Wer braucht
ein Kamel?
Uri Avnery,
31.12.05
Ein Säufer
verliert das Bewusstsein. Seine Freunde
gießen kaltes Wasser über ihn. Der Betrunkene öffnet ein Auge,
schleckt das Wasser und sagt: „Ich weiß nicht, was es ist, aber so
etwas wird keiner kaufen!“
Daran wurde ich
erinnert, als ich den Entwurf des politischen Programms der
Labor-Partei las, das von einem Komitee von Experten eben
vorgestellt wurde.
Es ist gesagt
worden, dass ein Kamel ein Pferd sei, das von einem Komitee geplant
wurde. Vergessen wir einen Augenblick lang die Beleidigung des
Tieres mit dem Höcker; (auf arabisch sind die Wörter für Kamel und
Schönheit sprachlich verwandt), dann können wir sagen, dass Komitees
von Natur aus keine kreativen Körperschaften sind. Da muss man weder
an Gott glauben noch an ein „intelligentes Wesen“, um zu wissen,
dass kein Komitee in der Lage ist, ein edles arabisches Pferd zu
planen.
Das politische
Programm, um dessen Annahme Amir Perez gebeten wurde, ist ein Pferd
und noch nicht einmal ein Kamel.
Das Komitee, das
das Pferd planen sollte, ist aus mehreren wohl bekannten
Persönlichkeiten zusammengesetzt: Dave Kimchi, ein ranghoher
Mossad-Veteran; Uzi Baram, ein früheres Knessetmitglied des
Laborflügels der Tauben; Yuli Tamir, die vor langer Zeit ein
Mitglied von Peace Now war; Avi Primor und Alon Pinkas, früher im
auswärtigen Dienst tätig ((Avi Primor war Botschafter Israels in
der BRD)). Dalia Rabin gehört auch dazu – vielleicht vermutet man,
dass die Tochter von Yitzhak Rabin ein Fachmann bzw. eine Fachfrau
sein muss.
Derjenige, der
ein Komitee zusammenstellt, weiß zu welchem Schluss es kommen soll.
Dieses Komitee wird aus moderaten Tauben zusammengesetzt – im
heutigen politischen Jargon würde man „mitte links“ sagen. Nicht zu
radikal, Gott bewahre! Und so ist sein politisches Programm.
Das Komitee
versichert, dass ein palästinensischer Staat gegründet werden muss –
das ist gut. Es ist gegen weitere Interims-Abkommen und auch gegen
die Idee eines „provisorischen palästinensischen Staates“ – zwei
sehr geschätzte Ideen von Sharon und die auch in der albernen „Road
Map“ eingeschlossen sind – und das ist auch gut.
Es verlangt auch
einen Terminplan für den Abschluss der Verhandlungen. Doch dann
kommt der schockierende Satz: „Nur wenn die Verhandlungen
misslingen, werden einseitige Schritte in Erwägung gezogen – als
Mittel einer letzten Zuflucht.
Was bedeuten
diese Worte? Sie verwandeln den ganzen Paragraphen in ein
Ultimatum. Entweder ihr nehmt unser Angebot an oder wir werden es
einseitig realisieren. Natürlich nur als letzten Ausweg. Aber wir
werden entscheiden, wann es Zeit für den letzten Ausweg sein wird.
In einfachen Worten: das Programm wirft Sharons „einseitige
Schritte“ zur vorderen Tür hinaus und lässt es durch die Hintertür
wieder herein.
Früher glaubten
die Christen an einen Teufel, dessen einer Fuß ein Pferdefuss war.
Gewöhnlich gelingt es dem Teufel ihn zu verbergen, doch von Zeit zu
Zeit, schaute er unter seinem weiten Umhang hervor. Der „letzte
Ausweg“ ist solch ein Pferdefuß.
Dazu kommt, dass
das Komitee erklärt, dass die Verhandlungen mit der „gewählten
palästinensischen Führung“ geführt werden wird. Ganz schön und gut.
Aber das Komitee ist damit nicht zufrieden. Es befiehlt bei dieser
Gelegenheit den Palästinensern, wen sie wählen müssen und fügen
hinzu „Verhandlungen mit Hamas werden zurückgewiesen“. Und was dann,
wenn die Palästinenser darauf bestehen, Hamas zu wählen ?
Und Hamas die
palästinensische Führung darstellen wird? Wird es in diesem Fall
keine Verhandlungen geben - werden wir uns dann gleich
„einseitigen Schritten“ zuwenden a la Sharon?
Dies ist ein
törichter Versuch. Die Rückweisung von Hamas gründet sich auf der
Verweigerung der Organisation, die Existenz Israels anzuerkennen
und seinem Aufruf zu seiner Zerstörung. Aber wenn sie bereit ist, in
Verhandlungen mit der gewählten Regierung von Israel einzutreten, um
einen dauerhaften Frieden zu erreichen, erkennt sie sie praktisch
schon an. Außerdem leitet sich der Status der Palästinensischen
Behörde vom Oslo-Abkommen ab, das sich auf der offiziellen
gegenseitigen Anerkennung zwischen der Regierung Israels und der
Palästinensischen Befreiungsorganisation gründet. Wenn Hamas an den
palästinensischen Wahlen teilnimmt, stellt allein dies tatsächlich
schon die Anerkennung Israels dar.
All dies
erinnert an vergangene Zeiten, als die Laborregierung alle
Verhandlungen mit der PLO zurückwies und genau dieselben Argumente
anwandte. Haben sie denn nichts gelernt und nichts vergessen?
