Nichts Neues unter der
Sonne
Uri
Avnery, 25.Januar 2014
WÄHREND DER
letzen hundert Jahre hat Russland große Veränderungen
durchgemacht.
Anfangs wurde
es vom Zar regiert, eine absolute Monarchie mit einigen
demokratischen Dekorationen, eine „Tyrannei durch
Unfähigkeit gemildert“.
Nach dem
Sturz des Zaren herrschte ein paar Monate lang ein
liberales und gleichfalls unfähiges Regime, bis es von der
bolschewistischen Revolution zu Fall gebracht wurde.
Die „Diktatur
des Proletariats“ dauerte etwa 74 Jahre, das bedeutet,
dass drei Generationen das sowjetische Bildungssystem
durchliefen. Das sollte lange genug gewesen sein, um Werte
wie Internationalismus, Sozialismus und Menschenwürde im
Sinne von Karl Marx zu absorbieren.
Das
Sowjetsystem brach in sich zusammen und ließ nur wenige
Spuren zurück. Nach ein paar Jahren liberaler Anarchie unter
Boris Yeltsin, übernahm Vladimir Putin die Herrschaft. Er
hat bewiesen, ein fähiger Staatsmann zu sein, und hat
Russland wieder in eine Weltmacht verwandelt. Er hat aber
ein neues autokratisches System eingerichtet, die Demokratie
und die Menschenrechte reduziert.
Wenn wir
diese Ereignisse betrachten, die ein Jahrhundert umspannen,
müssen wir daraus schließen, dass nach all diesen
dramatischen Umwälzungen Russland mehr oder weniger dort
ist, wo es anfing. Der Unterschied zwischen dem Reich des
Zaren Nikolaus und Präsident Putin ist minimal. Die
nationalen Bestrebungen, die allgemeine Weltanschauung, das
Regime und der Status der Menschenrechte sind mehr oder
weniger dieselben.
Was lehrt uns
das? Es bedeutet für mich, dass es so etwas wie einen
nationalen Charakter gibt, der sich nicht so leicht
verändert, wenn überhaupt. Revolutionen, Kriege,
Katastrophen kommen und gehen und der eigentliche Charakter
eines Volkes bleibt, wie er war.
NEHMEN WIR
ein anderes Beispiel, das uns geographisch näher liegt: die
Türkei.
Mustafa Kemal
war eine faszinierende Person. Leute, die ihn trafen, als er
ein Offizier in der osmanischen Armee war – er diente in
Palästina – beschrieben ihn als einen interessanten
Charakter und einen schweren Trinker. Er wurde in Saloniki
in Griechenland geboren, einer Stadt, die zu jener Zeit vor
allem jüdisch war, und nahm an der Revolution der
Jungtürkischen Bewegung teil, die zum Ziele hatte, das
Osmanische Reich zu erneuern, das zum „kranken Mann am
Bosporus“ geworden war.
Nach der
türkischen Niederlage im 1. Weltkrieg machte sich Mustafa
Kemal daran, eine neue Türkei zu schaffen. Seine Reformen
waren umfassend. U.a. schafften sie das Osmanische Reich
und das alte muslimische Kalifat ab, änderten die Schrift
der türkischen Sprache vom Arabischen ins Lateinische, nahm
die Religion aus der Politik, verwandelte die Armee in
einen „Wächter der (säkularen) Republik“, verbat Männern und
Frauen, die traditionelle Kleidung zu tragen, wie den Fez
und den Hijab. Sein Plan war, die Türkei in ein modernes
europäisches Land zu verwandeln.
Sein Volk
ehrte ihn und gab ihm den Namen Atatürk (Vater der Türken)
und verehrt ihn bis zum heutigen Tage. Sein Bild hängt in
allen Büros der Regierung. Doch jetzt sind wir Zeugen, wie
die meisten seiner Reformen abgeschafft werden.
Die Türkei
wird heute von einer religiösen islamischen Partei
beherrscht, die vom Volk gewählt wurde. Der Islam kehrt
zurück. Nachdem die Armee mehrere Staatsstreiche gemacht
hat, wurde sie aus der Politik hinaus gestoßen. Dem
jetzigen Führer wird neo-osmanische Politik vorgeworfen.
Dies
bedeutet, dass die Türkei dahin zurückkehrt, wo sie vor
hundert Jahren war.
SO KANN man
Beispiele aus aller Welt zitieren.
