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Das Meer und der Fluss
Uri Avnery
15.Dezember 2012
„PALÄSTINA VOM Jordan bis zum Meer gehört uns!“ erklärte
Hamasführer Khaled Meshal letzte Woche bei der großen Siegesrallye
in Gaza.
„Eretz Israel vom Meer bis zum Jordan gehört uns!“ erklären
israelische Politiker bei jeder Gelegenheit.
Die beiden Statements scheinen dieselben zu sein, nur dass der Name
des Landes sich verändert.
Aber wenn man sie sehr aufmerksam liest, gibt es einen geringfügigen
Unterschied. Die Richtung.
VOM MEER bis zum Fluss – vom Fluss bis zum Meer.
Darin liegt viel mehr Bedeutung, als man auf den ersten Blick denkt.
Es zeigt, wie der Sprecher sich selbst sieht – ob er vom Osten oder
vom Westen kommt.
Wenn man sagt „vom Fluss bis zum Meer“ sieht man sich selbst zur
weiten Region gehörig, die der Westen „Naher (bzw. Mittlerer)
Osten“ nennt und der ein vitaler Teil des asiatischen Kontinents
ist. Der Terminus „Mittlerer Osten“ ist schon für sich ein
herablassender Ausdruck mit kolonialem Unterton – er bedeutet, dass
das Gebiet keine unabhängige Stellung hat. Es besteht nur in
Beziehung zu einem weit entfernten Weltzentrum – Berlin? London?
Washington?
Wenn einer aber sagt „Vom Meer bis zum Fluss“, sieht er sich selbst
als jemand, der vom Westen kommt und der als Brückenkopf des
Westens hier lebt und einem fremden, wahrscheinlich feindseligen
Kontinent gegenübersteht.
In seiner langen aufgezeichneten Geschichte – die einige Tausend
Jahre zurückgeht, hat dieses Land – ob Kanaan, Palästina oder Eretz
Israel – viele Wellen von Invasoren gesehen, die sich hier
ansiedelten.
Die meisten dieser Wellen kamen vom Hinterland: die Kanaaniter, die
Aramäer, die Hebräer, die Araber und viele andere kamen vom Osten.
Sie siedelten hier, vermischten sich mit der vorhandenen
Bevölkerung und waren bald absorbiert und schufen so neue Mischungen
und gingen natürliche Beziehungen mit den benachbarten Ländern ein.
Sie kämpften Kriege, machten Frieden, prosperierten und litten in
Zeiten der Trockenheit.
Die alten israelitischen Königreiche (nicht die mythischen von Saul,
David und Salomo, sondern das wirkliche von Ahab und seinen
Nachfolgern) wurden ein natürlicher Teil seiner Umgebung, wie es von
zeitgenössischen assyrischen und andern Dokumenten bezeugt/
bestätigt wird.
So waren die arabischen Eindringlinge im 7. Jahrhundert. Sie
siedelten sich unter den Einheimischen an. Diese konvertierten sehr
langsam vom Judentum und Christentum zum Islam, nahmen die arabische
Sprache an und wurden „Araber“, so wie die Kanaaniter vor ihnen
„Israeliten“ wurden.
GANZ ANDERS war der Weg jener Invasoren, die aus dem Westen kamen.
Das waren vor allem drei Wellen: Die Philister in der Antike, die
Kreuzfahrer im Mittelalter und die Zionisten in der modernen Zeit.
Indem sie vom Westen kommen (oder sogar übers Land wie die ersten
Kreuzfahrer), sehen die Invasoren einen weiten feindlichen Kontinent
vor sich. Sie bleiben im Küstengebiet hängen , errichten dort einen
Brückenkopf und schreiten landeinwärts, um ihn zu vergrößern.
Bezeichnenderweise setzt keiner der westlichen Invasoren jemals
Grenzen fest – sie marschierten landeinwärts oder zogen sich zurück,
wie es ihre Kräfte und die Umstände erlaubten.
Dieses historische Bild passt natürlich nur für jene Invasoren, die
kamen und im Lande siedelten. Es betrifft nicht die Imperien, die
einfielen, um nur das Gebiet zu kontrollieren. Diese kamen aus
allen Richtungen und bewegten sich weiter – Hetiter, Ägypter und
Babylonier, Perser und Griechen, Römer und Byzantiner, Araber und
Mongolen, Türken und Engländer. (Die Mongolen kamen hierher,
nachdem sie den Irak zerstört hatten, und wurden vom muslimischen
General Bybars (dem Nachkommen Saladins in einer der
entscheidendsten Schlachten der Geschichte geschlagen.)
