Wer ist schuld?
Natürlich das Opfer
Uri Avnery, 20.5.06
DIEJENIGEN, DIE in
Israel Radionachrichten hörten, erfuhren Verblüffendes:
Muhammad Abu-Ter und Uri Avnery haben sich zusammen in
einem Privathaus in A-Ram verschanzt.
Allein die Tatsache,
dass die beiden - Nummer 2 der Hamas und der
berüchtigte israelische Linke – zusammen waren, war
schon erschreckend genug. Aber die angebliche Tatsache,
dass die zwei in das Haus einer unschuldigen
palästinensischen Familie eingebrochen seien und sich
dort wie Kriminelle verbarrikadiert hätten, um vor der
Polizei zu fliehen, war einfach umwerfend.
Diese Falschmeldung
würde vielleicht keine besondere Erwähnung verdienen,
wäre sie nicht typisch für die ganze Berichterstattung
der Medien – nicht nur über diese spezielle
Demonstration, sondern über alle gemeinsamen
Demonstrationen von israelischen Friedensaktivisten und
Palästinensern ( z.B. auch die in Bilin). Ja, es wirft
ein Licht auf die enge Verbindung zwischen den
israelischen Medien und dem Besatzungsregime. Ohne diese
Verbindung ist es zweifelhaft, ob sich die Besatzung bis
heute, also 39 Jahre lang, hätte halten können.
Deshalb ist es der Mühe
wert, diese Ereignisse im Einzelnen zu analysieren.
ZUNÄCHST DER
Hintergrund: A-Ram ( so wird der Name ausgesprochen,
geschrieben wird er al-Ram) war ein kleines
palästinensisches Dorf im Norden Jerusalems an der
Straße nach Ramallah. Seit der „Vereinigung“ von
Jerusalem 1967 wurde das Dorf viel größer. Der Grund:
während sich die palästinensische Bevölkerung etwa
alle 18 Jahre verdoppelt, ist es so gut wie unmöglich,
eine Baugenehmigung im arabischen Ost-Jerusalem zu
erhalten. Aus Mangel an einer Alternative haben viele
Ost-Jerusalemer für ihre größer werdende Familie in den
umliegenden Dörfern gebaut. A-Ram ist so tatsächlich zu
einer Stadt geworden, aber die meisten seiner 50 000
Einwohner haben einen Jerusalemer ( d.h. israelischen)
Personalausweis, und ihr Lebenszentrum liegt in und um
Jerusalem. Ihr Arbeitsplatz, die Gesundheitsdienste und
die Universitäten sind dort. Aber offiziell gehört die
Stadt zu den besetzten Gebieten.
Als entschieden wurde,
rund um die Stadt die Trennungsmauer zu bauen, plante
man, A-Ram von der Stadt abzutrennen. Es kam noch
schlimmer, die Route der Mauer verläuft genau in der
Mitte der Hauptstraße, so dass sie nicht Palästinenser
von Israelis trennt, sondern meistens Palästinenser von
Palästinensern.
Um eine klare
Vorstellung davon zu bekommen: es ist so, als würde in
New York eine Mauer mitten auf dem Broadway zwischen der
42. Straße und Harlem verlaufen. Oder in Paris mitten
auf den Champs-Elisées vom Place de la Concorde zum
Arc de Triomphe. Oder in Berlin mitten auf dem
Kurfürstendamm von der Gedächtniskirche bis zum
Messegelände. Die beiden Teile der Stadt mit ihren
Vororten würden von einer 9m hohen Mauer getrennt
werden.
Als diese Route noch in
der Planungsphase war, führten die Einwohner A-Rams
schon eine Reihe gewaltfreier Demonstrationen durch. Zu
all diesen waren israelische Friedensaktivisten
eingeladen, und sie kamen auch. Inzwischen ist diese
monströse Mauer Realität geworden. Sie trennt alle
Besitzer israelischer Identitätskarten von der Stadt
ab, in der ihre Geschäfte und Arbeitsplätze liegen. Die
Mauer trennt die Schüler von ihren Schulen, die nur 100
m weit entfernt auf der andern Seite der Mauer liegen -
ganz zu schweigen von den Studenten, die von ihren
Universitäten, den Kranken, die von ihren
Krankenhäusern, und sogar den Toten, die von den
Friedhöfen getrennt werden.
Jetzt ist die Mauer fast
fertig. Noch wird im Obersten Gerichtshof über sie
diskutiert, aber die Erfahrung lehrt, dass es ziemlich
hoffnungslos ist. Man kann die Stadt noch durch einen
Militärkontrollpunkt erreichen, aber selbst diese Lücke
ist dabei, geschlossen zu werden: die Mauer wird auch
diesen Ort abschließen. Vorläufig ist an manchen Stellen
statt einer Betonmauer noch ein hoher Zaun - doch nur
bis das Verfahren vor Gericht abgeschlossen ist.
