Leben (
wie ) in einer Seifenblase
Uri Avnery, 1.5.04
Vor einigen Tagen feierte Israel nach dem hebräischen Kalender (dem
Mondkalender) seinen 56. Geburtstag.
Es
war eine Gelegenheit, einen Tag lang aus der Realität zu flüchten, zu
einem Zeitpunkt, als das ganze Land nach den Attentaten an Scheich Ahmed
Yassin und Dr. Abd-al Aziz al-Rantisi auf einen Racheakt wartete. Es war
ein Tag der Nostalgie nach dem Israel der frühen Jahre der Unschuld und
der Jugend. Es gab Reden, Vorführungen, Feuerwerk. Die ernste Stimme von
Amikam Gurewitz sprach - nach jahrzehnte alter Tradition - das
Gedenkgebet für die gefallenen Soldaten all unserer Kriege. Die
trauernden Eltern durchlebten ihren Schmerz noch einmal. Gruppen von
Soldaten und Soldatinnen tauschten Flaggen aus. Jungen und Mädchen tanzten
die alten und halb vergessenen Volkstänze. Die Medien waren voll mit den
Heldentaten unserer Soldaten, die einem grausamen Feind gegenüber stehen,
auch voll von Geschichten der Opfer der Pioniere und vom selbstlosen
Idealismus der Gründer. Es wurden viele Reden über Demokratie und über
Hoffnung auf Frieden gehalten.
Kein Wort über die Palästinenser, und – Gott behüte! - kein Wort über
die Tatsache, dass die glorreiche israelische Verteidigungsarmee sich
in eine blutbefleckte koloniale Polizeimacht verwandelt hat. Keine
Erwähnung, dass die gefeierte Luftwaffe, die die Luftwaffen von drei
arabischen Staaten 1967 in wenigen Stunden zerstört hatte, nun zu einer
Spezialistin für außergerichtliche Exekutionen geworden ist, die oft nicht
nur die gewünschten palästinensischen Militanten tötet, sondern oft auch
ihre Frauen und Kinder sowie die zufällig in der Nähe Stehenden.
Israel schaut in einen Zauberspiegel und sieht darin einen wunderbaren
Staat, der aus der glühenden Asche des Holocaust erstanden ist und der
ein unterdrücktes und verfolgtes Volk zu einer stolzen und starken
Nation mit hervorragenden Leistungen auf allen Gebieten umgestaltet hat.
Einfach großartig!
In
ein paar Tagen werden die Palästinenser - nach dem allgemeinen, dem
Sonnen- Kalender - der Katastrophe gedenken, die sie vor 56 Jahren
heimgesucht hat.
Es
wird ein Tag des Trauerns, der Sehnsucht und des Zornes sein über all das,
was geschehen ist und noch geschieht. Es wird dann Demonstrationen, Reden
und Schüsse in die Luft geben. Jeder wird sich an die Nakbah, die
Katastrophe, erinnern, als die Hälfte des palästinensischen Volkes durch
einen grausamen Feind aus seinen Häusern und von seinen Feldern vertrieben
wurde. Viele von ihnen schmachten noch heute in elenden Flüchtlingslagern,
wo sie dank internationaler Institutionen, die sie mit Nahrungsmitteln
und Schulen versorgen, überleben.
Die Flüchtlinge werden sich sehnsüchtig an die 450 Dörfer erinnern, die
vom Feind erobert und dem Erdboden gleich gemacht wurden. Jedes dieser
Dörfer lebt in der Erinnerung als kleines Paradies, umgeben von üppigen
Feldern und Plantagen. Sie sehnen sich nach den Straßen Haifas und Jaffas,
Ramlehs und Beer Shebas, nach den Vororten Jerusalems, Katamon und Talbieh
- alle als der Inbegriff von Schönheit und Vollkommenheit.
Die Palästinenser werden in ihren Zauberspiegel der Vergangenheit schauen,
und sie werden ein Volk sehen, das idyllisch auf seinem Land lebte bis zur
Ankunft von grausamen Ausländern, die sie zu einem Leben der Demütigung
und des Elends, der Unterdrückung und des Exils verurteilten , ohne dass
Erlösung in Sicht ist.
Diese beiden Ereignisse mögen so aussehen, als hätten sie auf zwei
verschiedenen Planeten stattgefunden, sagen wir mal, auf dem Mars und
Saturn. Aber beide ereigneten sich auf unserem kleinen Planeten, in
einem kleinen Land. Und die beiden Ereignisse sind in der Tat ein und
dasselbe.
Es
ist natürlich, dass zwei mit einander im Krieg befindliche Völker das
Geschehen auf verschiedene, ja, in sich widersprechender Weise sehen.
Aber Krieg ist ein außergewöhnlicher Zustand, der gewöhnlich nur ein paar
Jahre dauert. Vor und nach dem Krieg herrscht Frieden – und im Zustand des
Friedens mit einem normalen Leben und neuen Kontakten verblassen die
bitteren Erinnerungen, und die Unterschiede zwischen den verschiedenen
Wahrnehmungen werden kleiner.
Im
2. Weltkrieg eroberten die Deutschen Frankreich und errichteten ein
grausames Besatzungsregime. Erinnern wir uns nur an das massenweise
Erschießen der Geiseln. Aber in weniger als zehn Jahren schufen
Franzosen die Vision eines vereinigten Europa, das sich auf einer
französisch- deutschen Allianz gründet. Seitdem sind die Grenzen so gut
wie verschwunden, eine gemeinsame Währung wurde geschaffen, und
Freundschaften entwickelten sich. Es gibt kaum mehr einen
Meinungsunterschied über das, was sich zwischen den beiden Völkern in der
Vergangenheit ereignete.
