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Rot und grün
Uri Avnery, 28.August 2010
KANAL 10, einer von Israels drei Fernsehkanälen, strahlte in dieser
Woche einen Bericht aus, der sicherlich viele Leute in Schrecken
versetzte. Sein Titel war „Wer organisiert den weltweiten Hass gegen
die Israel-Bewegung?“ und sein Inhalt war: Dutzende von Gruppen
verschiedener Länder, die eine rigorose Propagandakampagne für die
Palästinenser und gegen Israel ausführen.
Die interviewten Aktivisten und Aktivistinnen, junge und alte – eine
große Anzahl von ihnen Juden – demonstrieren auf Supermärkten gegen
die Produkte der Siedlungen und/oder Israels im allgemeinen,
organisieren Massentreffs, halten Reden, mobilisieren
Gewerkschaften, erheben Klagen gegen israelische Politiker und
Generäle.
Nach dem Bericht benutzen verschiedene Gruppen ähnliche Methoden,
aber es gibt keine zentrale Führung. Er zitiert sogar (ohne Namen,
natürlich) die Überschrift von einem meiner letzten Artikel, „Die
Protokolle der Weisen von Anti-Zion“ und stellen, wie ich, fest, so
etwas gebe es nicht. Er besagte tatsächlich, es sei gar keine
weltweite Organisation nötig, weil überall spontane
pro-palästinensische und anti-israelische Gefühle auftauchen. Seit
kurzem, nach der „Cast Lead“-Operation und der Flotilla-Affäre, habe
sich der Prozess beschleunigt.
An vielen Orten – so enthüllt der Bericht – gebe es rot-grüne
Koalitionen: Kooperationen zwischen linken
Menschenrechtsorganisationen und örtlichen Gruppen muslimischer
Immigranten.
Die Schlussfolgerung der Geschichte: dies ist eine große Gefahr für
Israel, und wir müssen uns dagegen mobilisieren, bevor es zu spät
sei.
DIE ERSTE Frage, die sich mir stellte, war: welchen Einfluss wird
dieser Bericht auf den durchschnittlichen Israeli haben?
Ich wünschte, ich könnte sicher sein, dass er ihn oder sie
veranlasst, noch einmal über die Rentabilität der Besatzung
nachzudenken. Wie einer der interviewten Aktivisten in der Reportage
sagte: die Israelis müssen dahin gebracht werden, zu verstehen, dass
die Besatzung ihren Preis hat.
Ich würde gerne glauben wollen, dies würde die Reaktion der meisten
Israelis sein. Doch ich fürchte, dass die Wirkung ganz anders
ausfallen wird.
Wie das fröhlich klingende Lied aus den 70er-Jahren lautet: „Die
ganze Welt ist gegen uns/ Das ist nicht so schrecklich,/wir werden
damit fertig./ denn auch wir kümmern uns nicht um sie.// Wir haben
dieses Lied von unsern Vorvätern gelernt/ wir werden es auch unsern
Söhnen vorsingen/ Und die Enkel unserer Enkel werden es singen/ hier
im Lande Israel./ Und jeder, der gegen uns ist,/ kann zur Hölle
fahren .“
Dem Autor dieses Liedes Yoram Taharlev ( „Reines Herz“) ist es
gelungen, eine grundsätzlich jüdische Überzeugung zum Ausdruck zu
bringen, die sich im Laufe von Jahrhunderten der Verfolgung im
christlichen Europa mit dem Höhepunkt des Holocaust
herauskristallisierte. Jedes jüdische Kind lernt in der Schule,
dass, als sechs Millionen Juden ermordet wurden, die ganze Welt
zuschaute und keinen Finger rührte, um sie zu retten.
Dies stimmt nicht ganz. Zehntausende von Nichtjuden riskierten ihr
Leben und das ihrer Familien, um Juden zu retten – in Polen,
Dänemark, Frankreich, Holland und anderen Ländern, sogar in
Deutschland selbst. Wir alle kennen Leute, die auf diese Weise
gerettet wurden: vom früheren Präsidenten des Obersten Gerichts
Aharon Barak, der als Kind von einem polnischen Bauern aus dem
Ghetto geschmuggelt wurde, bis zum Minister Yossi Peled, der
jahrelang von einer katholisch-belgischen Familie versteckt worden
war. Nur wenige dieser meist unbesungenen Helden wurden als
„Gerechte der Völker“ von Yad Vashem zitiert. ( Unter uns gesagt:
Wie viele Israelis würden in ähnlicher Situation ihr Leben und das
ihrer Kinder riskieren, um einen Ausländer zu retten?)
