Tommys Großmutter
Uri Avnery, 29.5.04
Zuweilen gelingt es jemandem, „seine Welt in
einem Augenblick zu gewinnen“, wie es in einer alten hebräischen
Redensart heißt. Dies geschah dem Justizminister Josef („Tommy“)
Lapid, als er folgende Worte äußerte: „Diese alte Frau erinnert mich
an meine Großmutter!“
Diese alte Frau, eine Bewohnerin des
Flüchtlingslagers Rafah, deren Haus von der israelischen Armee
zerstört wurde, wurde durch ein Foto verewigt, als sie in
verzweifelter Suche nach ihren Medikamenten die Ruinen ihres Hauses
durchwühlte. Auch zwei Tage später noch fanden zwei Journalisten sie
an derselben Stelle, um unter dem Schutt nach ihren Medikamenten zu
suchen.
Tommys Großmutter kam im Holocaust um. Er selbst
wurde in einem ungarischen Landstrich im Norden Jugoslawiens geboren
und überlebte den Holocaust im Budapester Ghetto. Als er „meine
Großmutter“ erwähnte, war es ganz klar, dass er ein Opfer des
Holocaust meinte.
Dieser Satz verursachte einen Sturm. Es mag sehr
wohl sein, dass es der Strohhalm war, der den Rücken des Kamels
brach *) und die Regierung dahin führte, mit der andauernden
Gräueltat in Rafah sofort aufzuhören.
Natürlich war die Lage dafür reif. Die Bilder des
Tötens und der Zerstörung in der armen Stadt füllten die
Fernsehberichte und Zeitungsseiten in aller Welt. Die
Al-Jazeera-Fernsehstation zeigte sie stündlich mehrmals
Zehnmillionen in der arabischen Welt. Auch in der westlichen Welt
waren die Fernsehschirme voll davon. Die so konzentrierte
Auswirkung war erschreckend – die israelische Armee wurde wie eine
unmenschliche Maschine gezeigt, die das Leben von Hunderten
Familien gedankenlos zerstört.
Das Bild eines kleinen Jungen, der einen großen
Koffer schleppte, um ein wenig vom Hab und Gut seiner Familie zu
retten, sagt mehr als tausend Worte eines offiziellen Armeelügners.
Der Panzer, der fotografierte wurde, als er auf
unbewaffnete Demonstranten schoss, die marschierten und im Takt in
die Hände klatschten, brachte das Fass zum Überlaufen. Die Vorwände
und Erklärungen der offiziellen Propagandasöldner machten die Sache
nur noch schlimmer. Man spürte direkt, wie die Welt erschauderte.
Aber die militärische und politische Führung war
von ihren Taten wie berauscht. Sie verkündete, dass die Operation
in noch größerem Ausmaße fortgeführt werde. Die Militärkräfte, die
sich auf eine Armeedivision verstärkt hatten, wurden
zusammengezogen, um Rafah den Gnadenstoß zu geben. Wie Lapid selbst
bezeugt, war es die Absicht, 3000 Häuser zu zerstören.
Es scheint, als ob die Amerikaner hinter der
Szene aktiv gewesen seien. George Bush hat genug Scherereien im
Irak. Seine Politik ist im Begriff zusammenzubrechen. Die Bilder von
Rafah schwärzten das Image der Amerikaner, Sharons Freunde und
Partner, in den Augen der Irakis noch mehr, deren Herzen für die
Palästinenser schlagen.
Es war das erste Mal, dass die Vertreter der USA
bei einer Israel kritisierenden Resolution des UN-Sicherheitsrates -
wenn auch eine lächerlich sanfte – sich eines Vetos enthielten.
Zweifellos wurde Sharon bei Telefongesprächen in einfachem
Amerikanisch viel barscher zurückgepfiffen.
Auch innerhalb Israels gewannen die Gegner der
Operation an Schwung. Tag um Tag waren die radikalen
Friedensorganisationen ( beinahe nur sie) in den Städten mit der
Polizei konfrontiert und durchbrachen sogar einmal eine
Straßensperre an der Grenze zum Gazastreifen. Die israelischen
Medien konnten diese Demonstrationen nicht mehr ignorieren, und
widerwillig widmeten sie ihnen einige Sekunden. (Al-Jazeera zeigte
sie zehn Minuten lang und wiederholte sie immer wieder.)
Bei der Führung des Landes nahm die Überzeugung
immer mehr zu, dass die Militäroperation ein ziemlich großer Fehler
war. Außer den Rachedurst zu befriedigen, war kein echtes Ziel
erreicht worden. Einige Tunnel waren tatsächlich entdeckt worden (
zwei nach der einen Version, vier nach einer anderen) – aber dafür
hätten ein paar Kompanien gereicht. Die „gesuchten“ Männer
verschwanden aus dem Gebiet, als sie die Vorbereitungen für die
riesige Operation sahen. Die Division brachte Tod und Zerstörung,
ohne irgend etwas zu erreichen.
