Die Gladiatoren
Uri Avnery, 1.10.05
Der
Kampf zwischen Binyamin Netanyahu und Ariel Sharon im
Likudzentralkomitee glich einem Duell zweier Gladiatoren in der
römischen Arena. Um so mehr, als sich viele der Komiteemitglieder
wie der römische Mob benahmen, der schrie, randalierte und Blut
verlangte.
Bei
diesem Kampf glich Netanyahu dem Retiarius, einem Gladiator, der
nichts als eine kurze Tunika anhatte und der versuchte, seinen
Gegner mit einem in seiner Rechten haltenden Wurfnetz zu fangen und
falls ihm das gelingen würde, mit einem Dreizack, den er in der
Linken trug, zu erledigen. Sharon glich dem mit einem Schwert
bewaffneten Sekutor in voller Rüstung. Der erste hatte den Vorteil
der Beweglichkeit und Agilität, der andere bewegte sich
schwerfällig, war aber gut geschützt.
Es
gab für viele ein erleichtertes Aufatmen, als Netanyahu im letzten
Augenblick besiegt wurde – entgegen den Erwartungen und den
Meinungsumfragen. Seitdem sich Netanyahu selbst auf die äußerste
Rechte positioniert hatte, die Siedler unterstützte und gegen jeden
Abzug war, erschien Sharon wie der „Mann des Friedens“. Doch das ist
natürlich eine Illusion. Den Unterschied zwischen beiden – falls es
überhaupt einen gibt – kann man vergessen. Wenn Netanyahu
Ministerpräsident gewesen wäre, hätte er sich genau wie Sharon
verhalten – und Sharon würde sich in der Oppositon genau wie
Netanyahu verhalten haben.
Sharon macht nun friedensliebende und kriegerische Erklärungen – je
nachdem, an welches Publikum er sich wendet. Vor der
UN-Generalversammlung und vor den Amerikanern singt er ein Lob auf
den Frieden – aber dem Likud schwört er, keinen weiteren Zoll Land
aufzugeben. All diese Erklärungen sind „keine Knoblauchschale wert“,
um einen hebräischen Ausdruck zu benützen. Man sollte ihm kein Wort,
das er spricht, glauben – nur seine Handlungen zählen. Inzwischen
baut er den Trennungszaun weiter, erweitert die Siedlungen,
initiiert Provokationen, lässt bomben und verhaften.
Vordergründig hat deshalb nichts von dem, was sich im
Likudzentralkomitee ereignete, Einfluss auf Friedenschancen. Es
war nur ein Duell zwischen zwei Gladiatoren in der Arena – viel Lärm
um nichts. Das ist aber eine optische Täuschung.
Tatsächlich hat der Frieden einen großen Sieg in der Likud-Arena
gewonnen.
Das
hat nichts mit den persönlichen Absichten Sharons zu tun, sondern
nur mit der Substanz der Entscheidung.
Theoretisch stand keine ideologische Sache auf dem Spiel. Die
Komiteemitglieder stimmten offiziell nur über einen technischen
Punkt ab: ob die Vorwahlen für den Parteivorsitzenden schon im
nächsten Monat oder zu ihrer ordnungsgemäßen Zeit – in einem halben
Jahr - abgehalten werden sollen. Na, und ?
Aber was wirklich zur Debatte stand, war, ob man Sharon hinauswerfen
solle, weil er die Siedlungen aufgelöst und die Siedler aus dem
Gazastreifen evakuiert habe. Die Angriffe auf ihn waren auf diesen
Punkt konzentriert. Seine Gegner behaupteten, er habe die
Likudprinzipien verraten, der Likud sei gegen jedes Weggeben eines
Teils des „Vaterlandes“ an den „arabischen Feind“; die Evakuierung
jeder Siedlung sei ein Verbrechen. Das war es, worum es in dieser
Schlacht ging.
Die
Entscheidung war deshalb von historischer Bedeutung. Der Likud ist
die augenblickliche Inkarnation der revisionistischen Partei, die
vor etwa 80 Jahren unter dem Slogan gegründet wurde: „Der Jordan hat
zwei Ufer – das eine gehört uns und das andere auch.“ Allein der
Name reflektiert diese Behauptung. Der Gründer, Vladimir ( Zeev)
Jabotinsky, wollte die Entscheidung der britischen Regierung (
1920), die Trennung Transjordaniens ( das gegenwärtige Königreich
Jordanien) von Palästina, rückgängig machen. Das war die „Revision“,
für die er kämpfte.