Östliche Mächte zogen gewöhnlich weiter durch Ägypten in den Westen
und machten Nordafrika zu einer semitischen Zone. Westliche Reiche
wanderten weiter gen Osten nach Indien.
Tutmosis, Cyros, Alexander, Caesar, Napoleon und viele andere kamen
vorbei und hinterließen - außer ein paar Ruinen - keine dauerhaften
Spuren zurück.
WIE IHRE Vorgänger, die aus dem Westen kamen, hatten die Zionisten
von Anfang an eine Brückenbau-Mentalität und haben dies bis heute.
Tatsächlich hatten sie diese sogar schon, bevor die zionistische
Bewegung offiziell gegründet wurde. In seinem kanonischen Buch „Der
Judenstaat“ schrieb Theodor Herzl, der Visionär – sein Foto hängt im
Knesset-Plenum – dass der zukünftige jüdische Staat ein Stück des
„Walles gegen Asien“ bilden werde. Er würde den „Vorpostendienst der
Kultur gegen die Barbarei“ besorgen.
Nicht nur Kultur, sondern DIE KULTUR. Und nicht nur Barbarei,
sondern Die BARBAREI. Ein Leser der Zeit um 1890 brauchte keine
Erklärung. Kultur war weiß und europäisch – Barbarei war alles
andere, ob braun, rot, schwarz oder gelb.
Im heutigen Israel, fünf Generationen später, hat sich die
Mentalität nicht verändert. Ehud Barak prägte den Satz, der diese
Mentalität mehr als jeder andere Satz reflektiert: „ Wir sind eine
Villa im Dschungel.“
Die Villa: die Kultur, die Zivilisation, die Ordnung, der Westen,
Europa. Der Dschungel: Barbarei, die arabisch-muslimische Welt, die
uns umgibt, ein Ort voll wilder Tiere, wo jeden Augenblick etwas
passieren kann.
Diese Phrase wird endlos wiederholt und praktisch von jedem
akzeptiert. Politiker und Armeeoffiziere ersetzen dies mit
„Nachbarschaft“ („Shehuna“). Tägliche Beispiele: „In der
Nachbarschaft, in der wir leben, können wir uns nicht einen
Augenblick entspannen“. Oder: „In der Nachbarschaft, in der wir
leben, benötigen wir die Atombombe“.
Moshe Dayan, der eine poetische Ader hatte, sagte vor
zwei Generationen in der wichtigsten Rede seines Lebens: „Wir sind
eine Generation von Siedlern, und ohne Stahlhelm und Kanone können
wir keinen Baum pflanzen noch ein Haus bauen … dies ist das
Schicksal unserer Generation, die Entscheidung unseres Lebens –
vorbereitet und bewaffnet zu sein und stark und zäh oder anders
ausgedrückt: denn sonst fällt uns das Schwert aus unserer Faust und
unser Leben wird ausgelöscht“. In einer anderem Rede - ein paar
Jahre später - sagte Dayan es deutlicher, dass er nicht nur eine
Generation meint – sondern alle, die noch kommen – die typische
Brückenkopfmentalität, die keine Grenzen kennt, weder räumlich noch
zeitlich.
( Nur gerade eine persönliche Bemerkung: vor 65
Jahren , ein Jahr vor der Gründung Israels, veröffentlichte ich ein
Broschüre, die mit folgenden Worten begann: „Als unsere
zionistischen Väter entschieden, ein nationales Heim in diesem
Lande aufzubauen, hatten sie die Wahl zwischen zwei Richtungen: Sie
konnten als Brückenkopf der „weißen Rasse“ kommen und die Herren
der „Eingeborenen“ werden oder Erben der semitischen, politischen
und kulturellen Tradition sein und den Befreiungskrieg der
semitischen Völker gegen die europäische Ausbeutung führen…“)
Der Unterschied zwischen „ Meer bis zum Fluss“ und
„Fluss bis zum Meer“ ist nicht nur politisch und schon gar nicht
oberflächlich. Er geht direkt an die Wurzeln des Konflikts.
