Das große
Dilemma
Uri Avnery , 13.7. 13
VIELLEICHT stehen Sie demselben moralischen Dilemma
gegenüber wie ich:
Was soll man über Syrien denken?
Was soll man über Ägypten denken?
NEHMEN WIR zuerst Syrien.
Als es anfing, war die Wahl für mich klar. Da gab es
diesen üblen Diktator, dessen Familie sein Volk seit Jahrzehnten
misshandelt hatte. Es war eine Tyrannei mit faschistischen
Untertönen. Eine kleine Minderheit, die sich auf eine kleine
religiöse Sekte gründete, unterdrückte die Mehrheit. Die
Gefängnisse waren voll von politischen Dissidenten.
Endlich stand das seit langem leidende Volk auf.
Konnte es da irgendeinen Zweifel über die moralische Verpflichtung
geben, ihnen jede mögliche Unterstützung zukommen zu lassen?
Doch zwei Jahre später bin ich voller Zweifel. Es
gibt keine klare Wahl mehr zwischen schwarz und weiß, sondern
zwischen verschiedenen Grautönen oder, wenn es möglich wäre,
zwischen verschiedenen Schwarztönen.
Ein Bürgerkrieg wütet. Das Elend der Bevölkerung ist
unbeschreiblich. Die Zahl der Toten erschreckend.
Wer soll unterstützt werden? Ich beneide diejenigen,
die einen einfachen Maßstab anlegen: die bösen Amerikaner. Wenn die
US die eine Seite unterstützt, dann ist diese Seite sicher falsch.
Oder das Spiegelbild: Wenn Russland die andere Seite unterstützt,
dann muss diese Seite böse sein. Großmächte haben ihre Interessen
und intervenieren entsprechend. Aber die Wurzeln des Konfliktes
liegen tiefer, und die Probleme sind viel komplizierter.
WAS WIRD geschehen, wenn die Regierungskräfte die
Schlacht verlieren und die Rebellen gewinnen?
Da die Rebellen aus verschiedenen gegenseitig
feindlich gesinnten politischen und militärischen Kräften bestehen
und unfähig sind, ein gemeinsames Kommando aufzustellen, geschweige
denn eine gemeinsame politische Bewegung zu bilden, ist es höchst
unwahrscheinlich, sie würden in der Lage sein, eine gemeinsame,
echt demokratische neue Ordnung zu schaffen.
Es gibt mehrere Wahrscheinlichkeiten und
Möglichkeiten, keine davon ist attraktiv.
Der syrische Staat kann in jeweils religiöse und
nationale Gemeinschaften auseinanderbrechen, die für sich einen
eigenen Ministaat bilden. Die Sunniten. Die Alawiten. Die Kurden.
Die Drusen.
Die Erfahrung lehrt, dass solche Teilungen fast
immer mit Massenvertreibungen und Massakern verbunden sind, da jede
Gemeinschaft versucht, ihren Erwerb ethnisch „rein“ zu machen.
Indien-Pakistan, Israel-Palästina, Bosnien, Kosovo, um nur einige
herausragende Beispiele zu nennen.
Eine andere Möglichkeit wäre eine Art formeller
Demokratie, in der die extremen sunnitischen Islamisten unter
internationaler Aufsicht faire und redliche Wahlen gewinnen und
dann ein unterdrückerisches, religiös- monolithisches Regime
errichten würden.
Solch ein Regime würde wahrscheinlich einige der
wenigen positiven Aspekten der baathistischen Herrschaft
zurückwerfen, wie z. B. die (relative) Gleichheit der Frauen.
Falls dort Chaos und Unsicherheit weiter gehen,
werden entweder die Reste der Armee oder die Rebellen versucht sein,
eine Art offene oder verdeckte Militärherrschaft zu errichten.
WIE WIRKT dies alles auf die gegenwärtigen
Wahlmöglichkeiten…. Beide, die Amerikaner wie die Russen scheinen zu
zögern. Offensichtlich wissen sie nicht, wie sie sich verhalten
sollen.
Die Amerikaner klammern sich an ihr magisches Wort
„Demokratie“, in kühnen Buchstaben geschrieben, selbst wenn es nur
eine formelle Demokratie ist, ohne wirklichen demokratischen Inhalt.
