Die orangefarbenen Hemden
marschieren
Uri Avnery, 23.7.05
Seit einigen Wochen flackert bei
mir ein rotes Licht auf, das ein Wort in großen gotischen
Buchstaben beleuchtet: Weimar.
Als Neunjähriger wurde ich
Augenzeuge des Zusammenbruchs der deutschen Republik, die nach
dem 1.Weltkrieg entstanden war. Sie wurde allgemein als Weimarer
Republik bezeichnet, weil ihre Verfassung in der Stadt der
beiden herausragenden Gestalten deutscher Kultur, Goethe und
Schiller, geschrieben wurde. Einige Monate nach dem
Zusammenbruch flohen wir aus Deutschland – und so wurde unser
Leben gerettet.
Seitdem hat sich alles, was ich
mit dem Zusammenbruch der Republik gesehen und gehört habe, in
mein Gedächtnis eingeprägt. Ich habe Hunderte von Büchern über
dieses Geschehen gelesen. Die große Frage, die mich seitdem
verfolgt hat und die bis heute unbeantwortet geblieben ist,
lautet: Wie konnte so etwas geschehen? Wie konnte eine
Verbrecherbande mit einer unmenschlichen Ideologie sich eines
Staates bemächtigen, dessen Nation zu dieser Zeit vielleicht den
höchsten kulturellen Stand in der Welt hatte?
Am Vorabend des
Eichmannprozesses, 1961, schrieb ich ein Buch darüber und
beendete es mit der Frage: Kann dies hier geschehen?
Heute gibt es nur eine
schreckliche Antwort: Ja, es kann hier geschehen. Wenn wir uns
wie die Menschen der Weimarer Republik benehmen, dann werden
wir dasselbe Schicksal erleiden wie die Menschen der Weimarer
Republik.
In der Vergangenheit habe ich
oft gezögert, den Vergleich zu ziehen. Bei uns gibt es ein Tabu,
was Nazi-Deutschland betrifft. Da nichts in der Welt mit dem
Holocaust verglichen werden kann, sollten keine Vergleiche mit
dem Deutschland der damaligen Zeit gezogen werden.
Nur selten war dieses Tabu
gebrochen worden. David Ben-Gurion nannte Menachim Begin „einen
Schüler Hitlers“. Begin seinerseits hat Yassir Arafat „den
arabischen Hitler“ genannt, und vorher noch wurde Gamal
Abd-el-Nasser in Israel als der „Hitler am Nil“ bezeichnet.
Professor Yeshayahu Leibowitz - in seiner üblichen
provozierenden Art - sprach von „Judeo-Nazis“ und verglich
Spezial-Einheiten der israelischen Armee mit der SS. Aber dies
waren Ausnahmen. Im allgemeinen wurde das Tabu beachtet.
Heute nicht mehr. In ihrem Kampf
gegen die „verfaulte“ israelische Demokratie, haben die Siedler
Holocaustsymbole übernommen. Sie tragen ostentativ den Gelben
Stern, den Juden vor der Vernichtung auf Befehl der Nazis
tragen mussten. Jetzt wurde aus gelb, orange. Sie schreiben sich
ihre Identitätsnummern auf ihre Arme, ähnlich den tätowierten
Zahlen, mit denen die Nazis die Auschwitzgefangenen
brandmarkten. Sie nennen die Regierung den „Judenrat“ – es ist
der Name, den man den - von Nazis bestimmten - jüdischen Räten
in den Gettos gab - und vergleicht die Evakuierung der Siedler
von Gush Kativ mit der Deportation der Juden in die Todeslager.
Und all dies kann live im Fernsehen gesehen werden.
Wenn es so ist, gibt es keinen
Grund mehr, die Sache nicht beim richtigen Namen zu nennen: ein
großes faschistisches Lager bedroht nun die israelische
Demokratie.
Was in der vergangenen Woche in
Israel geschah, ist nicht mehr ein legitimer „Protest“, auch
kein demokratisches Bemühen, die öffentliche Meinung zu
beeinflussen, um die Entscheidungen der Regierung und der
Knesset zu ändern. Es ist auch keine Kampagne des zivilen
Ungehorsams einer Minorität, die mit Gewalt versucht, die
Entscheidungen der Mehrheit umzukehren.
Es ist weit mehr: es ist der
Anfang eines Versuches, das demokratische System selbst mit
Gewalt zum Kippen zu bringen.
Es ist der harte Kern der
Siedler, der praktisch von allen Siedlern als ihre Führung
akzeptiert wird, und der sich gegen die israelische Demokratie
wendet. In der vergangenen Woche sahen wir Zehntausende von
ihnen. Wir kommen nun nicht um die Erkenntnis herum, dass dies
eine revolutionäre Bewegung mit einer revolutionären Ideologie
ist, die revolutionäre Mittel anwendet.
Was ist das für eine Ideologie?
Sie wurde laut und deutlich und immer wieder vom Hauptsprecher
der Bewegung proklamiert: Gott gab uns dieses Land. Das ganze
Land und seine Früchte gehören uns. Jeder, der nur einen
Quadratmeter Land an Fremde gibt, (gemeint sind die seit vielen
Generationen hier lebenden Araber) verletzt die Gebote der
Torah. Die Torah ist rechtsverbindlich. Alle
Regierungsentscheidungen, Knessetgesetze und Gerichtsurteile
sind null und nichtig, wenn sie Gottes Wort widersprechen, das
uns von den Rabbinern übermittelt wird. Diese stehen über den
Ministern, den Knessetmitgliedern, den Richtern des Obersten
Gerichtshofs und den Armeekommandeuren - wie in Khomeinis
fundamentalistischem Iran.