Ein weiterer
Punkt: Jerusalem. Genau wie Sharon und
Netanyahu, stellt das Programm fest, dass „Jerusalem die vereinigte
Hauptstadt des Staates Israel“ sei.
Das Komitee
stimmt zwar darin überein, den Stadtplan neu zu überprüfen und
einige Dörfer und Stadtteile, die die Stadt umgeben, auszuschließen
- das sind wahrscheinlich Dörfer wie Abu Dis und El-Azarieh, die bis
zu ihrer Annexion nach dem 6-Tage-Krieg niemals zu Jerusalem
gehörten. Schön und gut. Aber das Programm unterstützt
stillschweigend die Annexion aller arabischen Stadtteile wie die
Altstadt, den Tempelberg, Abu Tur, Sheik Jerakh und noch mehr. Im
ganzen gibt es den Palästinensern bei weitem weniger als die
Clinton-Formel. („Was jüdisch ist gehört den Israelis, was
arabisch den Palästinensern“)
Es wird eine
Geschichte erzählt, Napoleon sei bei einem seiner Feldzüge in eine
deutsche Stadt eingezogen und nicht mit den üblichen 101
Salutschüssen begrüßt worden. Als der Bürgermeister der Stadt
gerufen wurde, um die Beleidigung zu erklären, hatte er eine lange
Liste verfasst und begann vorzulesen: „Erstens: wir haben keine
Kanonen.“ Napoleon unterbrach ihn: „das genügt – es ist nicht nötig,
weiterzulesen.“
Dies kann auch
hier gesagt werden bei einem Programm, das die Annexion von
Jerusalem einschließt. Weitere Paragraphen sind dann nicht nötig.
Kein Palästinenser oder Muslim würde damit einverstanden sein –
weder die Fatah noch die Hamas, weder heute noch in hundert Jahren.
Man kann sich gleich dem „letzten Ausweg“ zu wenden.
Wenn wir
Jerusalem verlassen, können wir uns
direkt nach Hongkong begeben. Dort auf der chinesischen Insel fand
das Komitee eine wahrlich originelle Erleuchtung.
Vor etwa 107
Jahren, auf dem Höhepunkt des britischen Imperialismus, als China
darniederlag, wollte der Führer des Empire Hongkong, eine
chinesische Insel von großer strategischer Bedeutung, in Besitz
nehmen. Aus irgend einem Grund wollte er sie nicht direkt
annektieren, er machte es lieber mit einem Trick. China wurde
gezwungen, die Insel für 99 Jahre zu „verpachten“, und so wurde es
eine britische Kronkolonie.
Nun schlägt das
Labor-Programm einen ähnlichen Trick vor: die palästinensische
Behörde soll die „Siedlungsblöcke“ für 99 Jahre an Israel
verpachten. Und Israel soll die Pacht in Geld oder Gebiet ( auch für
99Jahre?) bezahlen. Und was wird Israel in den gepachteten Gebieten
tun? Sie mit Siedlungen bis auf den letzten Zentimeter zubauen. Was
wird es dann nach 99 Jahren zurückgeben?
Man kann sich
kaum einen Palästinenser vorstellen, der zwischen dieser Idee und
der von Sharon vorgeschlagenen Annexion unterscheiden kann. Oder
einen Palästinenser, der sich darüber viele Gedanken macht, was in
99 Jahren sein wird.
Wozu sind
alle diese Tricks gut?
Ich bin nicht
naiv, und ich kenne den Zweck solcher Wahlbühnen. Sie sind dazu da,
um Stimmen anzuziehen - am nächsten Tag sind sie wieder vergessen.
Aber diese besonderen Tricks sind nicht einmal für diesen Zweck
gut.
Das Komitee
dachte offenbar, dass Peretz’ wirkliches Programm die Wähler
abschrecken könnte. Deshalb schlägt es eine zusammengestrichene,
gereinigte Version vor, in der Hoffnung, die Leute im mythischen
Zentrum anzusprechen, die jetzt auf Sharon starren. Es ist auch
klar, dass die, die das Programm formuliert haben, ein Programm
zusammenbasteln wollten, das die Laborpartei notfalls in die Lage
versetzt, eine Koalition einzugehen, die von Sharon angeführt
wird. Aber das ist ein Kalkulationsfehler.
Diese Wahlen
stellen keine Auswahl zwischen Programmen dar, sondern eine Wahl
zwischen drei Personen: Sharon, Netanyahu und Peretz. Keiner
kümmert sich darum, wer der Kandidat Nr. 9 oder 13 auf der Labor-,
Likud -oder Kadima-Liste ist. Sie wollen einen Führer wählen, der
für sie wie ein Mann aussieht, der den Staat führen kann. In dieser
Hinsicht überragt Sharon im Augenblick alle.
Die
Labor-Wahlkampagne muss die Öffentlichkeit überzeugen, dass Amir
Peretz ein Führer ist, der konsequent und selbstsicher ist und der
vor allem anderen sich nicht fürchtet; es muss ein Ministerpräsident
sein, der nicht klein beigibt, der genau weiß, was er will, der
klare Lösungen für alle Probleme hat. Ein Programm, das
oberflächlich, kraftlos und zusammengeflickt ist, wird keinen
überzeugen, dass Peretz der richtige Mann ist.
Ein Kamel wird
jetzt nicht gebraucht. Das Volk wünscht sich einen Reiter auf einem
echten Pferderücken.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs,
vom Verfasser autorisiert)
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