Die Chuzpe
Uri Avnery, 9.9.06
IN JEDER Sprache gibt es ein paar Wörter, die man nicht
genau in eine andere Sprache übersetzen kann. Es
scheint, dass sie etwas Intimes von denen wiedergeben,
die diese Sprache sprechen, und die tief in deren
Geschichte, Tradition und Realität wurzeln. Solche
Wörter werden zu internationalen Ausdrücken, die auch in
ihrer originalen Form angewendet werden.
Im Deutschen gibt es z.B. das Wort „Schadenfreude“. Im
Englischen das Wort „Gentleman“ und im Amerikanischen
das Wort „Business“. Oder im Russischen das Wort
„Pogrom“ (Was ursprünglich Verwüstung bedeutet). Oder
das japanische Wort „Kamikaze“ (Himmlischer Wind, ein
Titel, der Selbstmordfliegern gegeben wurde) oder das
mexikanisch-(spanische) Wort „manana“ und das
entsprechende arabische Wort „bukra“ (das morgen
bedeutet. Der Unterschied zwischen beiden? Ein Witz
sagt: bukra ist nicht so eilig). Und letztlich das
palästinensische Wort „Intifada“.
Das prominenteste hebräische Wort bei der Aufzählung
dieses internationalen Wörterbuches ist „Chuzpe“, ein
Wort, das in einer anderen Sprache kein Äquivalent hat.
Einige deutsche Wörter mögen ihm nahe kommen (wie
Unverschämtheit, Frechheit, Unverfrorenheit, Anmaßung),
aber keines vermittelt den ganzen Sinn dieses
hebräisch-jiddischen Ausdrucks. Es scheint etwas zu
reflektieren, das besonders charakteristisch für
jüdische Realität ist, und das in den Staat Israel
mitgenommen wurde, der sich ja selbst als „jüdischer
Staat“ definiert.
VOM PRÄSIDENTEN Israels wird erwartet, dass er der
gemeinsame Nenner aller unserer Bürger ist. Deshalb ist
es in Ordnung, wenn er auch diesen Charakterzug
symbolisiert.
Und tatsächlich ist es schwierig, sich eine typischere
Chuzpe vorzustellen, als das Benehmen seiner Exzellenz,
des Präsidenten Moshe Katzav. Er ist das höchste Symbol
israelischer Chuzpe.
Katzav ist von mehreren Frauen, die mit ihm im
Präsidentenbüro aber auch in seinen früheren
öffentlichen Ämtern zusammen gearbeitet haben,
sexueller Belästigungen angeklagt worden. Mindestens
drei klagten ihn der Vergewaltigung an.
Solche Anklagen sind natürlich noch längst keine
Verurteilung. Die Untersuchungen sind noch im Gange. Der
Präsident – wie jeder andere Bürger – wird so lange für
unschuldig befunden, bis ihm vor Gericht Schuld
nachgewiesen wird. Es ist gut möglich, dass er am Ende
nicht einmal angeklagt wird – oder falls dies geschieht
– dass er frei gesprochen wird, wenn auch nur aus
Mangel an Beweisen.
Aber darum geht es gar nicht. Es geht darum, dass der
Präsident eines Staates – wie Caesars Frau – über jeden
Verdacht erhaben ist. Es genügt, dass es einsichtige
Gründe gibt, den Präsidenten zu verdächtigen – wie eine
strafrechtliche Verfolgung – worauf er sein Amt
niederlegen müßte. Wenn er später frei gesprochen wird,
umso besser für ihn.
Um es deutlich zu sagen: ich habe persönlich nichts
gegen Moshe Katzav. Im Gegenteil. Ich habe ihn im
Fernsehen für seine Bereitschaft gelobt, dass er –
obwohl zum Likud gehörend – arabischen Bürgern zugehört
hat. Ich hatte ihm einmal eine Delegation mit
maßgeblichen Leuten aus der Westbank gebracht. Er
behandelte sie mit äußerster Höflichkeit.
Aber als Bürger Israels schäme ich mich. Die Affären, in
die er verwickelt zu sein scheint, entehren das Amt und
indirekt auch den ganzen Staat. Der „Bürger Nummer Eins“
ist zur Zielscheibe von Witzen geworden.
Eines kann noch zu seinen Gunsten gesagt werden: auch in
seiner Chuzpe symbolisiert er den Staat oder wenigstens
die herrschende Elite.
DER KÖNIG der Chuzpe, ja, seine Personifizierung, ist
der Ministerpräsident Ehud Olmert.