Während desselben Krieges mordeten die Deutschen ein Drittel des jüdischen
Volkes durch Sklavenarbeit, Verhungern, Massenexekutionen und in den
Gaskammern. Dies ist ein Verbrechen ohne Parallele in der modernen
Geschichte, was seine Merkmale und Methoden betreffen. Aber schon nach
weniger als zehn Jahren, nachdem die Krematorien von Auschwitz
erkalteten, wurde zwischen Deutschland und Israel, das sich als „der Staat
der Überlebenden“ bezeichnet, ein Abkommen unterzeichnet. Nun wetteifern
Deutschland und Israel mit einander in den Bemühungen, den Holocaust in
Erinnerung zu behalten.
Nichts davon geschieht zwischen
den beiden Völkern in diesem Land. Der Krieg zwischen ihnen ist kein
außergewöhnlicher Zustand, sondern wurde zur Normalität. All die durch die
Kriege produzierten Gifte wie Furcht, Hass und Vorurteile wirken weiter
im Gemüt und Verstand der neuen Generation, der fünften, die in diesen
Krieg hineingeboren worden ist, eine Generation, deren ganze
physisch-psychische Welt vom Krieg gestaltet wird.
Darum lebt jedes der beiden Völker wie in einer abgeschlossenen
Seifenblase, abgekapselt vom anderen und tatsächlich auch von der ganzen
übrigen Welt. Innerhalb seiner Seifenblase kultiviert jedes Volk seine
Schmerzen, die Überzeugung, das größte Opfer zu sein, die Erinnerung an
die ihnen zugefügten Ungerechtigkeiten, den Zorn über das andere grausame,
mörderische und abscheuliche Volk. Jedes Volk glaubt, dass absolute
Gerechtigkeit auf seiner Seite sei - und darum auch an die absolute
Ungerechtigkeit der anderen Seite.
Diese Seifenblase ist ein Gefängnis, abgeschlossen und abgesichert, mehr
als durch Mauern und Stacheldraht - Israelis und Palästinenser sind
Geiseln ihrer eigenen geistigen Welt. Sie sind nicht in der Lage, einander
wahrzunehmen und die Welt so zu sehen, wie sie ist. Sie sehen nur das
Spiegelbild im magischen Spiegel, der nur das zeigt, was sie sehen wollen.
Für beide ist die Seifenblase eine Lebensnotwendigkeit; es ist eine
Selbstschutzmaßnahme, die sie mit dem Gefühl von Sicherheit, der
Gewissheit der Rechtmäßigkeit ihrer Sache und einem Orientierungs- sinn
ausstattet. Die Welt außerhalb der Seifenblase ist kalt und feindlich
gesinnt, drinnen ist Wärme und ein Gefühl der Zusammengehörigkeit. Jeder,
der versucht, die Seifenblase aufzubrechen, wird einer Welle von Hass und
Zorn gegen sich selbst ausgesetzt sein – die sogar tödlich sein könnte.
Das gilt nicht nur für das Geschehen jetzt. Es betrifft alles, was sich
zwischen den beiden Völkern in den letzten 120 Jahren - seit Beginn des
zionistischen Unternehmens in diesem Lande - zugetragen hat. Jedes
Geschehen – ob groß oder klein – erscheint ohne Ausnahme im kollektiven
Gedächtnis beider Völker auf verschiedene, ja, gegensätzliche Art. Die
Folge davon ist, dass alles, was jetzt gesagt wird, alles was von einer
Seite vorgeschlagen wird, in den Ohren der andern verdächtig und
bedrohlich klingt. Deshalb wird jede Verhandlung zur Schlacht, und jedes
Gipfeltreffen verstärkt nur den gegenseitigen Hass.
Auf diese Weise ist ein Teufelskreis entstanden: ohne Entfernen der
Seifenblasen kann es keinen Frieden geben – ohne Frieden ist es unmöglich,
die Seifenblasen aufzulösen.
Noch eine persönliche Bemerkung: Ich bin vor vielen Jahren zu der
Überzeugung gekommen, dass dieser Teufelskreis nicht nur durchbrochen
werden muss – sondern auch durchbrochen werden kann.. Seitdem versuche
ich, ein gemeinsames israelisch-palästinensisches Narrativ aufzubauen, das
das Narrativ beider Völker in sich birgt, nicht, indem ein künstlicher
Kompromiss geschaffen wird, sondern in dem ich nach der Wahrheit suche.
Ich habe darüber schon Bücher und Aufsätze geschrieben. In dieser Woche
hat Gush Shalom eine Broschüre herausgegeben mit dem Titel „Wahrheit gegen
Wahrheit“. Wir versuchen darin, ein gemeinsames Narrativ des Konfliktes
zu skizzieren und berücksichtigten die Standpunkte beider Seiten.
Mir ist klar geworden, dass ohne ernsthafte Anstrengung von beiden Seiten,
sich auch des Standpunktes der anderen Seite voll bewusst zu werden und
ihn zu verstehen, jede Bemühung, einen wirklichen Frieden zwischen
beiden Völkern zu erreichen, fehlschlagen wird.
(Aus dem Englischen:
Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Alle deutschen Texte von
Avnery Uri |