Manara Platz,
Ramallah
Uri Avnery, 13.1.07
ES WAR Mord am
hellerlichten Tage. Soldaten einer
Undercovereinheit, als Araber verkleidet, begleitet
von gepanzerten Fahrzeugen, Bulldozern und
Kampfhubschraubern überfielen das Zentrum von
Ramallah. Ihr Ziel war es, einen Fatahmilitanten,
Rabee Hamid zu töten oder gefangen zu nehmen. Der
Mann wurde verwundet, es gelang ihm aber zu fliehen.
Wie immer war
der Platz voller Menschen. Der Manara-Platz ist das
Herz Ramallahs, voller Leben, von Menschen zu Fuß
und in ihren Fahrzeugen. Als den Leuten klar wurde,
was da vor sich ging, fingen sie an, Steine auf die
Soldaten zu werfen. Und diese antworteten mit einer
wilden Schießerei in alle Richtungen. Vier Passanten
wurden getötet, mehr als 30 verletzt.
Die
routinemäßig verlogene Presseveröffentlichung der
Armee meldete, dass die vier Leute bewaffnet gewesen
seien. Tatsächlich? Der eine war ein
Straßenverkäufer mit dem Namen Khalil Al-Bairouti,
der gewöhnlich an diesem Platz heiße Getränke von
einem kleinen Karren verkauft. Ein anderer war Jamal
Jweelis aus Shuafat, nahe Jerusalem, der nach
Ramallah gekommen war, um neue Kleider und
Süßigkeiten zu einer Verlobungsfeier seines Bruders
zu kaufen, die am nächsten Tag sein sollte. Als er
hörte, dass sich Bulldozer auf der Straße näherten
und Autos zermalmten, eilte er aus dem Laden, um
seinen Wagen in Sicherheit zu bringen.
Das geschah vor
neun Tagen. Eine „Routine“-Aktion wie viele andere,
die in den besetzten Gebieten fast täglich
passieren. Aber diesmal gab es internationalen
Krach, weil genau an diesem Tag Ehud Olmert dabei
war, sich mit dem ägyptischen Präsidenten Husni
Mubarrak in Sharm-el-Sheik zu treffen. Der Gastgeber
war zutiefst beleidigt. Verachten die Israelis ihn
so sehr, dass sie in den Augen seines Volkes und der
ganzen arabischen Welt so viel Schande über ihn
bringen? Am Ende des Treffens drückte er in Olmerts
Gegenwart in klaren Worten seine Wut darüber aus.
Der stammelte nur ein paar nichts sagende Worte der
Entschuldigung.
In Israel
begann das übliche Spiel des Eimer-Weiterreichens,
bekannt (wörtlich „den eigenen
Hintern zu
decken“). Wer war verantwortlich? Wie gewöhnlich
irgendjemand ganz unten in der Befehlshierarchie.
Die Leute des Ministerpräsidenten hatten den
Verdacht, dass der Verteidigungsminister Amir Peretz
dahinter steckte, um Olmert ein Bein zu stellen.
Peretz leugnete, irgendwelche Kenntnisse im voraus
davon gehabt zu haben – und reichte „den Eimer“ an
den Generalstabschef weiter, was darauf schließen
lässt, dass er beide, Olmert und Peretz, hatte zu
Fall bringen wollen. Der Kommandeur gab die
Verantwortung weiter an den Generalstabschef der
Mittelfront, Yair Naveh, einen Kippa tragenden
General, der für seine Brutalität und seine extrem
rechten Ansichten bekannt ist. Am Ende entschied
man, dass es irgendein Offizier weiter unten in der
Befehlskette war, der die Aktion genehmigte. Die
ganze Verantwortung lag auf ihm.
Selbst wenn man
all diesen Dementis glaubt – und ich tu das
keinesfalls – so gibt die Armee ein chaotisches Bild
ab, außer Kontrolle, wo jeder Offizier tun kann, was
ihm passt.
ZWEI TAGE
später besuchten meine Frau Rachel und ich den
Platz. Es war am frühen Abend, und mit Unterbrechung
nieselte es. Der Manara-Platz war wieder voller
Leute. Verkehrsstaus blockierten alle sechs Straßen,
die zum Platz führten.
Zacharia, der
palästinensische Freund, der uns begleitete, war
sichtlich besorgt. Er versuchte, uns davon zu
überzeugen, so kurz nach dem Geschehen nicht dorthin
zu gehen. Aber es geschah nichts.
Posters mit
Arafats Antlitz hing an der Säule mitten auf dem
Platz und an einigen Wänden. In einem Minimarkt gab
es Fotos von Saddam Hussein. An einem der Wände
konnte ein zorniges Graffito gelesen werden: „Wir
brauchen eure Hilfe nicht!“ (Von euch den
Amerikanern? den Europäern? Oder euch, den
Hilfsorganisationen?)
Die vier
Steinlöwen, die um die Säule auf dem Platz liegen,
sahen für mich verloren und hilflos aus. Einer von
ihnen trägt eine Armbanduhr an seinem Vorderbein.
