TRANSLATE
Wessen Staat?
Uri Avnery, 25.Mai 2013
KANN EIN Gesetz lächerlich und gefährlich sein?
Natürlich. Man erlebe die gerade laufende Initiative
unserer Regierung mit, die ein Gesetz erlassen will, das den Staat
Israel zu einem „Nationalstaat des jüdischen Volkes“ erklären
würde.
Lächerlich 1. – weil, wer
oder was ist das „jüdische Volk“? Die Juden der Welt sind ein
gemischter Haufen. Ihre einzige offizielle Definition ist religiöser
Art. Selbst in Israel ist man nur dann ein Jude, wenn die Mutter
eine Jüdin war. Dies ist eine rein religiöse Definition. In der
jüdischen Religion zählt in diesem Fall der Vater nicht (Es wird
halb im Scherz gesagt, dass man nie ganz sicher ist, wer der Vater
ist.) Wenn ein Nichtjude sich dem jüdischen Volk anschließen möchte,
muss er- oder sie – in einer religiösen Zeremonie zum Judentum
konvertieren. Nach dem israelischen Gesetz hört man auf, ein Jude zu
sein, wenn man eine andere Religion annimmt. Das sind alles rein
religiöse Definitionen. Das hat nichts mit nationaler Zugehörigkeit
zu tun.
Lächerlich 2. Die Juden in
aller Welt gehören anderen Nationen an. Sie sind von unsern
Gesetzgebern nicht gefragt worden, ob sie einem Volk angehören
wollen, das vom Staat Israel vertreten wird. Sie werden automatisch
von einem fremden ausländischen Staat angenommen. In einer Weise,
die eine andere Art und Weise von Annexion ist.
Es ist aus verschiedenen Gründen gefährlich.
Zu allererst, weil es die Bürger Israels ausschließt, die keine
Juden sind – anderthalb Millionen muslimische und christliche Araber
und etwa 400 000 Immigranten aus der früheren Sowjetunion, denen es
erlaubt wurde, nach Israel zu kommen, weil sie irgendwie mit Juden
verwandt sind. Als vor kurzem der Armeestabschef anstelle von Blumen
kleine israelische Flaggen auf die Gräber gefallener Soldaten legte,
übersprang er das Grab von solch einem nicht-jüdischen Soldaten,
der sein Leben für Israel gab.
Die Möglichkeiten dieses Gesetzes sind sogar für die
Zukunft noch gefährlicher. Von da ist es nur noch ein kleiner
weiterer Schritt bis zu einem Gesetz, das automatisch allen Juden in
aller Welt die Staatsbürgerschaft verleiht; das würde die Zahl der
jüdischen Bürger von Groß-Israel verdreifachen und eine riesige
jüdische Mehrheit in einem Apartheidstaat zwischen dem Mittelmeer
und Jordan schaffen.
Von dort würde wieder nur ein kleiner Schritt alle
Nicht-Juden in Israel ihrer Staatsbürgerschaft berauben..
Der (jüdische) Himmel ist die Grenze.
DOCH Bei dieser Gelegenheit würde ich mich gern noch
mit einem anderen Aspekt befassen: dem Terminus „Nationalstaat“.
Der Nationalstaat ist eine Erfindung der letzten
Jahrhunderte. Wir neigen dazu, zu glauben, dass er die natürliche
Gestalt einer politischen Struktur ist, und dass er immer da gewesen
sei. Das ist ganz falsch. Sogar in der westlichen Kultur gingen ihm
mehrere andere Modelle voraus, wie z.B. feudale Staaten, dynastische
Staaten usw.
Neue soziale Formen werden geschaffen, wenn neue
wirtschaftliche, technologische und ideologische Entwicklungen es
erfordern. Eine Form, die möglich war, als der durchschnittliche
Europäer sich nie weiter als ein paar Kilometer von seinem
Geburtsort entfernte, wurde unmöglich, als Straßen und Eisenbahnen
die Bewegung von Menschen und Waren dramatisch veränderten. Neue
Technologien schufen immense industrielle Potentiale.
Damit Gesellschaften mit einander in Wettbewerb
treten können, mussten Strukturen geschaffen werden, die groß genug
waren, um einen großen Binnenmarkt aufrecht zu erhalten und eine
Militärmacht, die stark genug ist, sie zu verteidigen (und wenn
möglich, Land der Nachbarn an sich zu reißen.) Eine neue Ideologie,
Nationalismus genannt, festigte die neuen Staaten. Kleinere Völker
wurden unterworfen und in die neuen großen nationalen
Gesellschaften eingegliedert: Hokus-Pokus: der Nationalstaat.
