Das war der Tag
Uri Avnery, 20.8.05
Der 18.August 2005 – ein Meilenstein in der Geschichte
des Staates Israels.
Dies war der Tag, an
dem das Siedlungsunternehmen dieses Landes zum ersten Mal einen
Rückzieher machte.
Es stimmt, die Siedlungsaktivität in der Westbank geht mit
voller Geschwindigkeit weiter. Ariel Sharon beabsichtigt, die
kleinen Siedlungen im Gazastreifen aufzugeben, um die großen
Siedlungsblöcke in der Westbank zu sichern.
Doch dies verringert nicht die Bedeutung von dem, dass etwas
Großes geschehen ist: es ist bewiesen worden, dass Siedlungen
abgebaut werden können und abgebaut werden müssen. Und
tatsächlich sind bedeutende Siedlungen abgebaut worden.
Das Siedlungsunternehmen, das immer – in offener oder
verdeckter Weise - vorwärts ging, nur vorwärts ging, wurde
zurückgeschraubt. Das erste Mal. (Yamit auf dem Sinai und
seine Siedlungen befanden sich nicht in Erez Israel und deshalb
stellte ihre Evakuierung 1982 keinen ideologischen Bruch dar.
Aber dieses Mal geschah es im „Lande der Vorväter“.)
Ein historisches Ereignis. Eine Botschaft für die Zukunft.
Dies war der Tag, an
dem die Botschaft der israelischen Friedensbewegung den
Sieg errungen hat. Ein großer Sieg, den alle sehen können.
Nun, es stimmt – nicht wir waren es, die ihn ausführten. Es
wurde von einem Mann durchgeführt, der von unsrer Einstellung
weit entfernt ist. Es gibt ein hebräisches Sprichwort: „Das Werk
der Gerechten wird von anderen getan.“ Und die anderen sind die,
die nicht gerecht, ja, vielleicht sogar böse sind.
Zu Beginn der Siedlungsaktivitäten sagte ich bei einem meiner
Zusammenstöße mit Golda Meir in der Knesset: „Jede Siedlung ist
wie eine Landmine auf der Straße des Friedens. Zu gegebener Zeit
werden Sie diese Minen wegräumen müssen. Und lassen Sie es mich
sagen, Madam, als früherer Soldat weiß ich, dass das Wegräumen
von Minen wirklich kein angenehmer Job ist.“
Wenn ich heute zornig, zu tiefst traurig und frustriert bin,
dann ist es auf Grund des Preises, den wir wegen dieses
monströsen Unterfangens haben zahlen müssen. Die Tausenden
Getöteten, Israelis und Palästinenser. Die Hunderte von
Milliarden Shekel, die den Bach hinunter gingen. Der
moralische Abstieg unseres Staates, die schleichende
Brutalisierung, der Aufschub des Friedens um Jahrzehnte. Ich bin
zornig auf die Demagogen aller Richtungen, die mit dem Marsch
der Törichten begannen und fortfuhren – aus Dummheit, wegen
Blindheit, Gier und Machtrausch oder reinem Zynismus. Ich bin
zornig über das Leiden und die Zerstörung, die über die
Palästinenser im Gazastreifen gebracht wurden, deren Land
und Wasser gestohlen wurde, deren Häuser zerstört und deren
Bäume ausgerissen wurden, allein um der „Sicherheit“ dieser
Siedlungen wegen.
Ich habe auch Mitgefühl für die Not der Bewohner von Gush
Kativ, die von der Siedlerführung und allen israelischen
Regierungen verführt wurden, ihr Leben dort aufzubauen –
verführt, entweder durch messianische Demagogie („Es ist Gottes
Wille“) oder durch wirtschaftliche Versuchung ( „eine Luxusvilla
von Rasen umgeben, wo kann man von so etwas anderswo
träumen?“) Viele Leute entlegener Ortschaften im Negev,
die mit Armut und Arbeitslosigkeit geschlagen waren, sind diesen
Versuchungen erlegen. Und nun ist Schluss damit. Der süße Traum
hat sich in nichts aufgelöst und sie müssen ihr Leben neu
beginnen – allerdings mit großzügigen Entschädigungen.