Der Designer hatte sich einen Scherz erlaubt und dem
Entwurf eine Uhr hinzugefügt, und die Chinesen, die
den Auftrag erhalten hatten, die Löwen aus Stein zu
arbeiten, machten sie genau nach diesem Entwurf.
Schließlich
gingen wir noch in ein Cafe. Während wir dort saßen,
den Kaffee genossen und von Einheimischen umgeben
waren, wurde es plötzlich stockdunkel. Bevor wir uns
ängstigen konnten, zündeten einige Leute um uns ihre
Zigarettenanzünder an oder das Handy. Nach wenigen
Minuten ging das Licht wieder an.
Auf dem Weg zum
Hotel in einer Seitenstraße nahmen wir ein Taxi. Der
Fahrer, der uns nicht als Israelis erkannte, sprach
die ganze Zeit per Handy mit seinem Bruder auf
Arabisch. Seine drei letzten Worte waren: „Yallah.
Lehitraot. Bye!“. Yallah: „Los!“ (auf Arabisch),
Lehitraot: Bis bald!“ auf Hebräisch); Bye! Auf
Widersehen! (auf Englisch)
ALS WIR unsern
Freunden in Tel Aviv erzählten, dass wir im Begriff
waren, zu einer Konferenz nach Ramallah zu gehen,
dachten sie, wir hätten nicht mehr alle Tassen im
Schrank. „Nach Ramallah? Und gerade jetzt, nachdem,
was dort geschehen ist?“
Die
Organisatoren dieser Konferenz, die „Professoren für
israelisch-palästinensischen Frieden“, eine
internationale Gruppe von Akademikern, zögerten
auch. Die Konferenz war zwar schon vor mehreren
Wochen festgelegt worden, aber vielleicht wäre es
klug, sie um ein oder zwei Wochen zu verschieben?
War es vernünftig Dutzende von Israelis nach
Ramallah zu bringen, kaum 24 Stunden nach solch
einem Mord?
Schließlich
entschied man zu Recht, dass dies genau der richtige
Zeitpunkt und Ort war, die Konferenz zur
angekündigten Zeit stattfinden zu lassen. Die
Vertreter von 23 palästinensischen, 22 israelischen
und 15 internationalen Organisationen waren für 3
Tage in einem Hotel in Ramallah untergebracht,
trafen sich dort, aßen mit einander und diskutierten
über das eine Thema, das alle bewegte: Was kann man
gemeinsam tun, um die Besatzung zu beenden, die
täglich Schrecken verbreitet wie die Mordorgie auf
dem Manara-Platz?
Es war sogar
aus noch einem Grund sehr wichtig, diese Konferenz
an diesem Ort stattfinden zu lassen. Seit dem Mord
an Yasser Arafat waren die Verbindungen zwischen
israelischen und palästinensischen Friedenskräften
auf höherer Ebene dürftig geworden. Anders als
Arafat denkt Mahmoud Abbas, dass diese
offensichtlich nicht so wichtig sind. Das ist einer
der Gründe – einer von vielen – für den Pessimismus,
der Teile des Friedenslagers infiziert hat.
(Übrigens hat
Uri Dan, ein Vertrauter Sharons, nun alle Zweifel
ausgeräumt, dass Arafat tatsächlich ermordet worden
ist.)
Allein deshalb
war es wichtig, dass die Konferenz stattfand.
Israelis, Palästinenser und internationale
Aktivisten saßen zusammen, schlugen Aktionen vor,
die das gemeinsame Ziel betonten. Am zweiten Tag
wurde dies noch deutlicher, als die
Konferenzteilnehmer sich in mehrere Arbeitsgruppen
aufteilten, wo Teilnehmer aus Tel Aviv und Hebron,
Nablus und New York, Barcelona und Kfar Sava Ideen
für gemeinsame Aktionen austauschten.
Es gab auch
einige stürmische Debatten, doch nicht zwischen
Israelis und Palästinensern, sondern über
Differenzen von Meinungen, die nicht nationalen
Linien folgten. Die bedeutendste war: Sollten die
Hauptbemühungen Aktionen im Land oder im Ausland
gewidmet werden?
Der Vertreter
einer israelischen Gruppe behauptete mit
Überzeugung, dass man nichts innerhalb des Landes
tun könne, dass alle Bemühungen darauf konzentriert
werden sollten, die internationale öffentliche
Meinung zu gewinnen, auf der Linie des weltweiten
Boykotts wie dem, der so erfolgreich gegen Südafrika
gewesen war. Dagegen erklärte ausgerechnet ein
palästinensischer Aktivist, dass es am wichtigsten
wäre, die öffentliche Meinung in Israel zu
beeinflussen, ist doch Israel der Besatzer. Auch ich
behauptete, dass es das Wichtigste wäre, sich auf
Bemühungen innerhalb Israels zu konzentrieren,
selbst wenn Aktionen im Ausland auch sinnvoll sein
können. Auch bin ich sehr gegen den Gedanken eines
allgemeinen Boykotts gegen Israel, weil dieser u.a.
die Öffentlichkeit in die Arme der Rechten treiben
würde. (Ich unterstütze allerdings den Gedanken
eines Boykotts gegen bestimmte Ziele, die klar mit
der Besatzung identifiziert werden können, wie die
Siedlungen, die Lieferanten für gewisse militärische
Ausrüstung, Universitäten, die Filialen in den
besetzten Gebieten haben usw.)
