Von Rache zu Rache
Uri Avnery, 4.2.06
Wenn jemand verstehen will, was die Palästinenser am Wahltag
taten, dann sollte man sich den Film „Paradise- now“ („Paradies
jetzt!“) ansehen, der als bester ausländischer Film für einen Oskar
nominiert wurde, nachdem er schon einige renommierte Preise erhalten
hatte. Dieser Film erklärt besser als eine Million Worte.
Der
Drehbuchautor und Direktor Hani Abu-As’sad aus Nazareth, und die
Schauspieler sind Palästinenser ( Nur Amir Harel, einer der
Produzenten ist ein jüdischer Israeli).
Die beiden
Hauptdarsteller Said und Khaled sind Selbstmordattentäter. Der Film
stellt eine Frage, die jeden in Israel - und vielleicht in der
ganzen Welt beschäftigt: Warum tun sie das? Wie kann jemand am
Morgen aufstehen und beschließen, dass er sich mitten in einer
Menschenmenge in Jerusalem oder Tel Aviv in die Luft sprengt?
Einige der Leute fragen vielleicht auch: Wer sind sie? Wie sieht ihr
Hintergrund aus? Wie sind sie dazu gekommen?
Heute – lange
Zeit nach seiner Entstehung - beantwortet der Film vielleicht auch
eine andere Frage: Warum hat die große Mehrheit der Palästinenser
genau die Gruppe gewählt, die diese Leute beauftragt hat, sich in
die Luft zu sprengen?
Der Film
beantwortet diese Fragen. Nicht mit Slogans, nicht mit
Propagandareden oder mit einer akademischen Untersuchung. Er predigt
nicht, lobt nicht und wird nicht wütend. Er erzählt eine Geschichte.
Die Geschichte sagt alles. Und da ihn sich nicht viele Israelis
ansehen werden, erlaube ich mir, was gewöhnlich nicht getan wird:
ich erzähle die Geschichte des Filmes fast bis zum Ende.
Die
Eröffnungsszene schafft
die Atmosphäre: Suha, eine schöne, junge palästinensische Frau aus
guter Familie, die in Frankreich groß geworden ist, nähert sich
einem Checkpoint, einem der unzähligen Straßensperren, die über die
ganze Westbanklandschaft verstreut sind. Sie steht einem
einschüchternden Soldaten gegenüber, mit Schnurrbart unter dem
Stahlhelm und mit kugelsicherer Weste. Ihre Augen begegnen einander.
Er redet nicht. Er misst sie nur mit den Augen von oben bis unten -
von unten bis oben. Er untersucht ihre Handtasche langsam, sehr
langsam. Seine Augen lassen die ihrigen nicht los.
Als er damit
fertig ist, gibt er ihr die Dokumente zurück – beinahe. Als sie
versucht, nach ihnen zu greifen, reißt er seine Hand hoch . Sie muss
sich darum bemühen. Am Ende – ohne ein Wort zu sagen, befiehlt er
ihr mit kleiner Kopfbewegung, weiter zu gehen.
Nur ein paar
Minuten – Minuten totaler Demütigung, während derer gegenseitiger
Angst und Hass in einander gehen. Der Zuschauer hat das Gefühl, die
Frau sei an dem Punkt, sich nun gleich in die Luft zu jagen. Aber
nichts geschieht. Sie geht weiter.
....Zwei junge
Männer, etwa 22 Jahre alt, in Nablus dem Zentrum der nördlichen
Westbank. Praktisch arbeitslos, wie fast alle jungen Männer in
Nablus. Sie haben keine Zukunft. Keine Hoffnung. Nicht einmal
Träume. Sie können nichts für ihre verarmten Familien tun. Sie
leben ganz unten, in einer Mischung von Langeweile, Frustration,
Verzweiflung. Selbst die Tasse Tee, die ihnen ein unterwürfiger,
aber hartnäckiger Junge für 20 Cent verkauft, ist kalt.
Sie sind zwar
bärtig, aber nicht fanatisch. Religiös wie jeder, nicht anders. Sie
wurden unter der Besatzung geboren; sie leben unter der Besatzung.
Nablus ist umgeben von Straßensperren. Es gibt keine Arbeit. Nichts.
Nur Verwahrlosung und bedrückende Armut. Die Besatzung ist die
zentrale Tatsache in ihrem Leben. Alles beginnt mit der Besatzung,
und alles endet mit ihr.
...Einer von
ihnen, Said, trifft Suha. Zwischen ihnen funkt es. Genau in diesem
Augenblick erhalten die beiden Jugendlichen die Botschaft: Ihr seid
ausgewählt worden. Morgen werdet ihr in Tel Aviv einen
Selbstmordanschlag ausführen.
...ein
verlassenes Gebäude dient als Hauptquartier des Untergrundes. Letzte
Vorbereitungen: die Bärte werden abrasiert. Ihre Haare werden
geschnitten. Sie ziehen gute Kleidung an. Es werden Fotos von ihnen
aufgenommen. Ein paar ermunternde Worte, kein Pathos, vom Chef,
einer „gesuchten Person“, die eine lebende Legende ist, (und noch
lebt). Der Angriff ist ein Racheakt für den „gezielten Mord“ an
einem Kameraden.
Die zwei sehen
ruhig aus, während ihnen die Gürtel mit Sprengstoff angepasst
werden. Sie werden gewarnt, dieser Gürtel könne nicht entfernt
werden, ohne dass er explodiert. Es ist ein Augenblick, bei dem
einem ein kalter Schauer über den Rücken läuft: die zwei sehen die
Poster mit ihren Fotos, die nach ihrer Tat an die Mauern geklebt
werden.
...Unterwegs. Der Zaun ist zerschnitten. Auf der andern Seite
erscheint plötzlich ein Militärjeep. Khaled schlüpft wieder durch
das Zaunloch zurück; Said setzt seinen Weg nach Israel fort. Er
erreicht eine Bushaltestelle, wartet, sieht eine Frau mit ihrem
kleinen Kind spielen. Der Bus kommt. Die Frau und das kleine Kind
steigen ein. Im letzten Augenblick zögert er und gibt dem Fahrer ein
Zeichen, er solle losfahren– ohne ihn.
...Unter den
Kameraden bricht Panik aus. Wo ist Said? Ist er vielleicht
desertiert? Hat er sie betrogen? Ist weggerannt? Sie suchen ihn
überall. Said trägt noch immer den Sprengstoffgürtel und kehrt
heimlich nach Nablus zurück, sucht Khaled. Er trifft auf Suha.
Während sie sich umarmen sagt Suha, dies ist der falsche Weg:
Zivilisten sollte kein Leid angetan werden. Dies bringt keine
Befreiung von der Besatzung. Aber Said bittet den Chef, es noch mal
mit ihm zu probieren, ihm eine 2. Chance zu geben. Hier wird ein
wichtiges Detail deutlich: Saids Vater war ein Kollaborateur gewesen
und exekutiert worden. Said will diesen schrecklichen Schandfleck
tilgen, der ihn während seiner ganzen Kindheit verfolgte. „Er war
ein guter, aber schwacher Mann“, sagt er, „die Israelis haben seine
Schwäche ausgenützt. Ihnen muss die Schuld gegeben werden.“
...Endlich
erreichen die beiden Kameraden Tel Aviv. Für die Jugendlichen aus
dem armen, heruntergekommenen Nablus erscheint Tel Aviv wie aus
einer anderen Welt, leuchtend, reich, unerreichbar. Wolkenkratzer.
Mädchen in Bikinis. Menschen, die an der Küste herumtollen.
Im letzten
Augenblick zögert Khalid und versucht, Said zu überzeugen, die
Mission aufzugeben. Aber nur Khaled kehrt nach Nablus zurück. Said
rächt seines Vaters Tod.
...Letzte
Szene: Said sitzt in einem Bus, umgeben von Soldaten und
Zivilisten. Die Kamera konzentriert sich auf seine Augen. Die Augen
füllen die Leinwand. Wir sind wie erstarrt über das, was im nächsten
Augenblick geschehen wird..
All dies wird
in einer zurückhaltenden Filmsprache erzählt. Es gibt kaum verbale
Statements. Oberflächlich betrachtet, ist es eine banale Geschichte
sogar mit leichten Augenblicken: Khaled sagt seine
Abschiedsbotschaft vor dem Videogerät. Das Gerät funktioniert nicht.
Er muss die bewegende Botschaft noch und noch einmal wiederholen.
Kameraden stehen herum und essen. Er schaut sie an, stoppt und muss
noch mal beginnen. Und noch mal. Ein heiteres Zwischenspiel.
Beim
Hinausgehen aus dem Tel
Aviver Filmtheater studierte ich die Gesichter der Leute. Sie waren
still und nachdenklich. Das erste Mal in ihrem Leben haben sie die
Terroristen gesehen, die uns töten, die sich selbst unter Kindern,
Männern und Frauen in die Luft sprengen. Sie sehen wie gewöhnliche
Jugendliche aus. Sie benehmen und reagieren wie gewöhnliche Leute.
Nun sieht man die Besatzung von der anderen Seite, von der unteren
Seite.
Ich saß im
dunklen Filmtheater und fand mich selbst in einer Situation völliger
Dissonanz: wir, die Opfer sein sollten, die wir hätten leicht in
diesem Bus sitzen können, sehen alles durch die Augen unserer Mörder
. Da kommt einem der Gedanke: hier hilft keine Gewalt. Wenn wir
diese beiden töten, werden zwei andere ihren Platz einnehmen. Die
Mauer wird einige von ihnen abhalten, aber nicht alle. Der
Sicherheitsdienst wird mit Hilfe von Kollaborateuren einige Angriffe
verhindern, wird sie aber nicht alle verhindern können – und die
Kinder von Kollaborateuren werden kommen und sie rächen. Wenn es
dort Menschen wie sie gibt, die unter solchen Bedingungen
aufwachsen, werden immer einige ihre Ziele erreichen.
Der Film gibt
keine Lösungen. Er gibt auch nicht vor, ausbalanciert zu sein. Er
konfrontiert uns mit einer Realität, die wir so nicht kennen, und
aus einem Winkel, wie wir ihn nicht gewöhnt sind und quält uns mit
der Spannung sich widerstreitender Gefühle.
Und vielleicht
treibt uns dies an, über eine Lösung nachzudenken, die Said und
Khaled in eine andere Richtung führen. Eine Lösung, die der
Demütigung ein Ende setzt und der Verletzung von persönlicher und
nationaler Würde, dem Elend und der Hoffnungslosigkeit.
EIN PAAR Tage später sah ich einen anderen
Film, der auch für den Oskar nominiert war, den viel gepriesenen
Film von Steven Spielberg, „München“. Und zufällig sah ich ihn in
Deutschland, nicht so weit von München selbst entfernt.
Beim Verlassen
des Kinos wollte mein deutscher Gastgeber wissen, was ich über ihn
denke. Spontan, ohne nachzudenken, sagte ich, was ich während des
Sehens empfand: „Ekelhaft!“
Erst später
hatte ich Zeit, meine Eindrücke zu sortieren, die sich bei mir beim
Ansehen dieses sehr langen Filmes angesammelt hatten. Was hatte
mich so angewidert?
Zunächst der
Spielbergstil, eine Kombination von sehr hoher Filmtechnik und sehr
niedrigem Niveau. Er gibt Tiefe vor mit neuen und enthüllenden
Einsichten – aber im Grunde ist er nichts anderes als noch ein
amerikanischer Western, wo die guten Kerle die bösen Kerle
umbringen und das Blut wie Wasser fließt.
Einige jüdische
Politiker protestierten gegen den Film, weil er die „Terroristen“
und die „Rächer“ auf dieselbe Stufe stellte. Und tatsächlich
erlaubte der Film den Terroristen - zu ihrer Verteidigung - einige
Sätze auszusprechen: über die Ungerechtigkeit, die ihnen von den
Juden angetan wurde, und von ihrem Recht auf ihre Heimat. Aber das
ist nur ein Lippenbekenntnis, ein Vorwand, um den Eindruck eines
ausgewogenen Portraits zu erwecken.
Aber bei der
Beschreibung des Münchner Attentates - Fragmente, die über den
ganzen Film verteilt waren – erschienen die Araber als miserable,
hässliche, ungepflegte, gemeine Kreaturen, das ganze Gegenteil von
Avner, dem israelischen Rächer, der hübsch und anständig, tapfer und
wohl gepflegt ist - kurz der jüngere Bruder von Ari Ben Cenaan, der
Supermann aus „Exodus“.
Die Araber
haben keine Gewissensbisse, aber die Israelis haben zwischen den
beiden Morden Skrupeln. Sie zögern jedes Mal, wenn sie sprengen/
schießen / eines ihrer „Ziele“ abschneiden – was sie natürlich erst
tun, wenn sie Frau und Kinder des Opfers in Sicherheit gebracht
haben.
Das sind nicht
nur Killer, es sind jüdische Killer – entsprechend einem israelisch
satirischen Slogan: „Schießen und weinen!“
Die Darstellung
der Affäre selbst wird äußerst manipuliert. Dem Zuschauer werden
einige sehr wichtige Fakten vorenthalten. Zum Beispiel:
-
dass die Untersuchungen der sterblichen Überreste zeigten,
dass neun von den 11 israelischen Sportlern von Kugeln der
bejammernswert untrainierten deutschen Polizisten erschossen wurden
(diese Untersuchungsberichte werden bis zu diesem Tag geheim
gehalten – in Israel und in Deutschland. Aber eine so mächtige
Person wie Spielberg sollte davon gewusst haben)
-
dass es Golda Meir und ihre deutschen Kollegen waren – jede
und jeder ein großer Held – die das Schicksal der Geiseln
besiegelten, als sie die Forderung der Kidnapper zurückwiesen, ihre
Geiseln in ein arabisches Land zu nehmen, wo sie sicher gegen
palästinensische Gefangene ausgetauscht worden wären.
-
Dass die Palästinenser, die aus Rache für München getötet
wurden, nichts mit der Angelegenheit zu tun hatten. Der Mossad
schaute nach leichten Zielen und wählte PLO-Diplomaten in
europäischen Hauptstädten, die ziemlich ungeschützt waren.
Aber am meisten
war ich von der spielbergschen vulgären Art abgestoßen, die durch
den ganzen Film lief, einschließlich Sexszenen, die zum einen
unnötig und zum anderen besonders unästhetisch sind.
Der Film hilft
nicht zum Verständnis des Konfliktes. Er ist im Grunde ein
Routine-Gangsterfilm, den Spielberg um den
israelisch-palästinensischen Konflikt gedreht hat, um den seit
langem erwarteten Oskar zu gewinnen, der ihm bis jetzt entgangen
war.
(Aus dem
Englischen: Ellen Rohlfs, von Verfasser autorisiert) |