In dieser Situation brach Lapids Äußerung den
Damm. Die Aktion wurde mittendrin abgebrochen.
Wie man erwarten konnte, griffen die Rechten
Lapid heftig an. Wie konnte er es wagen, das Gedenken an die
Holocaustopfer zu schänden? Wie kann man nur solch einen Vergleich
machen? Das ist eine gemeine Manipulation von Lapid auf Grund der
Tatsache, dass er ein Holocaustüberlebender ist! ( In Israel ist es
üblich, dass nur die Rechten das Recht haben, vor einem 2. Holocaust
zu warnen, Arafat mit Hitler zu vergleichen und die Palästinenser
mit den Nazis)
Lapid verteidigte sich verzweifelt. Er hatte
nicht die Absicht zu vergleichen. Gott bewahre! Er hat den Holocaust
überhaupt nicht erwähnt. Übrigens hätte seine andere Großmutter den
Holocaust überlebt.
Warum hat er dann diese Worte an erster Stelle
ausgesprochen? Zyniker fanden viele Erklärungen:
Lapid sei ein meisterhafter Demagoge. Seit Jahren
ist er in Fernsehtalkshows aufgetreten und wurde für seine
ausfallenden Angriffe gegen Linke, Araber, orthodoxe Juden,
orientalische Juden und arme Leute berüchtigt. Man erinnert sich
z.B. an eine arbeitslose blonde Frau, die bei seiner Talkshow
erschien, und die über ihre elende Situation klagte. Lapid
unterbrach sie grob: „ Und woher nehmen Sie das Geld, um sich Ihre
Haare zu färben?“
Nach den Zynikern fühlt Lapid, dass der Wind im
Begriff ist, sich zu drehen und er sich diesem angleichen sollte.
Er möchte beweisen, dass er nicht Sharons Pudel ist, wie viele
glauben. Er möchte seine Verantwortung für die von der
Sharonregierung begangenen Gräueltaten abschütteln.
Das mag alles wahr sein, aber ich denke, dass
dieser Satz über die Großmutter ihm in einem Augenblick wirklicher
Erschütterung „herausrutschte“ - ohne irgend eine Berechnung. Unter
all den verschiedenen Schichten von Lapids Persönlichkeit berührte
die Frau aus Rafah die tiefste von ihnen. Unter dem Politiker und
dem Fernsehunterhalter gibt es das Kind des Holocaust - und dieses
war es, das in diesem Augenblick durchbrach.
Es gibt Momente im Leben eines Menschen, in denen
seine verborgenste Qualität zum Vorschein kommt, die frei ist von
Interessen und Berechnungen. Ich glaube, dass dies in diesem
Augenblick geschah.
Die Auswirkungen des Holocaust auf den Charakter
der Überlebenden, ihrer Kinder und Kindeskinder, ist ein komplexes
Phänomen. Der Direktor eines Gymnasiums gab mir einmal Aufsätze, die
von seinen Schülern und Schülerinnen geschrieben worden waren,
nachdem sie eine Besuchsreise nach Auschwitz organisiert hatten. Die
Reaktionen enthielten zwei widersprüchliche Trends.
Die meisten Schüler schrieben etwa so: „Nachdem
ich gesehen habe, was die Nazis den Juden angetan haben, ist meine
Folgerung, dass die Verteidigung Israels und des jüdischen Volkes
das höchste Gebot und für dieses Ziel alles erlaubt ist.“
Der kleinere Teil der Schüler schrieb etwa
folgendes: „Nachdem ich gesehen habe, was die Nazis den Juden
angetan haben, ist meine Folgerung, dass der jüdische Staat
menschlicher als jeder andere sein und dass er ein Beispiel dafür
geben muss, wie man sich gegenüber Minderheiten verhalten soll,
damit so etwas nie wieder geschieht.“
Es scheint, dass im Herzen Tommy Lapids diese
beiden Reaktionen neben einander vorhanden sind.
In gewöhnlichen Zeiten zeigt sich die erstere in
seinem Verhalten. Aber es muss zu seinen Gunsten gesagt werden, dass
in einem Moment der Wahrheit, einem Moment tiefster Bewegung die
zweite die Oberhand bekommt.
„Tommys Großmutter“ ist in dieser Woche zu einem
Symbol geworden. Hoffen wir, dass es zu einem Wegweiser wird.
*) wer einmal
gesehen hat, mit welchen Mengen von Stroh ein Kamel beladen werden
kann, wird diese arabische Redensweise verstehen (Anmerkung der
Übersetzerin)
(Aus dem
Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
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