Wie geht es
Dir, Gewaltlosigkeit?
Uri Avnery, 4.9.2004
Bei der Massenkundgebung mit
Arun Gandhi, dem Enkel des Mahatma, in Abu Dis beobachtete ich die
Gesichter der Teilnehmenden . Während Gandhi über Gewaltlosigkeit
predigte, stellte ich mir ein Gespräch zwischen zwei jungen
Palästinensern unter den Zuhörern vor.
Yussuf: „Er hat recht. Die
bewaffnete Intifada hatte keinen Erfolg.!
Hassan: „Im Gegenteil. Ohne
die Aktionen der Märtyrer hätte uns die Welt längst vergessen.“
Y.: „Seit einem halben Jahr
gab es in Israel keinen Selbstmordanschlag – und sieh, was wir
erreicht haben.“
H. : „Wir haben nichts
erreicht. Im Gegenteil. Die israelischen Generäle rühmen sich, sie
hätten uns mit ihren gezielten Tötungen, den Angriffen auf unser
Land und all den anderen Akten der Besatzung besiegt . Und während
dessen haben sie die Siedlungen vergrößert, neue „Außenposten“
errichtet und die rassistische Mauer weiter gebaut.“
Y.: „Du vergisst, dass der
Internationale Gerichtshof in Den Haag erklärt hat, die Mauer sei
illegal, und die UN-Vollversammlung hat dies mit großer Mehrheit
bestätigt. Ganz Europa hat zu unseren Gunsten abgestimmt. Wir sind
im Begriff, die Arena der weltweiten öffentlichen Meinung für uns zu
gewinnen.“
H.: „Welchen Wert hat dies,
wenn in der Zwischenzeit Sharon tut, was er will, Arafat weiter im
Käfig hält und ins Gesicht von Abu Ala spuckt, während Abu Ala sich
für Gewaltlosigkeit ausspricht.?“
Y.: „Sogar die ranghohen
Juristen Israels warnen Sharon, wenn er so weiter mache, werden die
UN am Ende Sanktionen gegen Israel verhängen.“
H.: „Aber in der
Zwischenzeit geschieht das Gegenteil. In Folge der Pause von
Selbstmordattentaten erholt sich die israelische Wirtschaft. Der
wegen unserer Angriffe fast zum Erliegen gebrachte Tourismus nach
Israel, beginnt wieder. Wenn sich die Israelis sicher fühlen und
keine Angst mehr von Selbstmordattentaten haben, warum sollten sie
dann mit uns reden? Warum sollten sie irgendwelches Land
zurückgeben? Warum sollten sie aufhören, die Siedlungen zu
vergrößern? Das ist ihnen doch scheißegal.“
Y: „ Wir müssen die
internationale Gemeinschaft gewinnen. Wir können dies nur ohne
Gewalt erreichen. Ich bewundere die Märtyrer, die bereit sind, für
unser Volk zu sterben. Ich bin stolz darauf, dass wir solche Helden
haben. Aber so kommen wir nicht weiter. Sie versorgen Sharon nur mit
Vorwänden, uns noch mehr zu unterdrücken.“
H.: „Als ob Sharon Vorwände
benötigt! Er will uns brechen, und die weltweite öffentliche
Meinung wird keinen Finger für uns rühren. Die treulosen arabischen
Führer werden auch nichts für uns tun. Allein unsere Helden werden
uns retten.“
Y.: „Aber Gandhi behauptet,
dass gewaltfreie Methoden mehr Erfolg haben. Sein Großvater hat dies
in Indien bewiesen.“
H.: „ Er kannte die Israelis
nicht. Die israelische Armee wird das Feuer auf jede gewaltfreie
palästinensische Demonstration von ernst zu nehmendem Ausmaß
eröffnen.“
Y.: „ Sieh dort , unsere
Brüder, die an der Mauer hochklettern! Das ist ein Beispiel für eine
erfolgreiche, gewaltfreie Aktion im Stile Gandhis, die das Gesetz
des Besatzers offen und ohne Furcht verletzt!“
H.: „ Mach dich nicht
lächerlich! Wenn Arun Gandhi und diese Israelis nicht hier wären,
hätten die Soldaten geschossen und sie getötet. Später hätten sie
gesagt, das wären gesuchte Terroristen gewesen. Erinnerst du dich an
den Anfang der Al-Aksa- Intifada, als es unbewaffnete
Massendemonstrationen gab? Die Israelis kamen mit Scharfschützen
und töteten die Anführer. Denk dran, dies ist nicht Indien, und die
Israelis sind keine Engländer. Sie verstehen nur die Sprache der
Gewalt.“
A.: „Aber das ist ja genau
das, was sie über uns sagen!“
Diese Art Debatte wird nun
überall in der palästinensischen Gesellschaft geführt, vielleicht
gar in jeder Familie. Den Yussufs gelingt es nicht, die Hassans zu
überzeugen, und ich fürchte, dass Gandhi auch keinen Erfolg hat,
weil ihnen das entscheidende Argument fehlt. Abu Mazen, der
Gewaltlosigkeit befürwortet, erhielt von Sharon nichts. Ein halbes
Jahr ohne Selbstmordattentaten innerhalb Israels hat den
Palästinensern nichts gebracht.