Das Fernsehen hat uns einen großen Dienst erwiesen, als es
zwischen den Szenen der Evakuierung alte Reportagen von der
Gründung der Siedlungen einblendete. Wir hörten noch einmal die
Reden von Ariel Sharon, Joseph Burg, Yitzhak Rabin (ja, auch von
ihm), Hanan Porat und anderen – die ganze Litanei von Unsinn,
Täuschung und Lügen.
Während der letzten Jahre war das Friedenslager von einer
Manier der Verzweiflung, Mutlosigkeit und Depression erfasst
worden. Ich wiederhole: es gibt keinen Grund dafür. Auf die
Dauer wird unsere Einstellung Recht behalten Es muss jetzt
betont werden: die israelische Öffentlichkeit würde diese
Operation nicht unterstützt haben, und Sharon wäre nicht
in der Lage gewesen, sie auszuführen, wenn wir nicht seit Jahren
die öffentliche Meinung vorbereitet hätten, indem wir das
aussprachen, was keineswegs dem nationalen Konsens entsprach,
und dies immer wieder wiederholten.
Dies war der Tag, an
dem die Ideologie der Siedler in sich zusammenbrach.
Wenn es einen Gott im Himmel gäbe, so kam er nicht, um sie zu
retten. Der Messias kam nicht. Es geschah kein Wunder.
Viele der Siedler waren sich so sicher, im letzten Augenblick
werde noch ein Wunder geschehen, dass sie sich nicht die Mühe
machten, ihre Sachen zu packen. Im Fernsehen konnte man
Wohnungen sehen, wo das Essen unberührt auf dem Tisch
stand und die Familienfotos noch an der Wand hingen - Anblicke,
die mich sehr an den Krieg von 1948 erinnerten.
All die Großtuerei und Prahlerei vom Siedlerführerpaar
Wallerstein und Liebermann ( die mich immer an Rosencrantz
und Gildenstern, die beiden Bösewichte in Hamlet, erinnerten)
zerrannen in nichts. Die Massen strömten nicht im ganzen Land
auf die Straßen, um diese mit ihren Körpern für das Militär zu
blockieren, das die Siedlungen evakuieren wollte. Die vielen
Tausenden blieben – einschließlich der Abzugsgegner – zu Hause
und klebten vor ihren Fernsehern. Die Massenverweigerung der
Soldaten, den Befehlen nicht zu gehorchen – von den Rabbis
versprochen und angestiftet – geschah nicht.
Im entscheidenden Augenblick wurde die Realität, die wir schon
immer kannten, für alle deutlich: die
messianisch-nationalistische Sekte, die Führung der Siedler, ist
isoliert. In ihrem Benehmen und Lebensstil sind sie der
israelischen Geisteshaltung fremd. Die vielen Siedler, die man
vor kurzem auf den Bildschirmen sehen konnte, alle Männer,
die Yarmulkas (Kopfbedeckung) trugen, alle Frauen mit
langen Röcken, ihren endlosen Tänzen und den ständig
wiederholten 10 Slogans, sahen aus, als gehörten sie zu einer
geschlossenen Sekte von einem andern Stern.
„Es sieht so aus, als wären wir nicht ein, sondern zwei Völker:
ein Volk der Siedler und ein Volk, das die Siedler hasst,“
stöhnte einer der Rabbis, als seine Siedlung geräumt wurde.