Aber die Überzeugung, dass „die ganze Welt gegen uns ist“, ist tief
in unserer nationalen Psyche
verwurzelt. Es versetzt uns in die Lage, die Reaktion der Welt auf
unser Verhalten zu ignorieren. Es ist sehr praktisch. Wenn uns doch
die ganze Welt hasst, dann spielt die Art unserer Taten, ob sie gut
oder schlecht sind, keine Rolle. Sie würden Israel hassen, selbst
wenn wir Engel wären. Die Gojim sind eben Antisemiten.
Es ist leicht zu zeigen, dass auch dies nicht stimmt. Die Welt
liebte uns, als wir den Staat Israel gründeten und ihn mit unserm
Blut verteidigten. Einen Tag nach dem Sechs-Tage-Krieg applaudierte
uns die ganze Welt. Sie liebte uns, als wir David waren, sie hasst
uns, wenn wir Goliath sind.
Dies überzeugt die Leute von „Die Welt ist gegen uns“ nicht. Warum
gibt es keine weltweite Bewegung gegen die Brutalitäten der Russen
in Tschetschenien oder der Chinesen in Tibet? Warum nur gegen uns?
Warum verdienen die Palästinenser mehr Sympathie als die Kurden in
der Türkei?
Man könnte antworten, da Israel in allem eine Sonderbehandlung
verlange, werden wir mit Sonderstandards gemessen, wenn man auf die
Besatzung und die Siedlungen zu sprechen kommt. Aber die Logik
spielt hier keine Rolle. Es ist der nationale Mythos, der zählt.
Gestern veröffentliche Israels drittgrößte Tageszeitung, Ma’ariv
eine Geschichte über unsere Botschafterin bei den Vereinten Nationen
unter der enthüllenden Überschrift: „Hinter der Feindlinie“.
ICH ERINNERE mich an einen der Zusammenstöße, die ich nach Beginn
des Siedlungsunternehmens und den entrüsteten Reaktionen in aller
Welt mit Golda Meir in der Knesset hatte. So wie jetzt gaben die
Leute unserer fehlerhaften „Aufklärung“ alle Schuld. Die Knesset
hielt eine allgemeine Debatte.
Ein Redner nach dem anderen deklamierte das übliche Klischee: die
arabische Propaganda ist brillant. Unsere „Aufklärung“ ist unter
aller Kritik. Als ich an der Reihe war, sagte ich: Es ist nicht die
Schuld der „Aufklärung“. Die beste „Aufklärung“ der Welt kann die
Besatzung und die Siedlungen nicht weg erklären. Wenn wir die
Sympathie der Welt erlangen wollen, dann sind es nicht unsere Worte,
die sich ändern müssen, sondern unsere Taten.
Während der Debatte stand Golda Meir – wie es ihre Gewohnheit war –
an der Tür des Plenums und rauchte eine Zigarette nach der anderen.
Am Ende antwortete sie jedem Redner der Reihe nach, ignorierte aber
meine Rede. Ich dachte, sie würde mich boykottieren, als sie sich –
nach einer dramatischen Pause – an mich wandte: „ Der Abgeordnete
Avnery denkt, sie hassen uns wegen dessen, was wir tun. Er kennt die
Gojim (Nicht-Juden) nicht. Die Gojim lieben die Juden, wenn sie
geschlagen werden und es ihnen schlecht geht. Sie hassen die Juden,
wenn sie siegen und erfolgreich sind.“ Wenn das Klatschen in der
Knesset erlaubt wäre, wäre das ganze Haus in donnernden Applaus
ausgebrochen.
Es besteht die Gefahr, dass der augenblickliche weltweite Protest
dieselbe Reaktion auslösen wird: dass die israelische Öffentlichkeit
sich gegen die bösen Gojim statt gegen die Siedler vereinigen wird.
EINIGEN DER Protestgruppen ist das auch völlig gleich. Ihre Aktionen
sind nicht an die israelische Öffentlichkeit gerichtet, sondern an
die internationale.
Ich meine jetzt nicht die Antisemiten, die auf dieser Welle
mitzuschwimmen versuchen. Sie sind eine zu unwichtige Gesellschaft.
Ich meine auch nicht die, die glauben, dass die Schaffung des
Staates Israel ein historischer Fehler war und dass er aufgelöst
werden sollte.
Ich meine all die Idealisten, die ein Ende der Unterdrückung des
palästinensischen Volkes und des Landraubes durch die Siedler und
den Palästinensern helfen wollen, den freien Staat Palästina zu
gründen.
Diese Ziele können nur durch Frieden zwischen Palästina und Israel
erreicht werden. Und solch ein Frieden kann nur kommen, wenn die
Mehrheit der Palästinenser und die Mehrheit der Israelis dies
unterstützen. Druck von außen genügt nicht.