Wenn er nur eine Spur von Scham, ein Minimum von Anstand
hätte, dann wäre er einen Tag nach dem Waffenstillstand
von seinem Amt zurückgetreten. Eine Untersuchung wäre
gar nicht mehr nötig, um Offensichtliches zu bestimmen:
er hat sich einer Reihe von schlimmster Fehlschläge
schuldig gemacht, die den Tod von über Tausend Menschen,
einschließlich dem von 200 Israelis – Männer Frauen,
alte Leute und Kinder – verursacht haben.
Es kann darüber debattiert werden, weswegen genau
Olmert angeklagt werden soll: einen unnötigen und
aussichtslosen Krieg begonnen zu haben (wie ich meine)
oder „nur“ wegen einer inkompetenten Führung von Anfang
bis zum Ende. Aber jede einzelne Anklage wäre für eine
Person von Anstand ausreichend, nach Hause zu gehen und
dort auf die Resultate der Untersuchungen zu warten.
Aber Olmert denkt nicht im Traume daran, dies zu tun. Er
macht weiter, als wäre nichts geschehen. In den USA wird
dies „Stonewalling“ genannt. Er stand dort wie der
nackte König im Kindermärchen. Alle seine Versprechen,
die er vor wenigen Monaten während der Wahlkampagne
gemacht hat, haben sich wie Rauch im Wind aufgelöst. Er
hat keinen politischen Plan mehr. Er ist nicht einmal
fähig, einen Plan zu realisieren, falls er einen hätte.
Er hat keine Zeit, über irgendetwas nachzudenken, außer
über sein politisches Überleben.
Winston Churchill sagte einmal über einen früheren
britischen Ministerpräsidenten: „Der rechte, ehrenhafte
Gentleman stolpert zuweilen über die Wahrheit, aber er
läuft weiter, als wäre nichts geschehen“. So ähnlich
eilt auch Olmert auf seinem Weg weiter.
Er ist gegen eine Untersuchungskommission, die das
Gesetz für so einen Fall zur Verfügung gestellt hat. Er
selbst stellt eine ihm fraglos loyale Gruppe zusammen,
die eine ihn entlastende Untersuchung durchführen soll.
Er nützt jede Gelegenheit, um noch eine seiner banalen
Reden voller Klischees zu halten, die weder interessant
sind noch ein Wort Wahrheit enthalten.
Das ist eine Chuzpe. Keine Chuzpe im harmlosen Sinn,
wie sie oft in scherzhafter Weise gebraucht wird,
sondern eine gefährliche, listige und aggressive Chuzpe.
Praktisch ist der Staat ohne Führung. Er ist nicht in
der Lage, kühne Entscheidungen in einer Situation zu
treffen, wie sie jetzt erforderlich wäre. Sein
persönliches Überleben überschattet alles, vom Problem
des Gefangenenaustausches bis zum täglichen Töten von
Palästinensern in der Westbank und im Gazastreifen.
Es muss immer wieder festgestellt werden: der Staat ist
kein Privateigentum. Er ist nicht irgendein Beutestück
von jemandem, dem es zufällig gelang, seine Hand darauf
zu legen. Er ist ein nationaler Schatz, den die Bürger
einem besonderen Politiker anvertraut haben, den er
zurückgeben muss, wenn er sich als unfähig und
inkompetent erwiesen hat, seine Aufgaben zu erfüllen.
Jede andere Haltung ist eine Chuzpe.
UNNÖTIG IST ES, Wörter über die Chuzpe von Amir Peretz
zu verlieren. Sie spricht für sich.
Er trägt die persönliche Verantwortung für alle Fehler
im Krieg, von der gedankenlosen Entscheidung, ihn zu
beginnen, bis zur letzten militärischen Entscheidung.
Vom prahlenden Beginn bis zum bitteren Ende zeigte er
erschreckende Unzulänglichkeit. Ein anständiger Mensch
wäre in dem Augenblick zurückgetreten, als die Kanonen
verstummten. Dies zu verweigern, ist eine Chuzpe.
Peretz’ Chuzpe ist fast bizarr. Die gewonnene politische
Macht war ihm wegen seines ausdrücklichen Versprechens
anvertraut worden, eine Sozialreform von Grund auf
durchzuführen. Er hat dieses Versprechen nicht nur
ignoriert, er tat das Gegenteil. Seine Bemühungen, jetzt
weiter zu machen, als wäre nichts geschehen, und sich
selbst sogar als den sozialen Führer darzustellen, sind
geradezu lächerlich.