EINIGE TAGE
später fand eine vergleichbare Konferenz in der
Hauptstadt Spaniens statt. Doch gab es einen großen
Unterschied zwischen diesen beiden Konferenzen –
etwa so wie der zwischen dem Sonnenplatz in Madrid
und dem Manara-Platz in Ramallah.
Madrid sah eine
Versammlung von respektablen Persönlichkeiten,
Mitgliedern
der Knesset
(einschließlich Unterstützern der Regierung, die für
das Blutvergießen in Ramallah verantwortlich sind,
unter ihnen ein Vertreter der neo-faschistischen
Partei),
zusammen mit
Vertretern der palästinensischen Behörde und ihrer
Kollegen aus arabischen und anderen Ländern. In
Ramallah kamen die Veteranen der Kämpfer für den
Frieden zusammen, Leute die ein Dutzend Mal
gemeinsam in einer Wolke von Tränengas und
Gummigeschossen gestanden. Eine Gruppe von
Palästinensern und Israelis erschienen
am ersten Tag
gemeinsam zu spät, da sie gerade direkt von einer
Demonstration in Bilin kamen, wo die Armee an diesem
Tag eine Wasserkanone, Tränengas und auch
Gummigeschosse eingesetzt hatte.
Die Gäste in
Madrid waren mit dem Flugzeug gekommen. Für die
Gäste in Ramallah war es viel schwieriger, an ihr
Ziel zu kommen. Die Israelis mussten sich mühsam
durch die Kontrollpunkte winden, was auf dem Rückweg
noch schwieriger war. Israelis – abgesehen von
Siedlern – brechen das Gesetz, wenn sie in die
besetzten Gebiete reisen. Aber für die Palästinenser
war es noch zehn Mal schwieriger, nach Ramallah zu
kommen. Ein Gast aus Nablus erzählte uns, dass er
nachts um 2 Uhr das Haus verlassen habe, um
beizeiten um 11Uhr die Konferenz zu erreichen. Der
Gast aus Tubas, nahe Nablus, verbrachte acht Stunden
auf der Straße und an den Kontrollpunkten – viel
länger als man für einen Flug von Tel Aviv nach
Madrid benötigt.
Über die
Madridkonferenz wurde täglich ausführlich in den
israelischen Medien berichtet. Die Konferenz in
Ramallah wurde nicht mit einem Wort in israelischen
Zeitungen, im Fernsehen oder Radio erwähnt –
abgesehen von einem Satz in der Klatschkolumne von
Maariv, die besagte, Uri Avnery lebe vorübergehend
in Ramallah.
DIE
MADRID-Konferenz war hauptsächlich als Beweis
relevant, dass israelische
und
palästinensische Politiker nach allem, was geschehen
ist, doch zusammensitzen können. Welche Bedeutung
hatte das Treffen in Ramallah?
In der
Vergangenheit hatte ich an einigen ähnlichen
Konferenzen teilgenommen, die keine Früchte trugen.
Auch diesmal sind die Hindernisse enorm. Aber mehr
denn je ist klar, dass es notwendig ist, gegen die
Besatzung anzukämpfen, und dass die Aktion
gemeinsam, konsequent und gut durchdacht ausgeführt
werden müsse.
In fünf Monaten
wird die Besatzung 40 Jahre alt – vielleicht das
längste militärische Besatzungsregime in der Welt
überhaupt. Bei der Konferenz gab es eine allgemeine
Übereinkunft, dass alle Kräfte in einer großen
öffentlichen Kampagne konzentriert werden müssen, um
dieses schändliche Datum zu markieren, die
Aufmerksamkeit auf die Ungerechtigkeiten der
Besatzung zu lenken, auf den Schaden, den diese
nicht nur den Palästinensern, sondern auch den
Israelis zufügt, um die Grüne Linie wieder ins
Bewusstsein der Menschen zurückzubringen, gegen die
Straßensperren und die Annexionsmauer und für die
Entlassung der Gefangenen auf beiden Seiten. Zu
diesem Zweck entschied die Konferenz, „eine
israelisch-palästinensisch-internationale Koalition
zur Beendigung der Besatzung“ zu gründen.
Die Fortsetzung
wird von der Willenskraft, dem Mut und dem
Engagement aller Friedenskräfte abhängen und ihrer
Fähigkeit, auch über Straßensperren, Mauern und
Zäune hinweg zusammenzuarbeiten, deren Ziel es u.a.
ist, genau solch eine Zusammenarbeit zu verhindern.
Die Zeit
drängt. Vielleicht trägt deswegen einer der Löwen
auf dem Manara-Platz eine Uhr.
(Aus dem Englischen
Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)