Vor etwa 220
Jahren, nach der Mutter aller moderner Revolutionen, der der
großen Französischen Revolution, werden die leichtfertigen
Abenteuer des gegenwärtigen französischen Präsidenten mit
denen der bourbonischen Könige verglichen. Nicht viel ist
aus der Zeit des strengen Charles de Gaulle geblieben, weder
moralisch noch politisch.
Italien hat
noch immer keine politische Stabilität nach dem Intermezzo
des clownesken Silvio Berlusconi . Ein sehr reduziertes
Großbritannien denkt und benimmt sich so wie das Empire in
seiner Blütezeit. Und kämpft darum, von Europa wegzukommen.
Und so
weiter.
ICH MAG gern
(noch einmal) Elias Canetti, den Nobelpreis Schriftsteller
zitieren. Bulgarien, England und die Schweiz beanspruchen
ihn, und natürlich die Juden.
In einem
seiner Werke behauptet er, dass jede Nation ihren eigenen
Charakter hat, wie ein menschliches Wesen. Er unternahm
sogar , den Charakter größerer Nationen mit Symbolen zu
beschreiben: Die Briten sind wie ein Seekapitän, die
Deutschen wie ein Wald hoher gerader Eichen, die Juden sind
durch den Exodus aus Ägypten und das Wandern durch die Wüste
geformt worden . Er sah, dass diese Charakteristiken
konstant bleiben.
Professionelle Historiker mögen über solch einen
Dilettantismus lachen. Doch ich glaube, dass die Injektion
von etwas literarischem Innenblick in die Geschichte gut
ist. Es vertieft das Verständnis.
ALL DIES
führt mich zu der jüdisch-israelischen Metamorphose.
Israel wurde
buchstäblich von der zionistischen Bewegung geschaffen. Dies
war eine der revolutionärsten Revolutionen, wenn nicht die
weitreichendste von allen. Sie strebten nicht nach einem
Wechsel des Regimes wie Mandela in Südafrika. Noch zu einem
tiefen Wandel der Gesellschaft wie die kommunistische
Bewegung; noch zu einem kulturellen Wandel wie der des
Atatürk. Zionismus wollte all dies erreichen und noch viel
mehr.
Er wollte
eine zerstreute religiös-ethnische Gemeinschaft, die in
alten Zeiten geboren wurde, in eine moderne Nation
verwandeln. Er wollte Massen von Individuen aus ihren
Heimatländern und natürlichen Lebensräumen holen und sie
physisch in ein anderes Land und ein anderes Klima holen. Er
wollte den sozialen Status von jedem von ihnen verändern.
Ja, sie sogar eine neue Sprache annehmen lassen – eine
tote Sprache, die wieder zum Leben erweckt wurde. Es ist
eine Aufgabe, die keinem anderen Volk gelang. All dies in
einem fremden Land, das von einem anderen Volk bewohnt war.
Von allen
revolutionären Bewegungen des 20. Jahrhunderts war der
Zionismus die erfolgreichste und beständigste. Kommunismus,
Faschismus und Dutzende anderer Bewegungen kamen und gingen.
Der Zionismus hält durch.
Aber ist die
israelische Gesellschaft wirklich zionistisch, wie sie laut
und wiederholt behauptet.
ZIONISMUS
WAR ursprünglich eine Rebellion gegen die jüdische Existenz
in der Diaspora. In der religiösen Sphäre war es eine
Reformation, eine, die tiefer als die von Martin Luther war.
Alle
prominenten jüdischen Rabbiner, die chassidischen wie die
anti-chassidischen verurteilten den Zionismus als Häresie.
Das Volk von Israel wurde durch seinen absoluten Gehorsam
gegenüber Gottes 613 Gebote und Verboten vereint, nicht
durch irgendwelche „nationale“ Bande. Gott hat eine
Massenrückkehr ins Land Israel streng verboten, seit Er die
Juden für ihr sündhaftes Verhalten ins Exil geschickt hat.
Die jüdische Diaspora war so durch Gott verursacht worden
und sollte so bleiben, bis ER ihre Gesinnung ändern würde.
Und dann
kamen die Zionisten, meistens Atheisten und wollten die
Juden ohne Gottes Erlaubnis ins Land Israel bringen, ja Gott
ganz abschaffen. Sie bauten eine säkulare Gesellschaft auf.
Sie hatten eine tiefe Verachtung für die Diaspora, besonders
für die orthodoxen „Ghetto-Juden“. Ihr Gründungsvater
Theodor Herzl glaubte, dass nach der Gründung des jüdischen
Staates keiner außerhalb des Staates noch als Jude angesehen
würde. Andere Zionisten waren nicht ganz so radikal, aber
dachten gewiss in diese Richtung.