Um dagegen zu
protestieren, wurde eine große
palästinensisch-israelische Demonstration geplant. Es
sollte ein Marsch auf der Hauptstraße entlang der
Mauer - natürlich auf palästinensischer Seite -
sein, vom Stadtzentrum zur improvisierten Bühne, auf
der ein paar Reden gehalten werden sollten.
Die Details waren in
drei Vorbereitungssitzungen ausgearbeitet worden. Um den
gewaltfreien Charakter dieses Geschehens zu
unterstreichen, entschied man, dass die Schulkinder,
deren Schulen abgeschnitten waren, in ihren
Schuluniformen an der Spitze des Demonstrationszuges
gehen sollten - mit dem Schulranzen auf dem Rücken und
begleitet von ihren Lehrern. Es wurde auch eine
alternative Route für sie geplant, im Falle, dass
Gefahr bestünde, mit der Armee zusammenzustoßen.
ALS WIR – etwa 300
israelische Aktivisten von verschiedenen Friedensgruppen
– uns A-Ram näherten, wurden wir informiert, dass
starke Militärkräfte warteten, um den Durchgang am
Checkpoint zu blockieren. Wir umgingen sie und
erreichten die Mauer von der israelischen Seite. An
dieser Stelle steht statt einer Mauer ein hoher Zaun.
Wir durchbrachen ihn, und vielen Demonstranten gelang
es, auf die palästinensische Seite nach A-Ram zu
kommen, bevor es der Armee, die von dieser Maßnahme
überrascht war, gelang, mit Verstärkungen
herbeizueilen.
Mittlerweile war die
palästinensische Demo, genau wie geplant, schon auf
ihrem Weg:
An der Spitze eine
Gruppe trommelnder Pfadfinder mit ihren Fahnen, hinter
ihnen die kleinen Kinder der ersten Klasse, danach die
andern Schulkinder, von den jüngsten bis zu den älteren.
Danach die Hauptdemo mit Postern und Flaggen, angeführt
von den Führern aller palästinensischen Parteien. Die
israelischen Aktivisten mischten sich zwischen die
Palästinenser, um Solidarität zu demonstrieren. Und ich
wurde eingeladen, mich in die erste Reihe mit
einzugliedern.
Auf diese Weise fand ich
mich zwischen Abu-Ter, dem Hamasführer, der in Israel
zumindest wegen seines leuchtend rot gefärbten Bartes
berühmt wurde, und dem palästinensischen Minister für
Jerusalem-Angelegenheiten Abu Arafeh, auch einem Hamas-
Mitglied. Neben ihnen gingen die Führer der Fatah, der
Volksfront, der demokratischen Front und der ( früher
kommunistischen) Volkspartei. Wir gingen Arm in Arm, und
es schien, als würde die Demonstration friedlich
verlaufen. Auf einmal sahen wir, dass die Straße vor
uns von einem großen Kontingent Soldaten und Polizisten
blockiert war, die nur auf uns warteten: mehrere Reihen
Soldaten - von Kopf bis Fuß schwer bewaffnet -
Polizisten auf Pferden und hinter ihnen
Armeegeländewagen.
Das erste war, die
Kinder wegzubringen. Ihre Lehrer führten sie in eine
Seitenstraße. Wir marschierten langsam weiter auf die
Tribüne zu . Es kann kaum etwas weniger bedrohlich
ausgesehen haben, als die Reihe angesehener Leute, die
da Arm in Arm gingen.
WAS DANN geschah, kann
ich als Zeuge bestätigen, und ich bin sogar bereit,
dafür durch einen Lügendetektor zu gehen.
Als wir auf A-Rams
Hauptstraße etwa 50 Meter von den Soldaten und Pferden
entfernt waren, kam über Megaphon eine Stimme, die
verkündete, dass das Gebiet eine „geschlossene
militärische Zone“ und dass unsere Demonstration illegal
sei. Während wir den Soldaten gegenüber standen,
regnete plötzlich eine große Salve Tränengasgranaten auf
uns. Es war keine Provokation vorausgegangen.
Tränengaswolken
breiteten sich zwischen, vor und hinter uns aus. Salven
von Lärmgranaten machten einen Mordskrach. Wir flohen
in die nächsten Häuser. Ich betrat das allernächste Haus
und fand mich in Gesellschaft von Abu Ter wieder, der
mich sehr freundlich empfing. Unsere Augen brannten und
waren voller Tränen, viel reden konnten wir auch nicht.
Aber wir entschieden uns, bald ein inhaltsreicheres
Gespräch zu führen.
Als das Gas sich
verteilt hatte, tauchten wir wieder auf und setzten die
Demo fort. Die Aktivisten formierten sich immer wieder
auf der Straße, die Polizisten und Soldaten griffen uns
immer wieder mit Tränengas und Lärmgranaten an,
stürmten in Wellen vor – bewaffnete und gut geschützte
Soldaten, Geländewagen und berittene Polizisten, die
Sporen trugen, (obwohl das nach israelischem
Tierschutzgesetz verboten ist.)