Dieser Prozess brauchte ein oder zwei Jahrhunderte,
um allgemein zu werden. Zionismus war eine der letzten europäischen
Nationalbewegungen. Wie bei anderen Erscheinungen – wie dem
Kolonialismus und dem Imperialismus – war er ein Nachzügler. Als
Israel gegründet wurde, waren die europäischen Nationalstaaten schon
fast überholt.
DER 2. WELTKRIEG beschleunigte das Ende des
Nationalstaates aus praktischen Gründen. Riesige wirtschaftliche
Einheiten wie die USA und die Sowjetunion lassen Länder wie Spanien
und Italien, und sogar wie Deutschland und Frankreich zu klein
erscheinen, um mit ihnen in Wettbewerb zu treten. Der gemeinsame
europäische Markt entstand. Große wirtschaftliche Föderationen
ersetzten die alten Nationalstaaten.
Neue Technologien beschleunigten den Prozess. Die
Veränderung ging immer schneller voran. Während sich neue regionale
Strukturen bildeten, waren sie schon wieder überholt. Die
Globalisierung ist ein nicht rückgängig zu machender Prozess.
Keine Nation oder Kombination von Nationen kann die apokalyptischen
Probleme der Menschheit lösen.
Der Klimawandel ist ein globales Problem, das
dringend weltweite Zusammenarbeit benötigt. So ist es auch mit der
Gefahr durch nukleare Waffen, die womöglich bald auch von
gewalttätigen nicht-staatlichen Gruppen erworben werden. Ein in
Timbuktu aufgenommenes Foto kann im Nu in Kamchatka gesehen werden.
Ein Hacker in Australien kann ganze Industrien in Amerika lahm
legen. Blutige Diktatoren können vor den internationalen Gerichtshof
in Den Haag gebracht werden. Ein junger Amerikaner kann das Leben
von Leuten in Zimbabwe revolutionieren. Tödliche Seuchen können
innerhalb Stunden von Äthiopien in Schweden sein.
Praktisch ist die Welt jetzt eine Welt. Aber
das menschliche Bewusstsein ist viel, viel langsamer als die
Technologie. Während der Nationalstaat anachronistisch geworden ist,
lebt und tötet der Nationalismus noch immer.
WIE KANN die Kluft überbrückt werden? Die
Europäische Union ist ein lehrreiches Beispiel.
Am Ende des 2. Weltkrieges haben nachdenkliche Leute
erkannt, dass ein 3. Weltkrieg das Ende Europas bedeutet, wenn nicht
gar das Ende der Welt. Europa musste vereint werden, aber der
Nationalismus war ein Hindernis. Am Ende wurde ein von Charles de
Gaulle vorgeschlagener Kompromiss angenommen: die Nationalstaaten
würden bleiben, aber ein Teil wirklicher Macht würde an eine Art
Staatenbund übergehen.
Dies war sinnvoll. Der gemeinsame Markt wurde geboren
und ständig erweitert, eine gemeinsame Währung wurde angenommen. Und
jetzt droht ein wirtschaftliches Erdbeben, das ganze Gebäude
zusammenbrechen lassen.
Warum? Nicht wegen des Überschusses von
Konzentration, sondern wegen eines Mangels davon.
Ich bin kein Ökonom. Tatsächlich lehrte kein
berühmter Professor mich je Wirtschaftswissenschaft (oder was
anderes). Ich versuche nur mit gesundem Menschenverstand, dieses
Problem wie alle anderen zu begreifen.
Gesunder Menschenverstand sagte mir von Anfang an,
dass eine gemeinsame Währung nicht ohne eine gemeinsame ökonomische
Regierungsform bestehen kann. Es kann unmöglich funktionieren, wenn
jeder kleine „Nationalstaat“ innerhalb der Währungszone sein eigenes
Staatsbudget und seine eigene Wirtschaftspolitik hat.
Die Gründungsväter der USA standen demselben Problem
gegenüber und entschieden, einen Bundesstaat und keinen Staatenbund
– in andern Worten eine starke zentrale Regierung zu bilden. Dank
dieser weisen Entscheidung kann Illinois einspringen, wenn Nebraska
ein Problem hat. Die Wirtschaft aller 50 Staaten wird praktisch von
Washington DC gelenkt. Die gemeinsame Währung bedeutet nicht nur
dieselben Geldscheine, sondern auch dieselbe mächtige Zentralbank.