Genau so ist es. Bei der Konfrontation zwischen den
Soldaten, die aus allen Schichten der Gesellschaft eingezogen
werden, und den Siedlern, sind es die Soldaten, die bei dieser
einzigartigen Situation das israelische Volk vertreten, während
die Siedler die negativen Seiten des jüdischen Gettos
verkörpern. Die nicht enden wollenden, kollektiven
Weinanfälle, die peinlich genau inszenierten Szenen, die Bilder
an Pogrome oder Todesmärsche wach rufen sollten, die monströse
Nachahmung des erschrockenen Jungen mit den erhobenen Armen aus
dem berühmten Holocaustfoto – all dies erinnerte an eine Welt,
von der wir dachten, wir hätten sie bei der Gründung des
Staates Israel abgeschüttelt.
In der Stunde der Wahrheit fanden die Yesha-Führer, dass kein
Teil der israelischen Gesellschaft sich mit ihnen erhoben hat –
außer den Gangs von jungen Leuten aus den religiösen
Seminaren, die sie nach Gush Kativ gesandt hatten. Das
Tollhaus, das sie auf dem Dach der Synagoge von Kfar Darom,
errichtet hatten, setzte ihren Hoffnungen, die allgemeine
Unterstützung zu gewinnen, ein Ende, als sie die Soldaten gemein
angriffen. Doch schon vorher hatten die Siedler die wichtige
Schlacht um die öffentliche Meinung verloren, als ihr wirkliches
Ziel aufgedeckt wurde: mit Gewalt ein auf dem Glauben
gegründetes, messianisches, rassistisches, starkes,
fremdenfeindliches Regime aufzurichten, im Großen und
Ganzen weltabgewandt.
Was aber am wichtigsten ist: dies war der Tag, in dem eine neue Chance liegt, Frieden für ein gequältes Land zu
erreichen.
Es ist eine günstige Gelegenheit, weil die israelische
Demokratie einen überragenden Sieg davon getragen hat;
weil bewiesen worden ist, dass Siedlungen aufgelöst werden
können, ohne dass der Himmel zusammenstürzt; weil die
Palästinenser eine Führung haben, die Frieden wünscht; weil
bewiesen worden ist, dass sogar die radikalen palästinensischen
Organisationen das Feuer einstellen, wenn die palästinensische
Öffentlichkeit es verlangt.
Aber es muss klar festgestellt werden: der Rückzug birgt
eine große Gefahr in sich: wenn wir mitten im Sprung über dem
Abgrund stoppen, fallen wir hinein.
Wenn wir nicht schnell mit dem palästinensischen Volk eine
Übereinkunft treffen, dann wird sich der Gazastreifen
tatsächlich in eine Plattform für Raketen wandeln – wie Binyamin
Netanyahu prophezeit hat, (was eine sich selbst erfüllende
Prophezeiung sein kann)
In den Augen der Palästinenser und der ganzen Welt ist der
Rückzug vor allem eine Folge des bewaffneten palästinensischen
Widerstandes. Wenn wir in den nächsten Wochen keine Fortschritte
bei verhandelten Abkommen machen, wird sicher eine dritte
Intifada ausbrechen, und das ganze Land wird in Flammen
aufgehen.
Wir müssen sofort mit ernsthaften Verhandlungen beginnen und im
voraus klären, innerhalb einer bestimmten Zeitspanne
werde die Besatzung mit der Errichtung des Staates Palästina
beendet sein. Alle wichtigen Elemente solch einer Abmachung sind
längst bekannt: eine Lösung für Jerusalem entsprechend dem
Clintonvorschlag (was den Arabern gehört, gehört zu Palästina,
was jüdisch ist, gehört zu Israel), Rückzug zur Grünen Linie mit
einem ausgehandelten Austausch von Land, eine Lösung des
Flüchtlingsproblems – auch in Absprache mit Israel.
Dies war der Tag, der
in die Geschichte eingehen wird, weil er große Hoffnung mit sich
brachte.
Es ist nicht der Anfang des Endes im Kampf um Frieden, aber
sicher das Ende des Anfangs.
Ein kleiner Schritt in Richtung Frieden – und ein Riesenschritt
für den Staat Israel.
(Aus dem Englischen: Ellen
Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
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