: die gewählte palästinensische
Regierung ( nach israelischer Propaganda
„Hamas-Regierung“) zu zerstören und die
palästinensische Bevölkerung in die Knie zu zwingen.
Dies
würde es vermutlich für die israelische Regierung
möglich machen, den „Konvergenz“-Plan auszuführen, der
große Teile der Westbank an Israel annektiert und die
Errichtung eines lebensfähigen palästinensischen
Staates verhindert.
Dies
ist ein klares Ziel, das durch die Operation mit
einfachen Mitteln erreicht werden soll: nämlich indem
man die palästinensische Bevölkerung durch die
Liquidierung der Führung, durch Zerstörung ihrer
Infrastruktur, durch Absperrung des Zugangs zu
Lebensmittel- und Medizinvorräten, zu Strom, Wasser,
Gesundheitsdiensten und nicht zuletzt zu Arbeitsstellen
zum Aufgeben bringen will. Die Botschaft für die
Palästinenser heißt: wenn ihr eurem Leiden ein Ende
setzen wollt, entfernt die von euch gewählte Regierung.
FÜHRT DIES zum Erfolg? Es wird genau wie bei der
britischen Operation „Agatha“ das Gegenteil bewirken.
Wie
schon seit Jahren liegen alle Fehlschläge unserer Armee
- von der Schlacht von Karameh 1968 über die Überquerung
des Suezkanals zu Beginn des Yom Kippur Krieges bis zu
den beiden Intifadas - in der abgrundtiefen Verachtung
begründet, die die Armeekommandeure gegenüber Arabern im
Allgemeinen und gegenüber Palästinensern im Besonderen
haben. Der Shin Bet trifft beim Verhör auf Palästinenser
in Gestalt Gefangener, die unter Folter bereit sind,
alles zu sagen, und auf widerwärtige Kollaborateure, die
bereitwillig ihre Cousins für Drogen und Geld verraten.
Die Besatzungskommandeure können sich nicht vorstellen,
dass die Palästinenser genau so reagieren wie jedes
andere Volk, genau – Gott behüte! - wie wir in
ähnlicher Situation. Was, diese jämmerlichen Araber sind
wie wir?
Die
Briten haben sich uns gegenüber zwar nicht so
verhalten, wie wir es gegenüber den Palästinensern tun.
Andrerseits ist die palästinensische Fähigkeit, die
Unterdrückung zu ertragen, größer als unsere. Dies liegt
in der Familienstruktur, in der die gegenseitige
Hilfsbereitschaft stärker ausgeprägt ist, und in der
Erfahrung, jahrelang in einer ernsten Notlage zu leben.
Am
„Schwarzen Samstag“ stand die jüdische Gemeinschaft
geschlossen hinter ihrer bedrängten Führung. Die
Opposition von rechts bis links vereinigte sich hinter
Ben-Gurion (der gerade im Ausland war) und Sharett (im
Gefängnis in Latrun). Die Erfahrung lehrt, dass sich
jedes Volk gleich verhält, wenn ein ausländischer Feind
seine Führung angreift. Es ist also ziemlich sicher,
dass Hamas aus diesem Test gestärkt hervorgeht. Die
Verhaftungen beweisen der palästinensischen
Öffentlichkeit, dass es eine kämpfende loyale Führung
ist und keine durch die Annehmlichkeiten der Macht
korrumpierte – im Gegensatz zu ihren Vorgängern, deren
Ansehen in manchen Fällen durch den Hang zur Korruption
beschädigt war.
Der
Vorwand für die Operation – die Befreiung des gefangenen
Soldaten - wird die Haltung der Palästinenser nur
verhärten. Kein Thema ist ihnen wichtiger als die
Entlassung der palästinensischen Gefangenen – eine Sache
die direkt 10 000 palästinensische Großfamilien in jeder
Stadt, in jedem Stadtteil und Dorf betrifft. Diese
Familien sind bereit, alles zu erleiden, um ihre
Entlassung zu sichern.
DAS
ZWEITE OPFER der Operation ist der „Konvergenz“-Plan,
der lächerlich geworden ist.
In
den Augen eines gewöhnlichen Israeli sieht es so aus:
wir haben den Gazastreifen verlassen – und nun kehren
wir dahin zurück. Wir haben dort die Siedlungen
aufgelöst und haben dafür die Qassams bekommen. Sharon
ist gescheitert – und so wird Olmert zweifellos erst
recht scheitern.
Das
stimmt, aber aus offensichtlichen Gründen. Der Rückzug
aus dem Gazastreifen hat keine Sicherheit gebracht, weil
er ohne einen Dialog oder ein Abkommen mit den
Palästinensern ausgeführt wurde. Er hat den Frieden
nicht näher gebracht, weil er mit der offenen Absicht
verbunden war, große Teile der Westbank zu annektieren.
Und – was nicht weniger wichtig ist – wir verließen zwar
den ganzen Gazastreifen, verbarrikadierten ihn aber und
schnitten ihn so von der Außenwelt ab. Das trifft noch
viel mehr auf Olmerts „Konvergenz“-Plan zu.
Der
„Sommerregen“ mag ihn von der Karte weggeschwemmt haben.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs und Christoph Glanz,
vom Verfasser .autorisiert)
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