Erst in diesem Stadium –
und das ist hier die Hauptsache - fingen ein paar
Kinder und Jugendliche an, gegen die Polizisten Steine
zu werfen - Steine, die keinen Schaden anrichteten, weil
sie die Polizisten gar nicht erreichten. Die
Gasgranatenwerfer haben eine viel größere Schussweite.
Die Demo-Organisatoren taten ihr Bestes, sie
zurückzuhalten; aber der Zorn der Jugendlichen gegen die
Soldaten, die in ihre Stadt eingefallen waren, war zu
groß. Nach zwei Stunden und einem Gespräch mit einem
ranghohen Offizier wurde der Kontakt abgebrochen, und
die israelischen Aktivisten kehrten heim.
Im Laufe des Geschehens
wurden 12 Leute verhaftet – sieben Palästinenser und
fünf Israelis. Die Israelis wurden nach wenigen Stunden
wieder entlassen, die Palästinenser blieben in Haft, und
unsere Anwälte befassen sich mit ihnen.
DAS WAR es, was geschah.
Das andere war eine Geschichte der Medien.
Über die Demonstration
wurde vor allem aus zwei Gründen ausführlich berichtet:
wegen der angewandten Gewalt und des Treffens zwischen
mir und Abu-Ter, das einen pikanten Aspekt lieferte, da
es bis jetzt noch keinen Dialog zwischen Hamasleuten
und Israelis gab. Die Nachrichten aller drei TV-Kanäle
berichteten ausführlich über dieses Ereignis. Das ist
an sich ungewöhnlich – im allgemeinen ignorieren die
meisten TV-Stationen unsere Demonstrationen oder widmen
ihnen höchstens wenige Sekunden, (abgesehen von ein
paar Berichten von tapferen Reportern.)
Auch diesmal hatte kein
israelisches Medium – weder TV, Radio noch die
Printmedien - sich die Mühe gemacht, Reporter oder
Photographen zu dem Ereignis zu schicken. Es gab also
keinen israelischen Augenzeugenbericht vom Geschehen vor
Ort. Die TV-Stationen zeigten Mitschnitte von
ausländischen Sendern. Die Reporter berichteten nur, was
sie von der Polizei und von uns hörten.
Und siehe da, die
Medien berichteten alle dasselbe: die Demonstranten
hatten durch das Steine-werfen mit der Gewalt begonnen,
zwei Polizisten „seien verwundet und an Ort und Stelle
behandelt worden“ ( Diese Lüge wiederholt sich bei allen
unsern Demonstrationen. Es könnte der Verdacht
aufkommen, es gebe zwei Polizisten, deren einzige
Pflicht es ist, bei jeder unserer Demonstrationen
„verwundet und an Ort und Stelle behandelt zu werden“).
Die Statements der
Polizei und der Armee sind glatte Lügen. Sie wussten im
voraus, dass unsere Demo gewaltfrei sein würde. Ich
wette, dass sie ihre eigenen Agenten bei all unsern
Treffen haben; wir sprechen offen am Telefon oder in
unseren E-mails über unsere Vorbereitungen . Zwei
Inserate wurden vor den Veranstaltungen in Haaretz
veröffentlicht. Es ist absolut klar, dass die Armee und
Polizei im voraus geplant hat, die Demonstration mit
Gewalt zu unterdrücken. Sonst hätten sie nicht Pferde
und Geländewagen mitgebracht.
Seit vielen Jahren sind
wir Zeugen der Verlogenheit von offiziellen Sprechern;
und ich habe keine Zweifel daran, dass die Reporter, die
über die besetzten Gebiete berichten, sich dessen
bewusst sind. In manchen Medien wurde der Satz
hinzugefügt, dass „die Demonstranten behaupten, die
Polizei habe mit der Gewalt begonnen“ , aber in allen
Medien wurde betont, dass die Gewalt von uns aus
gegangen sei, darum habe die Polizei keine andere
Alternative als auf sie zu reagieren.
Das ist israelische
Tradition, die leider von den internationalen Medien
übernommen worden ist: die israelischen
Sicherheitskräfte „reagieren“ immer nur auf die Gewalt
der anderen Seite. Es ist nur seltsam, dass die
Getöteten und Verwundeten sich meistens auf der andern
Seite befinden.
Das kleine Beispiel von
A-Ram macht deutlich, was in großem Umfang im ganzen
Land geschieht: was die Armee und Polizei betrifft, sind
alle Medien – ohne Ausnahme – von Maariv bis Haaretz,
von Kanal 1 – Kanal 10 nicht von Regierungspropaganda
zu unterscheiden. ( mit rühmlichen Ausnahmen von
Kommentaren und einzelnen Artikeln)
Die Chancen der Opfer,
einen fairen Bericht über das, was ihnen widerfahren
ist, zu erhalten, ist gleich Null. Schließlich sind die
Opfer immer selber schuld.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser
autorisiert)
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