„Denn Ruhe ist Dreck!
Uri Avnery, 16.7.05
Wo also ist die
Waffenruhe?
Will Hamas und
der Islamische Jihad den Rückzug aus dem Gazastreifen
torpedieren?
Was ist mit
Mahmoud Abbas?
Gewöhnlich wird
eine Waffenruhe aus einem von drei Gründen erklärt.
Wenn die
eine Seite die andere unterworfen hat.
Wenn eine
dritte Partei sie den beiden Kriegsführenden auferlegt.
Wenn beide
Seiten erschöpft sind.
In unserm Fall
hat keine der beiden Seiten ihren Gegner überwunden. Die
israelische Armee hat nicht die weiße Flagge gezeigt – und die
Palästinenser auch nicht.
Die Waffenruhe
war auch nicht von einer dritten Partei auferlegt worden. Die
Amerikaner übten zwar schwachen Druck aus, und die Ägypter
versuchten, auch beachtet zu werden. Aber von außen gab es
keinen richtigen Druck.
Was wirklich
geschah, war, dass beide Seiten erschöpft waren. Der Kampf kam
zum Stillstand, zu einer Art Unentschieden . Und diese Situation
hätte auf immer so bleiben können – keinem zum Nutzen. Die
Palästinenser haben schwer gelitten, aber ihr Leiden hat sie
nicht zum Aufgeben gebracht. Die israelische Armee wusste nicht
mehr, wie sie auf die Mörsergranaten und Kassam-Raketen
reagieren sollte, die den Bewohnern der nahen israelischen Orte
auf die Nerven gingen und die sie nicht abwehren konnten, aber
(die für die Palästinenser) nicht für einen militärischen Sieg
ausreichten. Erschöpfung führte zur Waffenruhe.
Aber diese
Waffenruhe war von Anfang an zerbrechlich. Zum einen, weil es
kein Akt in gegenseitiger Abstimmung war, der offiziell von
beiden Parteien akzeptiert wurde. Er wurde nicht einmal
„Waffenruhe“ genannt, geschweige denn „Waffenstillstand“ (im
Arabischen Hudna). Er wurde nur „Ruhe“ genannt ( arabisch:
Tahidiya). Die Palästinensische Nationalbehörde kam mit den
bewaffneten palästinensischen Gruppierungen überein, sich
zurückzuhalten – und Sharon gab über Vermittler den Wink, auch
er werde sich zurückhalten.
Das ist für
eine Waffenruhe eine schwache Grundlage. Die stillschweigende
Übereinkunft definiert nicht genau, was jede Seite für die
„Ruhe“ tun würde. Da jede Seite sich das Recht vorbehält, zu
reagieren, wenn die andere Seite etwas tut, das ihrer Meinung
nach kontrovers zur Waffenruhe ist, und es keinen
Schiedsrichter oder einen Mechanismus der Schlichtung gibt,
kann die Situation jeden Augenblick. außer Kontrolle geraten.
Im Gazastreifen
hatte die israelische Armee tatsächlich mit dem „gezielten
Töten“ und den Überfällen aufgehört, verdoppelte aber ihre
aggressiven Kampagnen gegen die Palästinenser der Westbank. Der
Bau der Mauer, die Zehntausende palästinensische Familien auf
der Westbank in Elend und Armut bringt und die viele Dörfer
ihres Landes beraubt, wird mit Nachdruck fortgesetzt. In
Jerusalem ist die Mauer, die tief in das Leben der Palästinenser
einschneidet, kurz vor der Fertigstellung. Die Sicherheitskräfte
eröffnen das Feuer auf Palästinenser und israelische
Friedensaktivisten, die gewaltfrei gegen die Mauer
demonstrieren – dabei wurden einige verwundet und andere
getötet und viele verhaftet.
Gleichzeitig
operiert die israelische Armee überall in der Westbank.
Armee-Einheiten führen bei Tag und Nacht Überfälle und
Durchsuchungen aus, verhaften oder töten „gesuchte“ Personen.
Ist das eine
Verletzung der Waffenruhe? Überhaupt nicht, behaupten Sharons
Leute. Nach ihnen bezieht sich die Waffenruhe nur auf den
Gazastreifen. Die Palästinenser ihrerseits sehen darin noch
einen Versuch, die Westbank vom Gazastreifen zu trennen – eine
Bemühung, die in Sharons „Abzugs-bzw.Trennungsplan“
selbstverständlich mit gemeint ist. Natürlich sind die
Palästinenser mit aller Macht dagegen. In der Tat hat das
Oslo-Abkommen, das von der internationalen Gemeinschaft
unterzeichnet und anerkannt wurde, ausdrücklich die Westbank und
den Gazastreifen zur territorialen Einheit erklärt.
Wer verletzt
also die Waffenruhe? Da die stillschweigende Übereinkunft nicht
schriftlich dokumentiert und keine Einzelheiten genannt
wurden, kann es darauf keine Antwort geben. Jede Seite
behauptet, dass die anderen die Übertreter sind.
Warum verhalten
sich Hamas und der Islamische Jihad so, wie sie sich verhalten
Sie wollen
natürlich zeigen, dass Israels Rückzug vom Gazastreifen und die
Evakuierung der Siedlungen ihr Sieg ist, so wie der Rückzug aus
dem Libanon der Sieg der Hisbollah war. So wurde das Abschießen
von Mörsergranaten und Kassams in dem Augenblick intensiviert,
als Sharon in dieser Woche die Absperrung der Siedlungen
erklärte und so der bevorstehende Abzug praktisch zur
Gewissheit wird.