Aber sie sind zutiefst erschrocken, wenn noch ein Land auf
„demokratische“ Weise in die Hände von extrem anti-amerikanischen
Islamisten fällt.
Die Russen stehen sogar einem noch ernsteren Dilemma
gegenüber. Das baathistische Syrien war seit Generationen ihr Kunde/
Verbündeter. Ihre Flotte hat in Tarsus eine Basis (für mich
hat das Wort Flottenbasis einen Geruch aus dem 19. Jahrhundert)
Aber sie müssen vor dem islamischen Fanatismus große Angst davor
haben, von den muslimischen Provinzen in der Nähe angesteckt zu
werden.
Und die Israelis? Unsere Regierung und
Sicherheitsleute sind sogar noch verworrener. Sie bombardieren
Waffenarsenale, die in die Hände der Hisbollah fallen könnten. Sie
ziehen den Teufel, den sie kennen, den vielen Teufeln, die sie nicht
kennen, vor. Im Ganzen gesehen, wünschen sie, dass Bashar Assad
bleibt - fürchten sich aber zu intervenieren.
In der Zwischenzeit eilen Unterstützer beider Seiten
aus allen Ecken der muslimischen Welt und darüber hinaus zur
Szene.
Zusammenfassung: eine Art Fatalismus schwebt über dem
Land; jeder wartet darauf, was auf dem Schlachtfeld geschieht.
DER FALL Ägypten ist sogar noch verworrener.
Wer hat Recht? Wer hat Unrecht? Wer verdient meine
moralische Unterstützung?
Auf der einen Seite ist ein demokratisch gewählter
Präsident und seine religiöse Partei durch die Macht eines
Militärputsches gestürzt worden.
Auf der andern Seite sind die jungen, progressiven,
säkularen Leute in den Städten, die mit der Revolution begannen und
nun das Gefühl haben, dass diese ihnen „gestohlen“ wurde.
Und noch eine Seite: die Armee, die mehr oder weniger
seit dem Coup gegen den fetten König Faruk 1952 an der Macht ist,
und die ungern ihre immensen politischen und wirtschaftlichen
Privilegien verliert.
Wer sind die wahren Demokraten? Die gewählten
Muslimbrüder, deren wahrer Charakter undemokratisch ist? Die
Revolutionäre, die glücklich sind, einen Militärputsch auszunützen
zu können, um die Demokratie zu bekommen, die sie wünschen? Die
Armee, die auf die Demonstranten das Feuer eröffnet?
Nun, das hängt davon ab, was man unter Demokratie
versteht.
In meiner Kindheit war ich Augenzeuge des
demokratischen Aufstiegs der Nazi-Partei, die öffentlich erklärte,
dass sie nach ihrer Wahl die Demokratie abschaffen werde. In der
Tat war Hitler so von der Idee besessen, die Macht mit
demokratischen Mitteln zu erhalten, dass seine Gegner innerhalb
seiner eigenen Partei ihn aus Spaß „Adolf den Rechtmäßigen“ nannten.
Es ist fast banal, festzustellen, dass Demokratie
eine Menge mehr bedeutet als Wahlen und die Herrschaft der Mehrheit.
Sie gründet sich auf eine ganze Reihe von Werten – praktischen
Dingen wie das Gefühl der Zusammengehörigkeit, bürgerliche
Gleichheit, Liberalismus, Toleranz, Fairplay, die Fähigkeit einer
Minderheit, die nächste Mehrheit zu werden, und vieles mehr.
In einer Weise ist die Demokratie ein platonisches
Ideal – kein Land der Welt ist eine perfekte Demokratie (ganz sicher
nicht mein eigenes). Eine demokratische Verfassung bedeutet nicht
viel – es wurde einmal gesagt, dass die Sowjetverfassung von 1936,
von Stalin erlassen, die demokratischste in der Welt sei. Zum
Beispiel sicherte sie jedem Teil der Sowjetunion zu, sich
abzuspalten ( Aber irgendwie hat das keiner versucht).
ALS MUHAMMAD MURSI der demokratisch gewählte
Präsident von Ägypten wurde, war ich froh. Ich mochte den Kerl. Ich
hoffte, er würde beweisen, dass ein moderater, moderner Islamismus
eine demokratische Macht werden könnte. Anscheinend habe ich mich
getäuscht.