Ein großer Teil dieses Lagers
bekennt sich offen zu den Lehren des ermordeten Faschisten Meir
Kahane, dessen Gesicht überall bei marschierenden Siedlern auf
deren Hemden, Flaggen und Postern abgebildet war. Kahane
predigte öffentlich, was viele der Siedler und vielleicht die
meisten von ihnen privat sagen: Gott hat uns nicht nur dieses
Land versprochen, sondern uns auch (im Buch Josua) befohlen,
alle nicht-jüdischen Bewohner zu vernichten. Es gibt hier keinen
Platz für sie. Wenn sie nicht mit Terror zum Verlassen gebracht
werden können („freiwilliger Transfer“), müssen sie vernichtet
werden. Mit den Worten von einem der Rabbiner im Fernsehen
dieser Woche: Wenn sie nicht gehen, dann müssen sie „den Preis
zahlen“. Dies schließt natürlich auch die 1,25 Millionen
arabischen Bürger von Israel selbst ein.
Einer der Führer des Marsches,
Zviki Bar-Hai, erklärte im Fernsehen: „In diesem Kampf geht es
um die Prägung des Staates.“
99% der vielen Tausenden, die
wir im Fernsehen dieser Woche sahen , trugen eine Kippa. Viele
von ihnen trugen Bärte und Schläfenlocken; die Frauen trugen
lange Röcke und ihr Haar bedeckt. Alle gehören zum
„national-religiösen“ Lager – einer
nationalistisch-messianischen Sekte, die glaubt, den Weg für die
„Erlösung“ vorzubereiten. Man muss es klar erkennen: In Israel
hat die jüdische Religion eine Wandlung durchgemacht, die ihr
Wesen völlig verändert hat.
Es gibt noch keine
wissenschaftlich allgemein anerkannte Definition über
„Faschismus“. Ich definiere ihn mit den folgenden Attributen:
der Glaube an ein überlegenes Volk ( ein Herrenvolk, ein
auserwähltes Volk, eine überlegene Rasse); komplettes Fehlen
moralischer Verpflichtungen gegenüber anderen; eine totalitäre
Ideologie; die Verleugnung des Individuums, außer dass es ein
Teil der Nation sei; Verachtung für Demokratie und eine
Gewaltkultur. Nach diesen Attributen ist ein großer Teil der
Siedler Faschisten.
Über
die Weimarer Republik war gesagt worden, dass sie nicht von den
„Braunhemden“ gestürzt worden, sondern dass sie in sich selbst
zusammengebrochen sei, weil im entscheidenden Augenblick fast
keiner bereit war, aufzustehen und sie zu verteidigen.
In der vergangenen Woche
marschierten Tausende von „Orangehemden“ in Richtung Gush Kativ,
wie ein fernes Echo des „Marsches nach Rom (1920) durch Benito
Mussolinis „Schwarzhemden“, die die italienische Demokratie
stürzte. Etwa 20 000 Soldaten und Polizisten waren mobilisiert
worden, um sie zu stoppen. Oberflächlich betrachtet, hat die
Armee und die Polizei gesiegt, da die Orangehemden den
Gazastreifen nicht erreichten. Aber drei Tage lang bewiesen die
Rebellen unter brennender Sonne, dass sie entschlossen,
vereinigt und diszipliniert sind.
Es gab eine Kakophonie an
Stimmen. Siedler und Siedlerinnen schrieen , ihre
gehirngewaschenen Kinder kreischten, die auf den Armen ihrer
Mütter getragenen schwitzenden Babys mit roten Gesichtern
weinten, die Führer hielten Reden, die Armee- und
Polizeioffiziere bellten ihre Befehle. Nur eine Stimme war nicht
vorhanden: die Stimme der israelischen Öffentlichkeit.
Während dieser drei
schicksalhaften Tage erhob keiner der intellektuellen Führer,
kein Schriftsteller wie S.Yishar, Amos Oz, A.B. Yeshohua und
David Grossman, kein bedeutender Professor, kein Dichter oder
Künstler seine Stimme gegen die Siedler und ihre Verbündeten.
Alle Persönlichkeiten, die in der Vergangenheit in die Falle der
„Versöhnung“ mit den Siedlern und den „kulturellen Pakt“ mit
der extrem religiösen Rechte gefallen waren, wagten nicht,
sich zu befreien und auf die große Gefahr hinzuweisen, in der
der demokratische Staat sich jetzt befand. Eine ihre
Entschuldigungen war, dass sie nicht als Unterstützer Ariel
Sharons gesehen werden wollten. Keine großen öffentlichen
Organisationen – von der Rechtsanwaltskammer, der Handelskammer
bis zum Journalistenverband und den akademischen Körperschaften
– fand es für nötig, die Stimme zu erheben, um die Demokratie
zu verteidigen, während die orangefarbenen Militanten alle
Fernsehkanäle überfluteten, die nicht einmal versuchten, andere
Ansichten zu präsentieren. Die Stille der Schafe. Das
Stillschweigen von Weimar.
Ich hoffe, dass sich dies ändern
wird, wenn die Konfrontation sich dem Höhepunkt nähert. Ich
hoffe, dass die israelische Demokratie in sich die verborgene
Stärke findet, die in Weimar tragischerweise nicht vorhanden
war. Das wird jedoch nicht geschehen, wenn nicht mutige Leute
die Trompete laut ertönen lassen und die schweigende Mehrheit
nicht ihr Schweigen aufgibt und ihren Standpunkt laut mit
Stimme und Farben demonstriert.
Sonst wird der „Marsch nach Gush
Kativ“ nur der Vorgeschmack für den „Marsch nach Jerusalem“
sein.
(Aus dem
Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
|