Die Behauptung
an sich ist nicht unbegründet. Schon ein Kind versteht, dass
sich Sharon nicht aus dem Gazastreifen zurückziehen würde, wenn
er sich dort wohl fühlen würde. Einer der Gründe für Sharons
Abzugsentscheidung war, dass es für die israelische Armee und
den Staatshaushalt zu teuer ist, den Gazastreifen zu halten und
die Siedlungen zu verteidigen.
Die arrogante
Prahlerei von Politikern und Generälen über den großen Erfolg
der israelischen Armee beim Niederschlagen des Terrors – als ob
die drastische Reduzierung der palästinensischen Angriffe nicht
die Folge der Waffenruhe gewesen wäre – provozierte die
palästinensischen Organisationen, das Gegenteil zu beweisen.
Aber das
Hauptproblem ist ein internes. Die Organisation will ihre
Erfolge auf dem Schlachtfeld in politische Münze umwandeln. Zu
diesem Zweck will sie beweisen, dass die Behörde einfach nicht
ohne sie funktionieren kann. Abgesehen davon, wird Hamas wie
üblich, vom extremeren Islamischen Jihad gedrängt ( wie der
jüdische Irgun in den 40er Jahren von der Sterngruppe).
Eine
Mörsergranate, die eine Israelin tötet, zielt in Wirklichkeit
auf Mahmoud Abbas.
Und was ist mit
Abbas los?
Keine Führung
kann funktionieren, wenn ihre Politik von bewaffneten
Gruppierungen behindert wird. Wenn Mahmoud Abbas internationale
Verpflichtungen übernimmt und bewaffnete Faktionen vor Ort sie
verletzen, ist es klar, dass keine palästinensische Führung eine
konsequente palästinensische Politik ausführen kann. Das ist für
das palästinensische Volk eine Katastrophe.
Es ist
zweifellos im palästinensischen Interesse, während des
israelischen Rückzugs Ruhe zu bewahren. Ungeachtet dessen, was
auf der Westbank geschieht und ungeachtet der inhärenten Fehler
des „Abzugsplanes“, wäre es für die Palästinenser sinnvoll,
Sharon den Abbau der Siedlungen durchführen und die
Gegenattacken der Siedler niederschlagen zu lassen – da die
Evakuierung von Gush Kativ allein schon ein wichtiger
Präzedenzfall wäre. Es liegt deshalb wirklich in Sharons
eigenem Interesse, den Rückzug von viel Chaos begleitet zu
sehen, was deutlich machen würde, wie unendlich schwierig er
ist, und die Siedler haben natürlich dasselbe Interesse.
Die Aktionen
von Hamas und Jihad spielen deshalb in die Hände der Siedler.
Dies beweist wieder einmal, dass es eine Art automatische
Kooperation zwischen national-religiösen Fundamentalisten auf
beiden Seiten gibt.
Ist Abbas stark
genug, Hamas und den Jihad zur Waffenruhe zu zwingen oder sie
davon zu überzeugen?
Wenigstens eine
Person hofft, dass die Antwort negativ ausfällt: Ariel Sharon.
Von dem
Augenblick an, als Abbas demokratisch gewählt worden war, hat
Sharon hartnäckig und schlau daran gearbeitet, ihn zu
eliminieren. Das ist seiner Ansicht nach wichtig, weil Bush
begonnen hat, auf den neuen palästinensischen Führer zuzugehen.
Die Stärkung von Abbas würde den Druck auf Sharon verstärken,
die Besatzung der Westbank zu beenden.
Deshalb
bedeutet für Sharon „Ruhe ist Dreck“ – nach den Worten einer
Hymne, die vor 80 Jahren von Vladimir Jabotinsky, dem Gründer
des Vorläufers der Likud-Partei, geschrieben wurde.
Das erklärt,
warum Sharon Abbas immer wieder in der Öffentlichkeit demütigt,
warum er ihm nicht die geringste politische Errungenschaft
gönnt, warum seine Sprecher täglich Abbas zum „Schwächling“
erklären, dass er „kein Führer“ sei, dass er „unfähig sei, die
terroristische Infrastruktur zu zerstören“.
Sharon hat
einmal Abbas als „gerupftes Hühnchen“ bezeichnet. Das ist eine
Prophezeiung, die sich selbst erfüllt hat. Wenn Abbas seinem
Volk keinerlei politischen Erfolg zeigen kann, keine
Erleichterung ihres elenden Lebens, keine Entlassung eines
wichtigen Gefangenen, keinen Baustopp der Mauer, die die
Menschen stranguliert – der Kredit, den er von seinem Volk
erhalten hatte, schwindet von Stunde zu Stunde mehr.
Ich hoffe, dass
die Waffenruhe hält – trotz allem. Ich vertraue dem gesunden
Menschenverstand der Palästinenser, die dem nationalen Interesse
Priorität geben. Ich glaube, dass sich nach dem Rückzug aus dem
Gazastreifen eine historische Möglichkeit für einen großen
Schritt auf das Ende der Besatzung und für einen dauerhaften
israelisch-palästinensischen Frieden ergeben kann.
Aber
wahrscheinlich wird genau jetzt irgendwo ein Siedler um eine
Mörsergranate beten, dass sie auf einen vollen israelischen
Kindergarten fällt und so dem Rückzug ein Ende setzt – weil auch
für die Siedler die Parole „Ruhe ist Dreck“ gilt
(Aus dem
Deutschen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert) |