ZURÜCK ZU Meshal. Seine Rede war eine Wiederholung
der extremsten palästinensischen Linie. Dieselben Worte hätten vor
70 Jahren vom damaligen Führer Haj Amin Al-Husseini, dem Großmufti
von Jerusalem, ausgesprochen werden können. Es ist die Linie, die
in die Hände der Zionisten spielte und das palästinensische Volk in
die Katastrophe führte, in unseliges Leiden und in seine
gegenwärtige Situation.
Zum Teil muss der arabischen Sprache die Schuld
gegeben werden. Es ist eine wunderschöne Sprache, die ihren Redner
leicht berauschen kann. Die moderne arabische Geschichte ist voll
wunderbarer Redner, die von ihren eigenen Worten so berauscht waren,
dass sie leicht den Kontakt zur Realität verloren.
Ich erinnere mich an eine Gelegenheit, als der
ägyptische Präsident Gamal Abdel-Nasser, ein hervorragender Redner
und Idol der arabischen Massen, eine sensible Rede über ägyptische
Angelegenheiten hielt, als jemand aus der Menge schrie :“Palästina,
oh Gamal!“
Nasser vergaß, worüber er redete, und begann eine
leidenschaftliche Darlegung über die palästinensische Sache,
steigerte sich immer mehr hinein, bis er offensichtlich in einem
trance-artigen Zustand war. Es war die Geistesverfassung, die ihn
1967 in die israelische Falle führte. (Die israelischen Politiker
sind seit Menachem Begin zum Glück sehr schlechte Redner, da sie
schlechtes Hebräisch reden.)
Man könnte natürlich sagen, dass Meshals Rede vor den
Massen in Gaza nur gerade der Versuch eines Politikers war,
Popularität zu gewinnen und die nicht wirklich zählte – was zählt,
ist, was er hinter den Kulissen in Ägypten und Gaza adoptierte. Das
könnte vernünftig klingen – ist es aber nicht.
Als erstes, weil Reden den Sprecher beeinflussen. Es
ist sehr schwierig für ihn, sich selbst aus der verbalen Falle zu
ziehen, die er sich selbst gestellt hat, auch wenn arabische Zuhörer
gelernt haben, solche Reden nicht für bare Münze zu nehmen.
Zweitens, weil extreme arabische Reden in den Händen
israelischer Extremisten sofort zu Munition werden . Sie verstärken
die allgemeine Behauptung, wie z.B. Ehud Baraks Wort, dass „wir
keine Partner für Frieden haben.“ Meshals Spiegelbild Avigdor
Lieberman hat diese Rede als Hauptwaffe benützt, um die europäische
Verurteilung von Netanyahus neuem destruktivem Siedlungsprojekt
zurückzuschlagen.
IN WIRKLICHKEIT ist Meshal jetzt mehr denn je für
Kompromisse bereit (wie auch Nasser, als er die erwähnte Rede
hielt). Er hat erklärt, dass er, wenn auch noch nicht selbst zum
Frieden machen mit Israel bereit, er einen Frieden akzeptieren
würde, der von Mahmoud Abbas unterzeichnet und in einem
palästinensischen Referendum ratifiziert würde. Er deutete auch an,
dass solch ein Frieden sich auf die Grenzen von 1967 gründen solle,
Er sagte auch, dass Abbas für eine „vereinbarte“ Lösung für das
Flüchtlingsproblem bereit ist – im Einverständnis mit Israel. Dies
bedeutet, dass nur einer symbolischen Anzahl erlaubt wird, auf
israelisches Territorium zurückzukehren.
Beunruhigend ist, dass Meshal in seiner aufregenden
Rede das Gegenteil sagte und noch Schlimmeres. Das tat auch Nasser –
das brachte ihm den Tod. Am Anfang tat dies auch Yasser Arafat, bis
er die Torheit dieser Methode einsah. Ich denke, Khaled Meshal wird
dies
zu gegebener Zeit auch einsehen.
Es gibt keine Flucht vor der einfachen Wahrheit, dass
es zwei Staaten zwischen dem Fluss und dem Meer geben wird - als
auch zwischen dem Meer und dem Fluss.
Es sei denn, dass wir das ganze Land wünschen - vom
Meer bis zum Fluss, vom Fluss bis zum Meer – das dann zu einem
großen Friedhof würde.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs,
vom Verfasser autorisiert)
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