ABER DIESE drei Weltmeister der Chuzpe – Katzav,
Olmert und Peretz – verblassen im Vergleich zu Dan
Halutz.
Zusammen mit Gleichgesinnten demonstrierte ich
gegenüber dem Verteidigungsministerium, als er als
Generalstabschef vereidigt worden war. Uns war klar, das
solch eine Person, die sich so benommen hat, wie sie
sich benommen hat, und die das sagte, was er gesagt
hatte, nicht geeignet ist, die israelische Armee zu
führen. Aber wir haben uns in unseren wildesten Träumen
nicht vorstellen können, dass er in einer so kurzen Zeit
und in einer so extremen Art und Weise unsere dunkelsten
Ahnungen bestätigen würde.
Vom rein militärischen Standpunkt aus war Halutz der
größte Missgriff in den Annalen der israelischen Armee.
Vom menschlichen Standpunkt aus bestätigt er die
Vorhersage, dass er eine glänzende Karriere im Den
Haager Gerichtshof haben wird. Vom politischen
Standpunkt aus gesehen ist sein Verstand dem eines
Grundschulschülers gleich zu setzen (falls die
Schülergemeinschaft meinen Vergleich billigt!)
Die Prahlerei eines Luftwaffengenerals, die Arroganz
eines inkompetenten Offiziers, die Brutalität einer
Person, die ohne mit der Wimper zu zucken eine Tragödie
über Hunderttausende zu bringen vermag - all dies wurde
während des Krieges enthüllt.
Wie veröffentlicht wurde, teilte er der
Regierung am 6. Kriegstag mit, dass es von diesem
Augenblick an keine Möglichkeit mehr gäbe, noch
irgendetwas zu erreichen. Er sagte dies und forderte
nicht, den Krieg zu beenden; er sagte dies und ließ
weiter töten und zerstören – Tag um Tag, Nacht um Nacht.
Am Vorabend des Waffenstillstandes schickte er seine
Soldaten in eine militärisch sinnlose, vollkommen
unnötige Offensive, bei der das Leben von 33 seiner
Soldaten geopfert wurde.
Aber Dan Halutz tritt nicht zurück.
Dies kommt ihm nicht einmal in den Sinn. In der letzten
Woche wurden ihm bei einem Treffen früherer Generäle
Anklagen und Beschimpfungen entgegen geschleudert – er
rührte sich nicht von der Stelle.
Ein anständiger Mensch wäre sofort
zurückgetreten. Klar ist, dass ein Offizier, der in
dieser Weise versagt hat, der in der Armee kein
Vertrauen mehr genießt, nicht die gründliche Überholung
der Armee durchführen kann, die jetzt erforderlich wäre:
den ganzen Generalstab ersetzen, besonders alle
Kommandeure, die für die Kampagne verantwortlich waren.
Kann eine Person, die sich weigert, die Verantwortung
für diese ganze stümperhafte Kampagne zu tragen, von
seinen Untergeordneten verlangen, dass sie ihre
Verantwortung tragen?
Wenn Chuzpe die Norm in der Armee ist –
welche Chance gibt es dann für ihre Rehabilitation?
ICH WEISS, es gibt einige Argumente,
diese Kämpen der Chuzpe im Amt zu halten. Es gibt keine
guten Alternativen. Der Schlechte mag durch einen noch
Schlechteren ersetzt werden. Olmerts Rücktritt könnte zu
Neuwahlen führen, bei denen die extremere Rechte
gewinnen könnte. Sein Rücktritt könnte auch zu der
Einbeziehung von Avigdor Liberman in die Regierung
führen, im Vergleich mit ihm wären der französische Le
Pen und der österreichische Haider liberale Weichlinge.
Wer oder was kann nach Halutz kommen?
Dies sind alles triftige Argumente,
aber sie müssen einer einfachen Forderung weichen: Der
Chuzpe sollte nicht zu herrschen erlaubt werden. Die
Akzeptanz der persönlichen Verantwortung durch
Regierungs- und Armeechefs ist ein wesentliches
Charakteristikum einer gesunden Gesellschaft. Es ist ein
einfacher moralischer Imperativ, wie Kants kategorischer
Imperativ, der keinen Kompromiss erlaubt.
Der Talmud warnt vor der „Chuzpe
gegenüber dem Himmel“(Gott). Wir müssen vor der Chuzpe
gegenüber der zivilen Gesellschaft, der Herrschaft auf
Erden warnen.
(Aus dem Englischen: Ellen
Rohlfs, vom Verfasser autorisiert) |