Jetzt sieht sich Europa demselben Problem gegenüber.
Es wird entweder auseinanderbrechen – eine unvorstellbare
Katastrophe - oder das De Gaulle‘sche Rezept verlassen.
Verschiedene Nationalstaaten - von Malta bis Schweden – müssen ein
großes Stück ihrer Unabhängigkeit und Souveränität aufgeben und
dies den verhassten Bürokraten in Brüssel abgeben. Ein Budget für
alle
Falls dies geschieht - ein großes „falls“ – was wird
vom Nationalstaat bleiben? Es wird nationale Fußballteams mit
allem nationalistischen und rassistischen Spektakel geben.
Frankreich kann weiter in Mali mit Einverständnis seiner
europäischen Hauptpartner einfallen. Die Griechen können weiter
stolz auf ihre alte Vergangenheit sein. Belgien wird sich weiter mit
seinen bi-nationalen Problemen herumschlagen. Aber der Nationalstaat
wird mehr oder weniger eine leere Hülse sein.
Ich sage voraus, wie ich es schon vorher tat, dass am
Ende dieses Jahrhunderts (wenn einige von uns nicht mehr sein
werden) es eine Art Weltregierung geben wird. Sie wird
wahrscheinlich mit einem andern Namen bezeichnet werden, aber die
größeren Probleme, denen sich die Menschheit gegenüber sieht, werden
von starken und wirksamen internationalen Körperschaften geregelt.
Es wird neue Probleme geben (wie immer): wie soll bei solch einer
globalen Struktur die Demokratie aufrecht erhalten werden, wie
sollen die menschlichen Werte aufrecht erhalten werden, wie kann
man aggressive Emotionen, die jetzt in Kriegen freigesetzt werden,
in harmlose Aktivitäten lenken?
Wie wird es dem Nationalstaat in dieser tapferen
neuen Welt gehen? Ich bin davon überzeugt, dass es ihn noch als
kulturelles und nostalgisches Phänomen mit gewissen lokalen
Funktionen geben wird, so wie die heutigen Gemeindeämter.
Wahrscheinlich wird es sogar mehr Nationalstaaten geben, wenn die
Staaten von den meisten ihrer Funktionen befreit sind. Sie werden
sich wohl in ihre verschiedenen Teile aufspalten. Die Bretonen und
Korsen, die vom Nationalismus gezwungen wurden, sich der größeren
Einheit, Frankreich genannt, anzuschließen, mögen sich wünschen,
innerhalb einer geeinten Welt in einem eigenen Staat zu leben.
VERLASSEN WIR das Reich wilder Spekulationen und
kehren wir zu unserer kleinen Welt zurück: Was ist es um den
Nationalstaat des jüdischen Volkes?
So lang wie die Welt aus Nationalstaaten besteht,
werden wir unsern eigenen haben. Und nach derselben Logik wird das
palästinensische Volk auch einen eigenen haben.
Unser Staat kann aber kein Nationalstaat einer nicht
bestehenden Nation sein. Israel muss und will der Nationalstaat der
israelischen Nation sein, der allen israelischen Bürgern gehört,
die in Israel leben, Araber und andere Nicht-Juden eingeschlossen –
und keinem andern sonst.
Israelische Juden, die eine enge Beziehung zu Juden
in aller Welt empfinden, und Juden in aller Welt, die eine enge
Beziehung zu Israel haben, können sicherlich ihre Beziehungen
vertiefen. Und so können arabische Bürger ihre Beziehungen zur
palästinensischen Nation und der arabischen Welt im Ganzen aufrecht
erhalten. Und die nicht-jüdischen Russen mit ihrem russischen Erbe.
Selbstverständlich. Aber das betrifft nicht den Staat als solchen.
Wenn eines Tages der Frieden zu diesem gequälten Teil
der Welt kommt, könnten die Staaten Israel und Palästina sich einer
regionalen Organisation anschließen, die sich vom Iran bis Marokko
erstreckt, nach dem Muster der EU.
Sie wollen ein Teil des Menschheitsmarsches in
Richtung einer funktionierenden modernen weltweiten Struktur sein,
die den Planeten rettet, Kriege zwischen Staaten und Gemeinden
verhindert und außerdem das Wohlbefinden der Menschen (ja auch der
Tiere) überall fördert.
Eine Utopie? Gewiss. Aber so würde die heutige
Realität für Napoleon ausgesehen haben.
(Aus dem
Englischen: Ellen Rohlfs; vom Verfasser …
|