Selbst wenn die Partei in ihren sukzessiven Inkarnationen praktisch
den Anspruch auf Transjordanien aufgegeben hat, bestand sie
nachdrücklich auf „ dem ganzen Land Israel“ zwischen Mittelmeer und
Jordan. Um dies zu erreichen, wurden in allen besetzten Gebieten
Siedlungen errichtet und die Existenz des palästinensischen Volkes
schlicht geleugnet und jeder Schritt, der in Richtung Frieden mit
diesem führte, zerstört.
Und
nun stimmte am Montag, dem 26. September 2005, das Zentralkomitee
dieser Partei für einen Führer, der 25 Siedlungen evakuierte und
zerstörte, der die israelische Armee dazu benützt hat, „Juden zu
vertreiben“ und der offiziell einen Teil vom „Land Israel“
aufgegeben hat. Seit diesem Tag ist der Likud nicht mehr das, was er
war.
Einige Leute haben diesen Sieg auf die leichte Schulter genommen,
weil er nur mit einer winzigen Mehrheit erreicht wurde – 52% gegen
48%. Aber das ist nicht so wichtig. Erstaunlich daran ist, dass
überhaupt Komiteemitglieder für den Mann stimmte, der dies getan
hat.
Es
wird gesagt, dass diese Entscheidung keine ideologische, sondern
eine jobologische gewesen sei. Die Komiteemitglieder hätten
gegen ihre eigene Überzeugung gestimmt, um den Likud an der Macht zu
halten, damit sie ihre Regierungsjobs behalten. Die
Meinungsumfragen hätten gezeigt, dass der Likud die Wahlen
verlieren würde, wenn Sharon hinausgeworfen worden wäre. Der Kopf
habe das Herz besiegt, die Machtgier sei stärker als die Ideologie
gewesen.
Wenn dem so wäre, wäre der Sieg sogar noch bedeutsamer. Die 3060
Mitglieder des Likud- Zentralkomitees kommen aus allen Teilen
Israels. Sie kommen aus allen Volksschichten, nicht nur aus der
„Elite“. Sie spüren die Stimmung der allgemeinen Öffentlichkeit.
Wenn sie zu dem Schluss gekommen waren, Loyalität gegenüber den
Siedlungen und Groß-Israel lasse sie die Wahlen verlieren, so war
das von weitreichender Bedeutung.
Vor
kurzem schrieb ich, „die Mitte hat gehalten“. Nun ist auch klar,
dass der rechte Flügel gegenüber Sharon loyal geblieben ist. Seine
Gegner, die Loyalisten von Groß-Israel, befinden sich in einem
Zustand des Zusammenbruchs. Nach ihrer Schlappe im Zentralkomitee
gehen sie auch bei den 100 000 Parteimitgliedern unter. Die
Stimmenzählung zeigte, dass eine große Mehrheit unter ihnen jetzt
Sharon unterstützt. Die Likudminister und Knessetmitglieder
verhalten sich wie Soldaten einer besiegten Armee nach dem Schrei:
„Rette sich wer kann!“
Damit ist der Kampf nicht zu Ende. Im Gegenteil, vor uns liegt ein
hartes Jahr. Sharon wird versuchen, alles einzufrieren , außer dem
Bau des Zaunes und der Erweiterung der Siedlungen. Der Vorwand dafür
wird sein, dass man auf die Ergebnisse der palästinensischen Wahlen
im Januar 2006 warten müsse, um zu wissen, „mit wem man es zu tun
habe“. Danach werden die israelischen Wahlen stattfinden,
wahrscheinlich im November 2006. Und „keiner kann von Sharon
erwarten, dass er vor den Wahlen unpopuläre Schritte unternehmen
wird“. Präsident Bush, der auch durch und durch ein Politiker ist,
wird ihn sicher verstehen. Der Entschluss alles einzufrieren, kann
neue Katastrophen auslösen.
Trotz alledem hat der lange Marsch in Richtung Frieden noch einen
Schritt getan. Einen kleinen, aber einen wichtigen Schritt.
Und
dass dies ausgerechnet im Likud-Zentralkomitee geschehen würde! Wer
hätte das je geglaubt?
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs,
vom Verfasser autorisiert) |