Als ich noch
jung war, gingen viele von uns noch weiter. Wir stritten die
Idee eines jüdischen Staates ab und sprachen von einem
„hebräischen“ Staat, der locker mit der jüdischen Diaspora
verbunden sei; wir wollten eine neue hebräische
Zivilisation schaffen, die eng mit der arabischen Welt um
uns verbunden wäre. Eine asiatische Nation, die nicht mit
Europa und dem Westen identifiziert werden wollte.
Und wo sind
wir heute?
ISRAEL IST
dabei, sich mit großem Tempo zu re-judaisieren. Die
jüdische Religion kommt zurück. Sehr bald, werden religiöse
Kinder verschiedener Gemeinden die Mehrheit in Israels
jüdischen Schulen sein.
Die
organisierte orthodoxe Religion hat immense Eingriffe
gemacht. Die offizielle israelische Definition eines Juden
ist ausschließlich religiös. Alles Angelegenheiten
persönlicher Natur wie Heirat und Scheidung unterstehen dem
Rabbinat. So ist das Menu in den meisten Restaurants
koscher. Der öffentliche Verkehr zu Land und in der Luft
findet am Schabbat nicht statt. Nicht orthodoxe jüdische
Trends, wie die „Reformisten“ und die „Konservativen“ werden
praktisch ausgesperrt.
Bei einem
Skandal, der gerade Israel durchschüttelt, handelt es sich
um einen kabbalistischen Rabbiner; es scheint, dass diese
wundersame Person ein Vermögen von hunderten Millionen
Dollar allein durch den Verkauf von Segen und Amuletts
gesammelt hat. Er ist aber nur einer von vielen solchen
Rabbinern, die wie er von Magnaten, Kabinettministern und
hochrangigen Gangstern und Polizeioffizieren umgeben ist.
Herzl, der
versprach, „ die Rabbiner in ihren Synagogen zu halten und
die Berufsarmee in den Kasernen“, dreht sich sicherlich in
seinem Grab auf dem Jerusalemer Herzlberg um.
ABER DIES
sind noch relativ oberflächliche Symptome. Ich denke an
viel tief gehendere Dinge.
Eine der
wesentlichen Überzeugungen der Diaspora-Juden war, dass
„die ganze Welt gegen uns ist“. Juden sind während
Jahrhunderten in vielen Ländern verfolgt worden - bis zum
Holocaust. In der Sederfeier am Pesachabend, der alle
Juden rund um die Welt vereinigt, sagt der heilige Text, „
in jeder Generation erheben sie sich, um uns zu
vernichten.“
Das
offizielle Ziel des Zionismus‘ war, uns in ein Volk wie alle
andern Völker zu verwandeln. Glaubt ein normales Volk denn,
dass zu allen Zeiten alle darauf aus sind, es zu
vernichten?
Es ist eine
grundsätzliche Überzeugung von fast jedem jüdischen
Israeli, dass „die ganze Welt gegen uns ist“ – was auch ein
fröhliches Volkslied ist. Die US schließt ein Abkommen mit
dem Iran ab? Europa wendet sich gegen die Siedlungen?
Russland hilft Bashar al-Assad? Alles Antisemiten.
Internationale Proteste gegen unsere Besatzung der
palästinensischen Gebiete sind natürlich nur eine andere
Form von Antisemitismus (der Ministerpräsident von Kanada,
der Israel in dieser Woche besuchte und eine lächerliche
Rede in der Knesset hielt, sprach auch aus, dass jede Kritik
an Israels Politik eine Art Antisemitismus sei).
Bedeutet
dies, dass in Israel, dem selbsternannten jüdischen Staat
all die alten jüdischen Einstellungen, Verdächtigungen,
Befürchtungen und Mythen wieder aktuell werden? Dass das
revolutionäre zionistische Konzept dabei ist, zu
verschwinden? Dass sich nicht viel an der jüdischen
Einstellung verändert hat?
Franzosen
sagen:“Je mehr sich die Dinge ändern, um so mehr bleiben sie
die gleichen“.
Oder wie der
Prediger Salomo in der Bibel (Pred.1,9) sagte: „was
geschehen ist, das wird hernach sein….was man getan hat,
eben das tut man hernach wieder, und es geschieht nichts
Neues unter der Sonne.“
(Aus dem
Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)