Keine Religion –und sicher keine monotheistische
Religion-- kann wirklich demokratisch sein. Für sie gibt es nur eine
absolute Wahrheit und sie leugnet alle anderen. In der westlichen
Religion wird dies durch Arbeitsteilung zwischen Gott und Caesar
abgemildert und in modernen Zeiten durch die Reduzierung des
Christentums auf einen rein höflichen ?? Kult. …
Die amerikanischen Evangelikalen versuchen, die Uhr
zurück zu drehen.
In den semitischen (( (gibt es nicht???) Religionen
kann es keine Teilung zwischen Religion und Staat geben. Das
Judentum und der Islam gründen den Staat auf religiöses Gesetz (
Halakha bzw. Sharia)
Der säkularen Mehrheit in Israel ist es bis jetzt
gelungen, eine vernünftig funktionierende Demokratie aufrecht zu
erhalten (d.h. im eigentlichen Israel, gewiss nicht in den
besetzten palästinensischen Gebieten.) Zionismus war, wenigstens
teilweise, eine religiöse Reformation. Aber es gibt in Israel keine
Trennung zwischen Staat und Synagoge. Alle Gesetze, den persönlichen
Status betreffend, sind rein religiös, und auch viele andere
Gesetze. Elemente vom rechten Flügel werben für die Judaisierung
des Staates.
Im Islam gab es keine Reformation. Fromme Muslime und
ihre Parteien wollen, dass das Gesetz ( des Staates) sich auf der
Sharia gründet (tatsächlich bedeutet Sharia „Gesetz“) Das Beispiel
von Mursi mag zeigen, dass selbst ein moderater islamischer Führer
nicht dem Druck widerstehen kann, ein auf der Sharia gegründetes
Regime zu schaffen.
Die Revolutionäre scheinen demokratischer zu sein,
aber weniger effektiv. Die Demokratie verlangt die Bildung von
politischen Parteien, die durch Wahlen zur Macht kommen. Die jungen
säkularen Idealisten in Ägypten – und in fast allen anderen Ländern
- sind nicht in der Lage gewesen, dies zu tun. Sie warteten auf die
Armee, damit diese die Demokratie für sie errichten solle.
Dies ist natürlich ein Oxymoron, ein Widerspruch in
sich. Die Armee, jede Armee ist das genaue Gegenteil von
Demokratie. Eine Armee ist notwendigerweise eine autoritäre und
hierarchische Organisation. Ein Soldat vom Feldwebel bis zum
Oberkommandeur ist trainiert, zu gehorchen und zu befehlen. Kaum
eine gute Erziehungsstätte für demokratische Tugenden.
Eine Armee kann natürlich einer demokratischen
Regierung gehorchen. Aber eine Armee kann keine Regierung führen.
Fast alle militärischen Diktaturen sind weithin inkompetent
gewesen. Schließlich ist ein Militäroffizier ein Experte in einem
Beruf (Menschen zu töten – würde ein Zyniker sagen) . Er ist kein
Experte in irgendetwas anderem.
Im Gegensatz zu Syrien hat Ägypten ein starkes Gefühl
für Zusammenhalt und Einigkeit, eine Loyalität gegenüber einer
gemeinsamen Idee von Ägypten, die während Tausenden von Jahren
geschmiedet wurde. Bis letzte Woche, als die Armee das Feuer auf die
Islamisten eröffnete. Dies kann ein historischer Wendepunkt sein.
Ich hoffe nicht.
Ich hoffe, dass der Schock dieses Ereignisses alle
Ägypter zum gesunden Menschenverstand zurückkehren lässt, außer
natürlich den Verrückten auf allen Seiten. Das Beispiel von Syrien
und Libanon sollte sie vor dem Abgrund zurückschrecken lassen.
IN EINhundert Jahren – wenn die meisten von uns nicht
mehr sein werden – werden Historiker diese Ereignisse nur als
Geburtswehen einer neuen arabischen Welt betrachten wie die
Religionskriege im Europa des17. Jahrhunderts oder wie den
amerikanische Bürgerkrieg vor 150 Jahren.
Wie die Araber selbst sagen: Inshallah ! So Gott
will!
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser ….