Diese
Frau
Uri Avnery
5. Mai 2018
Ben-Gurion sagte über sie: „Das Einzige, was Golda kann, ist
hassen!“
Mich hasste Golda Meir nicht. Das wäre
eine Untertreibung. Sie verabscheute mich zutiefst: Die Art, wie ich
spreche, die Art, wie ich mich kleide, die Art, wie ich aussehe.
Einfach alles.
Einmal mitten in einer Rede in der
Knesset (ich glaube, es ging darum, ob wir den Beatles erlauben
sollten, in Israel aufzutreten) unterbrach ich mich und sagte:
„Jetzt möchte ich der Abgeordneten Golda Meir antworten …“
„Aber die Abgeordnete Meir hat ja gar
nichts gesagt!“, wandte der Vorsitzende ein.
„Ich antworte nicht auf einen
Zwischenruf“, erklärte ich. „Ich antworte auf ihr Grimassieren!“
Und tatsächlich grimassierte Golda: Jeder
ihrer Gesichtsmuskeln verkündete ihren Abscheu.
DIE DRITTE Folge von Rawiw Druckers
interessanter Serie über die ersten Ministerpräsidenten Israels ist
Golda gewidmet.
Levi Eschkol starb plötzlich im Februar
1969 an einem Herzinfarkt. Es gab viele beliebte Kandidaten für die
Nachfolge, aber – wie schade! – keiner von ihnen war Mitglied der
regierenden Arbeitspartei (Mapai). Deshalb wurde Golda Meir gewählt,
die aus dem Nichts kam. Sie war damals nicht einmal Ministerin.
Dann geschah ein Wunder. Am Vorabend
ihrer Machtübernahme war ihr Beliebtheitsgrad in den
Meinungsumfragen noch fast bei Null gewesen. Über Nacht stieg er auf
über 80%.
In den Jahren darauf war ihre Macht
unbegrenzt. Dafür gibt es keine Erklärung. Sie persönlich hatte
keine Machtgrundlage, keine politische Organisation stand hinter
ihr. Sie beherrschte den Staat mit der bloßen Macht ihrer
Persönlichkeit.
Ich erinnere mich lebhaft an die Szene:
1973 musste ein neuer Staatspräsident gewählt werden. Golda war
entschlossen, ihren eigenen Kandidaten, den würdigen
Universitätsprofessor Ephraim Katzir, wählen zu lassen. Auch der
Gegenkandidat war eine würdige Person.
Zur selben Zeit war die Knesset im
Begriff, ein neues Gesetz zu verabschieden, das die Methode betraf,
nach der die Wahlergebnisse auf die tatsächliche Größe der
Fraktionen zugeschnitten werden sollten. Wir nannten es „die
Bader-Ofer-Verschwörung“. Es war so angelegt, dass die größten
Fraktionen davon profitieren und die kleinsten – darunter meine –
Schaden nehmen würden.
Es gelang mir, eine Koalition aller
kleinen – linken, rechten, religiösen und säkularen – Parteien zu
bilden. Gemeinsam hatten wir die Macht, darüber zu entscheiden, wer
Präsident werden würde. Also stellten wir dem starken Mann der
Arbeitspartei, dem Finanzminister Pinchas Sapir, ein Ultimatum:
Nehmen Sie den Gesetzesentwurf zurück, dann stimmen wir für Katzir,
im anderen Fall stimmen wir für den Gegenkandidaten.
Sapir zog sein legendäres kleines
Notizbuch hervor, zählte die Zahlen zusammen und entschied, dass
tatsächlich wir die Macht hätten. „Wartet hier“, sagte er zu uns.
„Ich gehe zu Golda.“
Was dann kam, war verblüffend. Wir sahen,
wie er Goldas Raum betrat. Nach zehn Minuten war es ein anderer
Mann, der herauskam. Der allmächtige Sapir mit dem Spitznamen „der
Direktor des Staates“ kam als Zwerg wieder heraus. Er vermied es,
uns in die Augen zu schauen, und ging sofort zum Telefon. Er rief
eine ultra-orthodox-religiöse Fraktion an, versprach ihr eine Bank
und bekam die Stimmen ihrer Abgeordneten. Golda hatte zu ihm gesagt:
„Ich werde nicht Uri Avnery die Entscheidung darüber überlassen, wer
Präsident Israels wird!“
ABER DIES sind nur kleine Episoden im
Vergleich zum größten Ereignis in ihrem Leben und dem Leben der
Nation, dem Jom-Kippur-Krieg.
Im Sechstagekrieg 1967 unter Eschkol
hatte Israel riesige Gebiete erobert, darunter besonders die
Sinaihalbinsel. Unsere Armee hatte sich längs des Suez-Kanals
festgesetzt.
Der neue ägyptische Präsident Anwar
al-Sadat war entschlossen, die Sinaihalbinsel zurückzubekommen. Er
streckte diskret seine Fühler aus und machte ein unglaubliches
Angebot: Wenn sich die Israelis an ihre früheren Grenzen
zurückziehen würden, würde Ägypten mit Israel Frieden schließen. Als
das Golda berichtet wurde, wies sie das Angebot voller Verachtung
zurück.
Wie gewöhnlich bringt Drucker lauter
Tatsachen ans Licht, von denen viele bis jetzt unbekannt waren. Und
doch bin ich wieder nicht sicher, ob er ein wirklich zutreffendes
Bild von Golda zeichnet.
Golda wurde 1898 in der Ukraine geboren.
Als sie sieben Jahre alt war, wanderte ihre Familie, nachdem ihre
Angehörigen Zeugen – so sagt Golda – eines großen Pogroms geworden
waren, in die USA ein. Sie wuchs als amerikanische Jüdin auf,
heiratete und zog im Alter von 26 Jahren nach Palästina. Das junge
Paar lebte in einem Kibbuz und Golda wurde in der Mapai-Partei
aktiv.
Zwar war sie nie eine attraktive Frau
gewesen, und doch hatte sie eine Menge Liebesbeziehungen mit älteren
Partei-Führern. Ich erinnere mich an viele Gerüchte darüber zu jener
Zeit und verstehe, warum Drucker diesen Beziehungen viel Zeit
widmet. Ich allerdings finde sie ganz und gar uninteressant.
Die Grundtatsache ist, dass Golda von
Anfang an die Araber abgrundtief verachtete. Ebenso wenig wie alle
ihre Vorgänger (außer Mosche Scharett, wie schon gesagt) hatte sie
jemals Kontakt mit Arabern. Sie kannte die arabische Kultur
überhaupt nicht und verachtete die Araber von Herzensgrund.
Die Leichtigkeit, mit der die israelische
Armee 1967 drei arabische Armeen besiegt hatte, vervielfachte diese
Verachtung. Golda fiel es nicht im Traume ein, dem verachtenswerten
arabischen Staat Ägypten die Sinaihalbinsel zurückzugeben. Schon gar
nicht zu einer Zeit, in der Ägypten von Sadat geführt wurde, einem
Mann, der sogar von seinem großen Vorgänger Gamal Abd-al-Nasser als
Weichling angesehen wurde.
Wenn Golda irgendetwas von der arabischen
Welt verstanden hätte, hätte sie gewusst, dass die Ägypter ein
außerordentlich stolzes Volk sind. Selbst in ihrer heutigen Armut
sind sie sich bewusst, dass sie die Erben einer 8000 Jahre alten
Kultur sind. Auch der Kanal gehört zu den Dingen, auf die sie stolz
sind. Der Gedanke, sie würden ihn jemals aufgeben, ist kindisch –
ebenso wie der Gedanke, dass das palästinensische Volk jemals den
arabischen Teil Jerusalems aufgeben würde.
Ein palästinensisches Volk? Golda
spottete über diesen Begriff. „So etwas wie ein palästinensisches
Volk gibt es nicht!“, erklärte sie einmal in der Knesset, als ich
das Thema zur Sprache brachte.
DIESE FRAU also führte Israel in einem
seiner entscheidendsten Augenblicke.
Kurz vor Jom Kippur 1973 wurde der Chef
des israelischen Geheimdienstes zu einem dringenden Treffen mit
Israels wertvollstem Spion, dem ägyptischen Verräter und
Schwiegersohn Nassers, nach London gerufen. Er kam eilig zurück und
deckte auf, dass die ägyptische Armee Israel am Jom Kippur angreifen
werde.
Auf Golda machte das keinen Eindruck. Die
Ägypter? Was könnten die schon ausrichten? Sie rief ihre Generäle
zusammen und eine lebhafte Diskussion fand statt. Sollten
Reservisten der Armee einberufen werden? Und wenn ja, wie viele?
200.000, wie der Armee-Stabschef David Elasar vorschlug, oder nur
50.000, wie der Verteidigungsminister Mosche Dajan vorschlug? Golda
wählte als typische Politikerin einen Kompromiss: 100.000 wurden
einberufen.
Später wurde das zum springenden Punkt.
„Warum wurden die Reservisten nicht einberufen?!“, donnerte der
Oppositionsführer Menachem Begin immer wieder.
In Druckers Film wird Golda als hilflose
alte Frau dargestellt, die von jungen und dynamischen Generälen
umgeben ist. In Wahrheit war es ganz anders. Golda war bei den
Beratungen die dominante und dominierende Persönlichkeit; wenn sie
anwesend war, wurden die Generäle zu Kindern.
Als die verachteten Ägypter den Kanal
überquerten und alle ruhmreichen israelischen Stützpunkte
überrannten, war Israel verblüfft. Der wie immer inkompetente und
doch vergötterte Mosche Dajan ging umher und prophezeite „die
Zerstörung des Dritten Tempels“ (des Tempels, der auf die beiden
Tempel im Altertum folgte). Glücklicherweise erwies sich David
Elasar (mit Spitznamen Dado) als kompetent und schließlich gewann
Israel die Oberhand.
Das Ende kam schnell. Eine
Untersuchungskommission verurteilte Dado und entlastete Golda und
Dajan, aber das Land war in Aufruhr: Golda und Dajan mussten gehen.
Sadat kam nach Israel, um Frieden zu
schließen. Ein Treffen zwischen ihm und Golda wurde anberaumt. Golda
bestand aus einem einzigen Lächeln, schüttelte ihm die Hand und
nannte sich „die alte Dame“. Die im Krieg Gefallenen erhoben sich
nicht aus ihren Gräbern.
Sind die gegenwärtigen Führer klüger als
Golda? Achten sie die Araber mehr? Sind sie bereit, die besetzten
Gebiete zurückzugeben?
Nein. Und nein.
Und nein.
(Aus dem Englischen von Ingrid von Heiseler)