Jeder, der dies versteht, muss an einem weltweiten Protest
interessiert sein, der die israelische Öffentlichkeit nicht in die
Arme der Siedler treibt, sondern im Gegensatz dazu, die Siedler
isoliert und die Allgemeinheit sich gegen sie wendet.
Wie kann dies erreicht werden?
DAS ERSTE wäre, klar zwischen dem Boykott der Siedlungen und einem
allgemeinen Boykott gegen Israel zu unterscheiden. Der
Fernsehbericht machte klar, dass viele der Protestierenden nicht die
Grenze zwischen beidem sehen. Sie zeigte eine Britin mittleren
Alters in einem Supermarkt, die einige Früchte über ihrem Kopf
schwenkte und rief: „Dies kommt aus einer Siedlung!“ Dann zeigte er
eine Demonstration gegen die Ahava-Kosmetik-Produkte, die im
palästinensischen Teil des Toten Meeres produziert werden. Aber
direkt danach kam ein Aufruf für den Boykott aller israelischen
Produkte. Vielleicht waren die Protestierenden - oder die Editoren
des Filmes - sich des Unterschieds nicht bewusst.
Auch die israelische Rechte will den Unterschied verwischen. Zum
Beispiel: Eine Gesetzesvorlage in der Knesset will jene strafen, die
einen Boykott der Produkte Israels unterstützen, einschließlich –
wie es extra heißt – der Produkte aus den Siedlungen.
Wenn der Weltprotest klar gegen die Siedlungen gerichtet ist, wird
er vielen Israelis deutlich machen, dass es eine klare Linie
zwischen dem legitimen Staat Israel und der illegitimen Besatzung
gibt.
Dies stimmt auch für andere Teile der Geschichte: zum Beispiel der
Versuch, die Caterpillar-Gesellschaft, deren monströse Bulldozer
eine der größeren Waffen der Besatzung ist, zu boykottieren. Als die
heldenhafte Friedensaktivistin Rachel Corrie von einem dieser
Maschinen zu Tode gequetscht wurde, hätte die Gesellschaft vor jeder
weiteren Lieferung von Bulldozern gestoppt werden müssen, bis sicher
war, dass sie nicht mehr zur Unterdrückung verwendet werden würden.
Solange keine verdächtigen Kriegsverbrecher tatsächlich in Israel
selbst vor Gericht gebracht werden, kann man nicht gegen Initiativen
sein, die vorschlagen, sie im Ausland anzuklagen.
Nachdem die wichtigsten israelischen Theater in dieser Woche
Entscheidungen trafen, Vorstellungen in den Siedlungen zu geben, ist
es logisch, dass sie im Ausland boykottiert werden. Wenn sie in
Ariel Geld verdienen wollen, sollten sie sich nicht beklagen, in
Paris und London keines zu verdienen.
DIE ZWEITE Sache wäre die Verbindung zwischen diesen Gruppen und der
israelischen Öffentlichkeit.
Die große Mehrheit der Israelis sagt jetzt, dass sie Frieden wünscht
und bereit ist, einen Preis zu zahlen, aber dass die Araber leider
keinen Frieden wollen. Das große Friedenslager, das einmal
Hunderttausende auf die Straßen schicken konnte, ist in einem
Zustand der Depression. Es fühlt sich isoliert. Unter anderem ist
seine einst nahe Verbindung mit den Palästinensern, wie sie zur Zeit
Yassir Arafats nach Oslo bestand, sehr locker geworden. So ist es
auch mit den Protestgruppen im Ausland.
Wenn man das Ende der Besatzung beschleunigen will, muss man den
Friedensaktivisten in Israel helfen. Man muss eine enge Verbindung
mit ihnen schaffen. Das Komplott des Schweigens ihnen gegenüber in
den Medien der Welt brechen und ihre mutigen Aktionen
veröffentlichen, mehr internationale Veranstaltungen schaffen, in
denen palästinensische und israelische Friedensaktivisten neben
einander präsent sind. Es wäre auch schön, wenn auf je zehn
Milliardäre, die die extreme Rechte in Israel finanzieren, es
wenigstens einen Millionär gäbe, der Friedensaktionen unterstützt.
All dies ist nicht möglich, wenn man zu einen Boykott aller Israelis
aufruft, ohne Rücksicht auf ihre Ansichten oder Aktionen. So wird
Israel als ein monolithisches Monster dargestellt. Dieses Bild ist
nicht nur falsch, es schadet auch sehr.
Viele der Aktivisten, die in dem Bericht erscheinen, lassen Respekt
und Bewunderung hochkommen. So viel guter Wille! So viel Mut! Wenn
sie ihre Aktivitäten in die richtige Richtung lenken , könnten sie
ein Menge Gutes wirken – Gutes für die Palästinenser und auch Gutes
für uns Israelis.
(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
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