Deshalb war der Angriff in
Beer Shewa – nur eine Woche nach Gandhis Rallye – zu erwarten.
Solange die Sharon-Regierung
mit der aktiven Unterstützung von Präsident Bush die Siedlungen
weiter vergrößert, die Mauer weiter baut und all die anderen
Aktionen der Annexionen weiter verfolgt, gibt es nichts, was die
palästinensische öffentliche Meinung dahin bringt, der Gewalt den
Rücken zu kehren. Und nur ein entscheidender Wechsel in der
palästinensischen öffentlichen Meinung kann die Selbstmordattentate
zu einem Ende bringen.. Keine Mauer wird Leute, die zu sterben
bereit sind, daran hindern, einen Angriff auszuführen.. Und die
Palästinenser haben schon bewiesen, dass es jede Menge solcher Leute
unter ihnen gibt .
Ehud Barak, eine sehr
gewalttätige Person, hat einmal gesagt, dass er, wenn er ein junger
Palästinenser wäre, sich einer Terrororganisation angeschlossen
hätte. Offensichtlich glaubt er nicht daran, dass Gewaltlosigkeit
gegenüber der israelischen Armee Erfolg hat. Und er sollte es
wissen.
Ich war von der Lehre
Mahatma Gandhis beeindruckt . Er war der größte Befreier des 20.
Jahrhunderts. Er erreichte Freiheit für den ganzen indischen
Subkontinent, einschließlich des heutigen Pakistan und Bangladesh.
(Aber Gandhi sagte auch, dass Hitler nur mit gewaltfreien Mitteln
bekämpft werden könne – und selbst seine größten Bewunderer hatten
Mühe, dies zu akzeptieren)
In meiner Jugend schloss ich
mich zwei sehr gewalttätigen Organisationen an (der Irgun und der
israelischen Armee), aber nachdem ich zum Ende des 48er Krieges
verwundet wurde, gab es einige Monate, in denen der pure Gedanke an
Kampf mir körperliche Übelkeit verursachte. Ich verabscheue Gewalt
in jeder Form - aber wie kann sie gestoppt werden?
Es gibt Leute unter uns,
die für einen Kompromissfrieden bereit wären, die aber dahin
gebracht wurden, zu glauben, es gäbe „niemanden, mit dem man
verhandeln kann“, weil „sie“ keinen Frieden, sondern uns nur
vernichten wollen. Wir sollten jedoch versuchen, diese
palästinensische Gewalt zu verstehen, die so viel Blutvergießen
verursacht: sie war die voraussehbare Folge davon, dass wir ihnen
jeden anderen Weg abgeschnitten haben.
Ich bin davon überzeugt,
dass es möglich ist, der Gewalt in unserem Lande ein Ende zu machen
- falls wir dem palästinensischen Volk einen alternativen,
gewaltfreien Weg anbieten, um Freiheit und Gerechtigkeit zu
erlangen.
Jeder der glaubt, dass eine
Mauer Erfolg verspricht, die Selbstmordattentate zu stoppen, könnte
sich genau so gut auch auf die Amulette der kabbalistischen Rabbis
verlassen.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs,
vom Verfasser autorisiert)
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